Für an Psychohistorie Interessierte ist es ein absoluter Glücksfall, dass ein Politiker wie James David (kurz. J. D.) Vance (Vize von Donald Trump) eine offene und ehrliche Autobiografie verfasst hat. Derart viele Einblicke in Kindheit und Jugend eines politischen Akteurs erhält man in der Form nur selten.
Es geht um das Buch (ein Bestseller) „Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ (Ullstein, Berlin; 2017).
Ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten etliche Bücher (auch Autobiografien) und Schilderungen über Kindesmisshandlung und destruktive Eltern gelesen. Das Buch „Hillbilly-Elegie“ hätte meiner Auffassung nach auch einen Titel wie „Die Geschichte meiner Kindheit, die Geschichte eines Albtraums“ oder ähnliche tragen können. Es entspricht im Prinzip klassischer „Betroffenen“-Literatur. Es wäre dann aber nicht zum Bestseller geworden. Zum Bestseller wurde es offensichtlich, weil der Autor seine Familiengeschichte in den Kontext der frustrierten, weißen und armen Arbeiterschicht (den „Hillbillys“) setzt (seine Geschichte also nicht als Einzelfall sieht, sondern als klassisch für diese Schicht in den USA) und die Öffentlichkeit in dem Buch nach Erklärungen zur Trump Wahl suchte.
Ich habe derart viele Notizen zu diesem Buch gemacht, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass er das Buch seinen Großeltern (mütterlicherseits), im Buch „Mamaw“ und „Papaw“ genannt, gewidmet hat. Sie waren ihm lange Zeit Elternersatz.
Vielleicht kann man mit seiner Bemerkung beginnen, dass er der „sitzengelassene Sohn“ eines Mannes war, „den ich kaum kannte“ und einer Mutter „die ich lieber nicht gekannt hätte“ (Vance 2017, S. 20). Die Eltern trennten sich früh und J. D. musste mit vielen verschiedenen (oft schwierigen) „Ersatzvätern“ (wechselnden Partner der Mutter) umgehen lernen. Das an sich ist bereits tragisch und belastend für ein Kind. Was im Laufe des Buchs alles an Details dazukommt, sprengt teils die Vorstellungskraft.
Bereits der Umgang der Mutter mit dem Säugling ist destruktiv: „Ich war neun Monate alt, als Mamaw meine Mutter zum ersten Mal dabei erwischte, wie sie Pepsi in mein Fläschchen tat“ (S. 30).
Bzgl. seiner Mutter spricht er mehrfach von „bizarren“ Verhaltensweisen. Diese stehen offensichtlich im Zusammenhang mit ihrem langen Suchtverhalten (Alkohol- und Drogenmissbrauch). Den Drogenmissbrauch seiner Mutter hatte J. D. als Kind lange Zeit ausgeblendet bzw. gar nicht einordnen können. Wenn es mal wieder schlecht zu Hause lief, pendelte er halt zu seinen Großeltern und danach wieder zurück zur Mutter. Erst nach dem Tod seines Großvaters wurde ihm bewusst, dass seine Mutter ein Drogenproblem hatte (S. 132).
J. D. Vance verehrt seine Großeltern (Sie waren „fraglos und uneingeschränkt das Beste, was mir hätte passieren können“ S. 32) und sicherlich haben diese ihn auch ein Stück weit Ausgleich und Sicherheit geboten.
Vergessen werden sollte dabei aber nicht, dass auch die Großeltern in ihrem Inneren großes Destruktionspotential besaßen, wie offensichtlich auch große Teile der restlichen Familie.
Seine Großmutter hätte Familiengeschichten nach als Zwölfjährige fast einen Mann erschossen, der Kühe stehlen wollte. Sie traf ihn nur am Bein (S. 23). Seine Großmutter bezeichnet J.D. als „durchgeknallte Waffennärrin“ (S. 23). „Onkelt Pet“ hatte einst einen Mann, der ihn beleidigt hatte, bewusstlos geschlagen und ihn dann mit einer elektrischen Säge aufgeschlitzt. Der Mann konnte im Krankenhaus gerettet werden (S. 22).
Als seine Großeltern noch selbst ihre Kinder zu Hause hatten, konnten sie „ohne jede Vorwarnung in die Luft gehen“ (S. 49), wie sich ihr Sohn Jimmy erinnert.
Mitte der sechziger Jahre war der Großvater zum Alkoholiker geworden, die Mutter von J. D. war zu der Zeit ca. vier Jahre alt (S. 48f.). J.D. hatte seinen Großvater anders bzw. deutlich positiver als Kind erlebt (wohl auch, weil der Großvater vorher mit dem Trinken aufgehört hatte), bezeichnet ihn aber bzgl. der Vergangenheit als „gewalttätigen Trinker“ und seine Großmutter als „gewalttätige Nichttrinkerin“ (S. 52).
Jimmy erinnert sich an Szenen von häuslicher Gewalt zwischen den Eltern (bzw. Großeltern von J. D.). Dies gipfelte in einen Mordversuch: Die Großmutter hatte damals angekündigt, dass sie ihren Mann umbringen würde, wenn er nochmals betrunken nach Hause käme. Als dies der Fall war ging sie „in aller Seelenruhe in die Garage und kehrte mit einem Kanister Benzin zurück, den sie über ihren Mann ausgoss“ (S. 53). Sie zündete ihn an und er konnte nur gerettet werden, weil eine seiner beiden Töchter sofort (es ist nicht ganz klar, ob dies die Mutter von J. D. war) aufsprang und das Feuer löschte.
Im Leben der Großeltern finden sich – neben den bereits erwähnten Erfahrungen – weitere traumatische Erlebnisse (u.a. starb der Vater des Großvaters früh, die Mutter des Großvaters gab ihn weg zu ihren Eltern; acht Fehlgeburten der Großmutter, ihr erstes Kind bekam sie als Teenager im Alter von vierzehn Jahre, der Säugling starb auf der Flucht vor den eigenen Eltern; S. 33, 36) die sicherlich auf die eine oder andere Weise an die Nachkommen weitergegeben worden sind.
Ganz eindeutig muss man die massiven Probleme der Mutter von J. D. Vance vor dem Hintergrund ihrer eigenen traumatischen Kindheit sehen, was auch J. D. deutlich so sieht (S. 56). Das Stichwort lautet hier: transgenerationale Traumata.
Die Mutter von J. D. neigte zu Ohrfeigen, Schlägen und Kniffen gegen ihre Kinder (S. 90, 101, 109), aber auch „brutale Beleidigungen“ (S. 109) waren Routine. Dazu kam ihr Suchtverhalten.
Als schrecklichsten Tag seines Lebens bezeichnet J. D. den Tag, als seine Mutter drohte, ihn umzubringen. Im Auto wurde sie wütend auf ihren Sohn, beschleunigte den Wagen und sagte, sie werde jetzt einen Unfall bauen und sich und ihn umbringen (S. 91). Sie hielt dann doch an, um ihren Sohn durchzuprügeln. Er konnte zu einem Haus flüchten. Seine Mutter trat die Tür dort ein, zerrte ihren Sohn nach draußen und konnte dann von der benachrichtigten Polizei gestoppt werden. Danach lebte J. D. bei seinen Großeltern.
Dass seine Mutter durchaus das Zeug hatte, ihren angedrohten „erweiterten Suizid“ durchzuführen, zeigt ein früherer Selbstmordversuch mit einem Auto (sie war alleine unterwegs), als J. D. elf Jahre alt war (S. 89).
Dazu kam für J. D. das vielfache Miterleben von häuslicher Gewalt zwischen seiner Mutter und Partnern (vor allem auch Bob). J. D. selbst spricht von „traumatischen Szenen zu Hause“, die er miterlebt hatte und die seine Gesundheit damals angriffen (S. 87).
Insgesamt ging vieles nicht spurlos an J. D. vorbei. In der Schule wurde er schwieriger und zeigte Anzeichen von emotionalen Problemen. Er selbst berichtet ergänzend, dass er Jahrzehnte später eine Erzieherin aus seinem Kindergarten wieder getroffen hätte. Sein Verhalten als Kind sei damals so schwierig gewesen, dass sie beinahe den Beruf gewechselt hätte (S. 113).
Ab dem Alter von sieben Jahren hat J.D. eigenen Angaben zu Folge über 20 Jahre lang einen immer wiederkehrenden Albtraum von seiner ihn verfolgenden Mutter gehabt. In verschiedenen Fassungen des Albtraums änderten sich auch die Verfolger (S. 294). Diese Traumafolgen sind nur logisch und kaum verwunderlich.
J. D. Vance hat mit seiner Autobiografie zweifelsohne auch stolz zeigen wollen: Schaut her, ich habe es, „trotz allem“, geschafft und meinen amerikanischen Traum verwirklicht. Im hinteren Teil des Buchs geht er auf seinen beruflichen Werdegang und seine Erfolge ein.
Ich gönne ihm seinen beruflichen Erfolg. Was mich viel mehr umtreibt ist, dass er jetzt als Vize neben dem „destruktiven Vater“ Donald Trump steht. Sieht er nicht, dass er dabei ist, erneut in der Traumafalle zu landen und die Geschichte seiner Familie sich fortzusetzen droht (diesmal auf der politischen Bühne)t? Sieht er nicht die ganzen destruktiven „Ersatzväter“ seiner Kindheit in den Augen von Trump?
Kritiker mögen jetzt anmerken, dass Vance früher Trump-Gegner war. Ich halte diesen Sachverhalt für nicht all zu wichtig. Bedeutsam ist nur, dass er jetzt Trump-Verehrer ist und sich diesem gehorsam unterordnet.
Früher demütigte Trump seinen heutigen Vize Vance öffentlich indem er sagte: “J.D. is kissing my ass he wants my support so bad“ (https://edition.cnn.com/2022/09/19/politics/donald-trump-jd-vance-ohio-rally/index.html)
Nun, Vance ist Demütigungen gewohnt und scheint sich auch dieser zu ergeben.
J. D. Vance hat seine persönliche Kindheitsgeschichte wie schon beschrieben verallgemeinert. Diese sei klassisch für die „Hillbillys“ in den USA. Die vielen Daten, die wir über Kindheit in den USA haben, bestätigen ergänzend, dass diese Nation deutlich im Rückstand ist, wenn es um das Kindeswohl geht. Und ja, dies hat ganz sicher auch etwas mit den politischen Verwerfungen in den USA und mit dem Phänomen „Donald Trump“ zu tun. J. D. Vance ist dabei, seine entsprechende Rolle zu übernehmen.
2 Kommentare:
Sehr geehrter Herr Fuchs, ich möchte Ihnen für Ihre Analysen danken. Der Zusammenhang von J.D. Vance' Gewalterfahrungen und seiner Unterordnung unter dem Herrscher Trump ist sinnfällig. Durch das Buch "Oh Brother" von John Niven habe ich mich wieder erinnert: "Die Kindheit ist politisch!" Ich las die Rezension in der Süddeutschen zu dem Buch und fand es (wieder) bemerkenswert, dass die Gewalterfahrungen der Kinder, die John Niven herzergreifend beschreibt, dort völlig ausgeblendet wurden. Dürfen wir wirklich nicht merken? Danke für Ihre Arbeit. Herzliche Grüße Uwe Gier
Vielen Dank für diese Anmerkungen, Uwe Gier !
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