aktualisiert: 20.12.2023 (siehe neue Ergänzungen im Kommentarbereich)
Vorwort
Die aktuellen Ereignisse seit dem 07.10.2023 in Israel und Gaza (vor allem auch die Angriffe der islamistischen Terrorgruppe Hamas) haben mich motiviert, eine Zusammenfassung bzgl. meiner bisherigen Recherchen über Kindheit und islamistischen Extremismus/Terror zu verfassen. Geplant hatte ich einen solchen Text schon lange, jetzt endlich habe ich es geschafft.
Parallel zu diesem Text veröffentliche ich auch eine Zusammenfassung über "Kindheit in Gaza". "Trauma-Kindheit" in Gaza hat ganz sicher einen erheblichen Anteil an den grausamen Ereignissen der jüngsten Zeit!
In meinem Buch schrieb ich im Kapitel „Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung“: „Was im internationalen Vergleich auffällt ist, dass viele Länder und Regionen, die historisch für schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen, autoritäre Staatsstrukturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, gleichzeitig sehr hohe Gewaltraten gegen Kinder aufweisen.“ Diesen Grundgedanken bleibe ich stets treu, was man auch an den diversen Länderanalysen hier im Blog sehen kann. Hervorheben möchte ich auch meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“. Der Mittlere Osten und Gesamtafrika sind außerdem weltweit führend, wenn es um Gewalt gegen Kinder in der Familie geht. Viele Problemlagen dieser Regionen sehe ich auch vor dem Hintergrund der schlechten Bedingungen für Kinder.
Die unten aufgezeigten Ergebnisse weisen auf einen in der Öffentlichkeit vielfach übersehenen Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und islamistischem Extremismus hin. Diese Zusammenhänge gelten auch für andere Extremismusformen, was ich vielfach durch meine Recherchen zeigen konnte.
Ist die Datenlage wirklich dünn oder müssen wir nur genauer hinsehen? Studien über die Kindheitshintergründe von islamistischen Extremisten/Terroristen
Bzgl. des islamistischen Extremismus ist die Datenlage über Familien-/Kindheitshintergründe in der Tat dünner als bzgl. des Rechtsextremismus, was in der Literatur auch immer wieder betont wird. Die Befundlage wird meiner Auffassung nach dennoch ziemlich dicht und vor allem aussagekräftig, wenn man genau hinsieht, viele Einzelfälle sammelt und Ergebnisse von Studien zusammenführt.
Nach meinem Eindruck wird in der entsprechenden Forschung bzgl. Kindheitseinflüssen zu wenig hingesehen. Dies zeigt sich exemplarisch in einer aktuellen Review (Ohls et al. 2023) über Schutz- und Risikofaktoren bzgl. islamistischer Radikalisierung und Extremismus. Das Forschungsteam führt zwar auf Seite 10 als Risikofaktor den Punkt "Victim of abuse and unstable family conditions" auf, bezieht sich dabei aber nur auf zwei Studien (Jasko et al. 2017; Lützinger 2010), die ich in diesem Text hier ebenfalls besprochen habe.
Lloyd deMause (2002) hat in seinem Text „The childhood origins of terrorism“ schon früh auf deutliche Zusammenhänge zwischen extrem destruktiven Kindheiten und islamistischen Terrorismus hingewiesen. Aber auch er verfügte allerdings noch nicht über ausreichend empirische Daten.
Wichtige Impulse kommen u.a. aus der Praxis: „Zum Stellenwert (…) familialer Einflüsse existieren für den gewaltorientierten Islamismus bislang allerdings keine dichten Befunde. Akteure aus der Beratungsarbeit, die mit gefährdeten Jugendlichen und ihren Eltern arbeiten, erachten familiäre Belastungen allerdings als überaus bedeutsam – sie weisen auf autoritäre und gewalthaltige Familienstrukturen, auf Aspekte emotionaler Entfremdung, überforderte Bezugspersonen und bei jungen Männern besonders auf das häufige Fehlen verlässlicher Vaterfiguren hin“ (Glaser et al 2018, S. 18).
Solche Hinweise kommen auch von dem in der Praxis sehr aktiven Psychologe Ahmad Mansour (2015) in seinem Buch „Generation Allah“ (in dem übrigens auch die Kindheit des Autors selbst und seine damalige Radikalisierung behandelt wird: hier besprochen).
Im Streetworkerbuch "Die Wütenden" von Fabian Reicher & Anja Melzer (2022) werden fünf Fallbeispiele von Dschihadisten ausgebreitet. In drei Fällen werden schwere Traumatisierungen in der Kindheit deutlich (vor allem auch Kriegserfahrungen). An einer Stelle fasst das Autorenteam zusammen: "Rachefantasien entstehen, wenn Unrecht geschieht. Alle Attentäter haben ihre eigenen Geschichten, aber was alle miteinander verbindet, sind schwere traumatische Verletzungen, Erfahrungen von Erniedrigung und Ohnmacht, die sie nicht verarbeiten können, ohne Gewalt anzuwenden" (Reicher & Melzer 2022, S. 120).
Mittlerweile existieren allerdings auch so einige Studien, die ich nachfolgend vorstellen möchte:
Lützinger (2010) hat 39 männliche Extremisten/Terroristen (24 rechts, neun links und sechs islamistisch) befragt. Zusammenfassend schreibt sie: „Resümierend kann festgehalten werden, dass die hier untersuchten Biographien grundlegend entwicklungsbelastete Personen charakterisieren, die mangels eines funktionierenden und eine gesunde und gelingende psychosoziale Entwicklung garantierenden Elternhauses äußerst prekäre soziale Kontakte eingegangen sind. Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus" (Lützinger et al. 2010, S. 75f.). „In den meisten Biografien spielten Gewalt und Unterdrückung schon im Kindesalter eine Rolle“ (Lützinger 2010, S. 31). Diese Ergebnisse gelten entsprechend auch für die sechs Islamisten aus dem Sample.
Es gibt auch andere interessante Ansätze (Jasko et al. 2017): In den USA wurden 1496 Akteure (90 % männlich), die ideologisch-bedingte Straftaten (rechtes, linkes und islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.
Srowig et al. (2017) haben 33 (davon zwei weiblich) in Deutschland straffällig gewordene Islamisten auf Grundlage von Gerichtsakten und ergänzend vier Interviews mit Personen aus der Stichprobe analysiert. Das Autorenteam fasst zusammen: „Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden. Die Konflikte lassen sich wie folgt aufschlüsseln:
- Kritische Lebensereignisse, wie die Erkrankung oder der Verlust einer nahestehenden Person bzw. vergleichbare Krisensituationen
- Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus
- Gewalterfahrungen als Täter
- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol“ (Srowig et al. (2017, S. 105).
Leider wurde nicht die genaue prozentuale Verteilung dieser Belastungsfaktoren aufgestellt. Fest steht, dass die genannten Belastungsfaktoren zentrale Gemeinsamkeiten der Islamisten sind. Ich möchte ergänzend erwähnen, dass ein exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum laut Forschungslage vor allem von Menschen praktiziert wird, die ein hohes Maß an kindlichen Belastungen (ACEs) erlitten haben. Zusammen mit dem Punkt „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ sowie auch dem Verlust von Bezugspersonen zeigt diese Studie also eindeutig auf den Einfluss von Kindheitserfahrungen bzgl. Radikalisierungsprozessen.
2016 wurden von einem Forscherteam (Aslan et al. 2018) 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Die Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten islamistischen Charakters. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden elf weitere Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Die Studie war nicht auf Kindheitserfahrungen fokussiert. Allerdings zeigt sich bei der Durchsicht, dass die deutliche Mehrheit der Befragten erhebliche Belastungen in der Kindheit erlitten haben (vor allem Kriegs- und Fluchterfahrungen und Trennungen und/oder Verlust von Familienmitgliedern). Wie der jeweilige elterliche Erziehungsstil ausgesehen hat, erschließt sich in der Studie leider nicht.
Eine Möglichkeit, zu Erkenntnissen in diesem Feld zu gelangen, sind auch gedankliche Ableitungen. Das Bundeskriminalamt et al. (2016) konnte z.B. in einer großen Untersuchung von 778 Islamisten (mehrheitlich Männer), die aus Deutschland im Zeitraum zwischen Januar 2012 bis Juni 2016 nach Syrien oder dem Irak ausgereist sind (und sich mehrheitlich nach ihrer Ausreise einer islamistisch-jihadistischen Gruppierung angeschlossen haben), diverse Daten sammeln und auswerten. Zwei Drittel der Islamisten hatte eine kriminelle Vorgeschichte (vor allem Eigentums-, Gewalt- und/oder Drogendelikte). 53 % von den Personen mit einem kriminellen Hintergrund hatten drei oder mehr Delikte und 32 % hatten sogar sechs oder mehr Delikte begangen (Bundeskriminalamt et al. 2016, S. 18f.). Wie diverse Studien zeigen, lassen sich bei Straftätern stark erhöhte Adverse Childhood Experiences (ACEs) nachweisen. Generelle Studien über die Kindheit von Gewalt-/Straftätern sagen weitergedacht also auch etwas über die Kindheiten der hier untersuchten (kriminellen) Islamisten aus!
Diese Ableitung gilt auch für eine Untersuchung vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2011), für die 140 Konvertiten aus islamistischen Milieus analysiert wurden. Über die Hälfte dieser Akteure hatte eine kriminelle Vorgeschichte (Drogendelikte, Diebstähle und Körperverletzungen). Ergänzend gab es deutliche Hinweise in Richtung problematischer Entwicklungen in der Kindheit: „Bei den meisten Konvertiten gab es Auffälligkeiten in den Sozialisationsverläufen. Es handelt sich um »instabile« Persönlichkeiten. Ein häufiger Grund lag in gestörten Familiensystemen und fehlenden sozialen Bindungen, teilweise bereits seit frühster Kindheit“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46).
Auch eine weitere Erkenntnis dieser Untersuchung bzgl. Islamisten deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Rechtsextremismusforschung: „Die empfundene Geborgenheit, das Gemeinschaftserlebnis und die Erlebniswelt Islamismus an sich mit ihren verschiedenen Veranstaltungsformen bieten einen starken Kontrast zu dem vorher gelebten Leben. Es scheint somit sehr wahrscheinlich zu sein, dass weniger die Ideologie als vielmehr Defizite im eigenen Lebenslauf und in der Persönlichkeit Grund für den Zulauf zu einem extremistischen-islamischen Milieu sind“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46f.).
Ich fand ein weiteres Projekt zum Thema Extremismus und Terror. Allerdings habe ich bisher keine wissenschaftliche Ausarbeitung der Ergebnisse gefunden. Insofern muss ich den diversen Medien vertrauen, die über dieses Projekt berichtet haben. Meine ausgewählte Quelle ist in dem Fall SPIEGEL-Online. Die beiden Schwestern Nancy und Maya Yamout von der Nichtregierungsorganisation Rescue Me haben im Roumieh-Gefängnis in Beirut 20 verurteilte Terroristen (darunter auch Mitglieder des IS, der Nusra-Front und der syrischen Qaida) innerhalb von zwei Jahren regelmäßig interviewt (ein Vertrauensverhältnis wurde hergestellt!), um herauszubekommen, warum sie sich radikalisierten. Auffällige Gemeinsamkeiten der Terroristen sind, dass sich keiner gut mit Religion auskannte. Sie hatten nur oberflächliche Kenntnisse über den Islam. „Große Ähnlichkeit gab es bei den Kindheitsgeschichten. Keiner der 20 Terroristen kam aus einem normalen Elternhaus. Ihre Väter prügelten, demütigten und instrumentalisierten sie. Der Vater eines Terroristen drückte Zigaretten auf seinem Sohn aus. Die kreisrunden Narben auf dem Arm des Häftlings zeugen immer noch davon. Ein anderer Vater war Kämpfer im libanesischen Bürgerkrieg. Für seine Kinder war er nicht da. Die mussten schon als Achtjährige mithelfen - Waffen reinigen und Leichenteile einsammeln“ (Salloum 2014). Islamistische Führer wurden laut den beiden Schwestern zu Vaterfiguren für die untersuchten Terroristen.
Interessant sind auch die Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Amokschützen in den USA und Selbstmordattentätern im Nahen Osten. Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Tätertypen sind belastende Kindheitserfahrungen: „In general research has found strong relationships between childhood suffering, delinquency, and criminality (…). In addition, childhood victimisation has been determined to be strongly related to substance abuse, sex crimes, prostituition, promiscuity, teenage pregnancy, and a number of violent crimes (…). Therefore, it should not be particularly suprising that the violent actors in these cases have often suffered from a troubled childhood – altough this is just one of the many factors which contributes to their ultimate attacks. This appear to be a key similarity between volunteer suicide bombers in the Middle East and rampage shooters in the U.S. The range of their disturbing childhood experiences includes being repeatedly harassed, bullied, or abused as a child, witnessing abuse, growing up in dysfunctional families, and growing up in conflict-ridden refugee camps (…)” (Lankford & Hakim 2011, S. 102). Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Akteure war ein geringes Selbstbewusstsein, was, so meine Vermutung, wiederum mit belastenden Kindheitserfahrungen in einem Zusammenhang stehen könnte.
In Kanada wurden Interviews mit sieben islamistisch-radikalisierten Personen geführt. Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen wurden nicht vertiefend ausgeführt. Allerdings zeigt eine Zusammenfassung in eine eindeutige Richtung: „Significantly, most interviewees, particularly the converts, led a deeply troubled existence during their youth and in a number of cases came from broken homes or dysfunctional families. For instance, one convert was forced to grow up without his father after his father was imprisoned for murdering a police officer” (Ilardi 2013, S. 714). In der Folge dieser Erfahrungen neigten viele der Befragten zu selbstschädigendem Verhalten wie Alkohol-/Drogensucht oder Spielsucht.
Van Leyenhorst & Andres (2017) haben 26 Fälle aus den Niederlanden auf Grundlage von Akten analysiert. Die analysierten Akteure waren bzgl. dschihadistischer Taten in oder für ISIS in Syrien verdächtigt. Bzgl. der Vorerfahrungen in der Kindheit gibt einige wenige, aber interessante Daten: “More than half of the suspects (54%) were brought up in large families with six or more siblings. Fourteen suspects experienced one or more separations and nine grew up without a father being present” (Leyenhorst & Andres 2017, S. 325). Dazu muss ich anmerken, dass ich bei einer solch hohen Geschwisterzahl potentiell und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von elterlicher Vernachlässigung oder zumindest entsprechenden Gefühlen der Kinder ausgehe. Viel Zeit der Eltern für das einzelne Kind ist in solchen Familien einfach nicht schaffbar.
In der Studie wurde nur von vier Akteuren Aussagen zitiert. Eine davon begann so: “My parents were divorced and my stepfather favoured his own kids over me. […] I was bullied at school and was eventually placed in foster homes. […] I felt I belonged to no one and asked myself questions about belonging and meaning in life. I started to find answers in religion (…)“ (Leyenhorst & Andres 2017, S. 319). Hier werden im Einzelfall vielfältige Kindheitsbelastungen deutlich.
Ebenfalls aus den Niederlanden kommt eine Studie (Grimberger & Fassaert 2022), für die 34 Personen (davon 29 männlich) analysiert wurden, die bzgl. gewalttätigen Extremismus verdächtigt wurden. Die Personen waren in einer Art Präventionsprojekt registriert, in dem alle Spektren des Extremismus auftauchen. In der Studie wird nicht klar, welchem Spektrum die hier behandelten Akteure zuzuordnen sind. Allerdings hatten 88,2% einen Migrationshintergrund und fast alle von diesen Akteuren hatten Familienhintergünde aus islamischen Ländern wie z.B. Syrien, Marokko, Ägypten oder der Türkei. Ich gehe insofern davon aus, dass die meisten der 34 Akteure bzgl. islamistischem Extremismus verdächtigt wurden.
Die Kindheishintergründe der Befragten waren i.d.R. belastet. 35,3% berichteten von vier oder mehr belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs). Die häufigsten ACEs waren emotionale Vernachlässigung (47,1 %), psychische Erkrankungen im Haushalt (44,1 %), Verlust eines Elternteils (38,2 %), Miterleben von häuslicher Gewalt (23,5%) und Misshandlungen (23,5%).
Mohammed & Neuner (2022) haben 59 männliche Jugendliche/junge Erwachsene im Gefängnis von Erbil (kurdisches Gebiet im Irak) interviewt, die für terroristische Taten vor allem im Rahmen von ISIS verurteilt worden waren.
Zu Gewalterfahrungen in der Familie wurden acht Fragen gestellt. Im Durchschnitt hatten die Befragten 2,84 verschiedenen Formen von Gewalt in der Familie erlitten. Die drei häufigsten Formen der Gewalt wurden von den Autoren zahlenmäßig genannt: 81,4 % wurden geschlagen, 50,8 % wurden Zeuge, wie Familienmitglieder geschlagen wurden und ebenfalls 50,8% wurde gesagt, sie seien ein schlechter Sohn. Auch bzgl. der psychischen Situation der Befragten fand man Auffälligkeiten. 69.5% zeigten Kriterien für eine mögliche Posttraumatische Belastungsstörung und 89,8% für Depressionen.
Außerdem standen traumatische Erfahrungen in einem starken Zusammenhang zu von den Befragten selbst berichtetem Täterverhalten: “We also found that history of victimization (war events, family violence and ISIS specifc events) was strongly correlated with perpetration events reported by the sample. This interaction could be possibly explained through the habituation to violence and the vicious cycle of violence“ (Mohammed & Neuner 2022, S. 9).
In Frankreich fand eine Befragung von 150 Jugendlichen/jungen Erwachsenen, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, statt (Oppetit et al. 2019).
Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen stellen sich wie folgt dar:
Körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch: 26,7 %
Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen: 85,3 %
Verlassenheitserfahrungen: 82 %
Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds: 32 %
Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %
Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %
Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %
Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %
Nina Käsehage hat 50 Dschihadistinnen aus Europa befragt. Sie fasst die Ergebnisse bzgl. der Kindheit der Befragten wie folgt zusammen: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel »relief« or to »recover«” (Käsehage 2020, S. 182). Aus Platzgründen bespricht sie in dem Artikel nur ein Fallbeispiel ausführlich zur Anschauung. Dabei werden vor allem auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit deutlich.
In einem aktuelleren Artikel geht sie speziell auf die Kindheitserfahrungen von 20 Dschihadistinnen aus Deutschland ein (Käsehage 2023). Den Artikel habe ich hier im Blog bereits besprochen. Die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen der Befragten werden in dem Artikel überdeutlich.
Im Jahr 2024 wird Nina Käsehage das Buch „Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung“ veröffentlichen. In dem Buch wird aus Befragungen von 60 Mädchen und jungen Frauen aus dem salafistisch-dschihadistischen Milieu in Europa eingegangen. Vermutlich werden die Kindheitshintergründe dort noch ausführlich ausgebreitet werden, als in den beiden zitierten Artikeln.
Nur Einzelfälle?
Ich selbst habe für mein Buch einige Kindheiten von islamistischen Terroristen recherchiert (Fuchs 2019, S. 196-201): Ich fand schwere Belastungen in der Kindheit von Osama bin Laden (Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida), Zacarias Moussaoui (Islamist, der ursprünglich für al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus lenken sollte), der Brüder Chérif und Saïd Kouachi (Anschlag auf Charlie Hebdo) (siehe auch im Blog dazu hier und hier), Youssef Zaghba (islamistische Terroranschlag in London vom 03. Juni 2017), Syed Farook (islamistische Terroranschlag in San Bernardino, USA vom 2. Dezember 2015) (siehe auch unten im Text) und Hasna Ait Boulahcen (Islamistin und Cousine des Drahtziehers der Anschläge in Paris vom November 2015, die sich bei einem Polizeieinsatz selbst in die Luft sprengte).
Der islamistische Terroranschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, Syed Farook, ist einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden. "Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein" (Medick 2015).
Die Forschungsarbeit von Martin Schäuble (2011) beinhaltet zwar nur zwei Fallbeispiele, allerdings glänzt die Arbeit durch eine unvergleichliche Tiefe und Ausführlichkeit bei der Biografieforschung. Umfassend werden die Lebenswege von „Daniel“ (ein deutscher Konvertit, sich der Islamischen Dschihad Union anschloss und mit seinen Gesinnungsbrüdern, die in Deutschland unter dem Namen Sauerland-Gruppe bekannt sind, einen Anschlag plante) und „Sa'ed“ (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte) vorgestellt. Beide Extremisten sind in autoritären Elternhäusern aufgewachsen und haben diverse traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht.
"Fatma" ist mit einem Jihadisten der Sauerland-Gruppe verheiratet und war eine Schlüsselperson der virtuellen Welt des Jihadismus. Neben dem Fall „Daniel“ bekommen wir also einen ergänzenden Blick auf die Kindheit der Akteure des entsprechenden Netzwerks: Ihre Eltern trennten sich früh, die Mutter, mit der es offensichtlich viele Konflikte gab, war anschließend alleinerziehend. „Von ihrer Mutter wurde sie streng, aber nicht religiös erzogen. Die Mutter scheint gewalttätig gegenüber ihrer Tochter gewesen zu sein“ (Baehr 2020, S. 162).
Für eine klinische Studie wurde der Fall "Lea" ausführlich vorgestellt. Lea wurde vier Jahre lang seit ihrem siebzehnten Lebensjahr im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts gefolgt. Lea radikalisierte sich islamistisch und zog in Erwägung, nach Syrien auszureisen und sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Die traumatischen Kindheitsbedingungen werden recht ausführlich besprochen und an einer Stelle wie folgt zusammengefasst: "In total, at the time of her radicalization, Lea is a 17-year old girl whose childhood was marked by early and repeated trauma such as neglect, physical and sexual abuse, humiliation combined with emotional deprivation and attachment disorders" (Rolling et al. 2022, S. 4).
Der Fall Harry M. ist laut dem Autorenteam Dantschke et al. (2011) ein "typischer Fall" für eine Radikalisierung. Dazu gehört auch eine sehr destruktive Kindheit. Seinen Vater kenne er nicht, dieser habe die Familie verlassen, als Harry zwei Jahre alt war. Mit der Mutter gab es offenbar ständig Probleme; als Harry dreizehn Jahre alt war, schmiss sie ihn raus. "Harry übernachtete mal hier, mal dort, schlug sich irgendwie durch" (Dantschke et al. 2011, S. 74). Er nahm Drogen und Alkohol zu sich, um sich zu beruhigen. Mit 16 Jahren schmiss er die Schule und kam dann durch einen Schwager mit dem Islam in Verbindung. Verschiedene islamistische Prediger prägten in der Folge den jungen Mann für seinen weiteren Weg in die Radikalität.
In der Frankfurter Rundschau wird sein Leben wie folgt kurz beschrieben: „Sein Werdegang im Schnelldurchlauf: Heimaufenthalte, Drogenexzesse, Blitzradikalisierung. Harry M. machte sich in der Salafistenszene schnell einen Namen“ (Behr 2019).
Der als IS-Terrorist angeklagte Kerim Marc B. hat vor Gericht über seine Kindheit berichtet.
"Sein Stiefvater habe ihn oft geschlagen und verprügelt, etwa wegen schlechter Schulnoten. Seine Mutter habe sein Gesicht auf Familienfotos herausgeschnitten. Bevor sie in Urlaub gefahren sei, habe sie ihn zu Verwandten gebracht. Er habe mit seinen Eltern nie über Gefühle sprechen können. Der Islam habe ihm in dieser Situation Halt gegeben. Der Gang zur Moschee sei eine Rebellion gegen sein Elternhaus gewesen“ (Welt-Online 2016).
Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat“. Und über die Mutter: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“ (Thieme 2015). Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging" (Focus-Online 2015).
In einer anderen Quelle wird formuliert: “Harun’s parents were from Afghanistan, but he was born and raised in the wealthy city of Munich. Based on his testimony, Harun had a bad relationship with his father, who was very religious and often beat him. Harun also engaged in self-mutilation, `to relieve pressure,` cutting his arms so they required stitches” (Hellmuth 2016, S. 33).
Dazu kamen weitere Problemlagen im Lebensverlauf (unschwer zu erkennen teils sicher auch mit seinen Kindheitserfahrungen verbunden): Er litt unter Depressionen, nahm Drogen, neigte zu Selbstverletzungen und nahm seit der Jugend auch fast täglich Schmerzmittel. Drei Berufsausbildungen scheiterten. Dazu kam ein weiteres traumatisches Erlebnis: Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin starb kurz nach der Geburt (Focus-Online 2015; Thieme 2015).
Auch bei weiteren Einzelfall-Recherchen stieß ich auf deutlich belastete Kindheiten. So ist z.B. über Arid Uka, der am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland verübte, bekannt, dass er eine schwierige Kindheit hatte. Geboren im Kosovo erlebte er als Säugling die frühe Scheidung seiner Eltern, Auswanderung des Vaters zusammen mit dem Säugling nach Deutschland, jahrelange Trennung von der Mutter, Leben in relativer Armut, kaum Unterstützung im familiären Umfeld und in Jugend Erkrankung des Vaters mit anschließender Verschlechterung der eh schon prekären Verhältnisse (Ben Slama 2020, S. 338). Hinzu kam ein traumatisches Erlebnis als er sechs oder sieben Jahre alt war: Ein fremder Mann missbrauchte ihn sexuell in einem Park (Safferling et al. 2011).
Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war: „Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger 2013). Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Er wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth 2016, S. 27f.). Jemaine, der Halb-Bruder von Denis, berichtet in einem Podcast von seinem Vater, dem Stiefvater von Denis „Mein Vater war sehr sehr streng“. Er sei gegenüber Denis strenger gewesen, als gegenüber ihm. Außerdem habe der Vater selbst eine „sehr sehr harte Kindheit“ gehabt. „Was Du halt kennst ist für dich normal und so gibst du es weiter. Wir haben auch, ich und mein Bruder, haben auch kassiert, von meinem Vater. Wir haben auch kassiert“ (funk – von ARD und ZDF 2022). Gemeint ist hier Gewalt!
Große Bekanntheit erreichte in Deutschland auch der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau. In seiner Autobiografie hat er deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben. Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der Trennung sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.).
Omar Mateen (Massenmörder und Attentäter von Orlando), der sich vor seiner Tat zum „Islamischen Staat“ bekannte, hatte ebenfalls eine belastete Kindheit. Eine ehemalige Nachbarin sagte in einem Interview, dass Omar ein sehr rastloses und schwer zu kontrollierendes Kind gewesen sei. Seine Mutter habe ihn häufig geschlagen. „She said that Mateen’s mother `used to slap him a lot` when he got too rambunctious” (New York Daily News 2016). Aber auch der Vater schlug Mateen einmal vor aller Augen vor der Schule seines Sohnes ins Gesicht (Sullivan & Wan 2016). Ebenso gibt es Hinweise auf häusliche Gewalt im Hause Mateen. Omars Mutter wurde 2002 inhaftiert, weil sie gewalttätig gegen ihren Ehemann wurde (Montero 2016). In einem anderen Bericht wurde ebenfalls über die Inhaftierung der Mutter geschrieben. Omars Mutter habe allerdings ausgesagt, ihr Mann hätte gedroht, sie zu töten (Jones 2016). Welche der beiden Versionen auch immer stimmen mag, häusliche Gewalt war offenbar eine Realität.
Der ehemalige islamistische Extremist Jesse Curtis Morton (bis 2012 nannte er sich: Younus Abdullah Muhammad) sagte über seine Kindheit: “I came from a very tumultuous childhood, where there was very severe abuse. And when I reached out to my society and tried to get assistance to stop that abuse, the school, my family, and the society around me didn't prevent it. And so, at a very young age, I rejected American culture and the American way of life, so to say, and sought a new identity” (PBS NewsHour 2016).
Robert Baum “left for Egypt and Syria in fall 2012, together with his best friend, Christian Emde. He was from the small town of Solingen, where his father died of cancer shortly before Robert’s thirteenth birthday. Robert went on to complete Hauptschule and joined the German military when he was 17, but was discharged for disseminating right-wing extremist propaganda” (Hellmuth 2016, S. 32). In diesem Fall wird das Trauma “Tod des Vaters“ deutlich, ergänzend auch früh die Lust am Militärischem und Extremismus. Weitere Infos über seine Kindheit fand ich leider nicht.
Harry S. konvertierte zum Islam und radikalisierte sich, was schließlich zu seiner Ausreise in die Kampfgebiete nach Syrien führte. In Deutschland wurde er nach seiner Rückkehrt inhaftiert.
"Harry did not experience the proverbial happy childhood. His Christian parents emigrated from Ghana to Germany, but separated once they settled in a blue-collar neighborhood of Bremen, a large city in Northern Germany. His American stepfather was arrested by German police when Harry was four years old. The biological father rejoined the family but regularly beat the children. Harry’s mom worked late hours. His older stepbrother was shot to death when Harry was a teenager” (Hellmuth 2016, S. 37).
Abdullah al H. H. kommt aus Syrien und hat sich in Deutschland dem "Islamischen Staat" zugewandt. Nach einem schweren Angriff auf ein schwules Paar (einer der beiden starb) stand er vor Gericht. Seine Kindheit wurde dort nicht ausführlich behandelt (vor allem auch was den elterlichen Erziehungsstil angeht, der in Syrien sehr oft gewaltbelastet ist), zeigt aber in eine deutlich belastete Richtung:
"Mit seinen Eltern und acht Geschwistern lebte er in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Aleppo. Die Schule besuchte er bis zur fünften Klasse, früh fiel er durch Schlägereien und Diebstähle auf. 2015 schickte ihn sein Vater fort. Er solle sich ein Leben in Deutschland aufbauen, Geld für die Familie verdienen und die Eltern später nachholen. Abdullah al H. H. war 15 Jahre alt, als er seine Heimat verließ" (Ramm 2021).
Colleen LaRose, "a white woman from suburban Philadelphia who became a Muslim jihadist and has pleaded guilty to conspiracy to murder a Swedish cartoonist under the codename "Jihad Jane" has revealed that she was drawn to Islam because it gave her a sense of belonging after a troubled childhood in which she was raped over many years by her biological father" (Pilkington 2012).
17-Jähriger aus Österreich: Der Jugendliche war Anhänger vom "Islamischen Staat" und wollte eigenen Angaben zufolge am 11. September 2023 am Wiener Hauptbahnhof einen Terror-Anschlag verüben. Geplant war auch, dass er durch die Aktion ums Leben kommt. Eine Kinder- und Jugendpsychologin wies auf diverse traumatische Belastungen in der Kindheit des Angeklagten hin, darunter der Tod der Mutter als der junge Mann sechs Jahre alt war, Mobbingerfahrungen in der Schule, "ungünstige soziale Umstände" und "weitere Belastungsfaktoren" (Tiroler Tagesanzeiger 2023).
Die Kindheiten der Brüder Merah (islamistische Terroranschläge in Frankreich) habe ich im Blog bereits ausführlich besprochen und verweise an dieser Stelle darauf bzw. spare mir die erneute Ausführung hier. Auch die Kindheit des Top-Terroristen Khalid Scheich Mohammed habe ich hier besprochen.
Einzelfallanalysen sind Einzefallanalysen (ich habe wirklich lange über diesen Satz nachgedacht…). Aufhorchen sollten wir, wenn sich „Einzelfälle“ häufen, wie hier gezeigt. Noch mehr Gewicht bekommen die Einzelfälle, wenn die Studienlage bzgl. größerer Befragungsrunden oder Auswertungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt, auch das konnte hier gezeigt werden.
Fazit
Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass destruktive Kindheitshintergründe bei islamistischen Extremisten/Terroristen ganz offensichtlich eine ähnliche große Rolle spielen, wie beim Rechtsextremismus (siehe dazu auch: Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien). Die innerpsychischen Dynamiken scheinen „verwandt“ zu sein. Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen (oder auch sozialpsychologische Hilfen für Kinder, die bereits solche Erfahrungen gemacht haben) sind demnach zentral, um auch dem islamistischen Extremismus und Terror zu entgegen.
Anhang: Hatten Terroristen die vergleichsweise friedlichsten Kindheiten? Zwei Studien und meine Kritik dazu
Erwähnt werden muss auch eine Studie von Speckhard & Ellenberg (2020), die aufzeigte, dass IS-Terroristen die weltweit verglichen friedlichsten Kindheiten überhaupt hatten. Vor allem die männlichen Befragten zeigten bei allen möglichen Misshandlungswerten in der Kindheit Werte auf, die zwischen 0 und 1,7% lagen! Selbst in Schweden, das statistisch nachweisbar weltweit führend ist, wenn es um eine gewaltfreie Kindheit geht, findet man in der Allgemeinbevölkerung keine solch niedrigen Misshandlungsraten. Die Studie und ihre Methodik habe ich hier im Blog ausführlich kritisiert und möchte dies nicht wiederholen. Ich halte es für einen Fehler der Autorinnen, dass sie diese Studie nicht selbstkritisch hinterfragt haben. Wer sich mit Daten über und dem Thema Kindesmisshandlung an sich auskennt, kann solche Ergebnisse nur anzweifeln.
Ähnlich kritisch sehe ich die Studie von Clemmow et al. (2020), die 125 “Lone-Actor“ Terroristen (verschiedene Extremismusrichtungen) und 2.108 Befragte aus der Allgemeinbevölkerung bzgl. verschiedenster Bereiche verglichen haben. Auch belastende Kindheitserfahrungen wurden verglichen. Die Allgemeinbevölkerung war deutlich belasteter in der Kindheit als die Terroristen!
Schaut man auf die Methodik, wird allerdings schnell klar, wodurch die großen Unterschiede kamen: Die Leute aus der Allgemeinbevölkerung wurden ausführlich und direkt befragt, bzgl. der Terroristen gab es keine Befragungen, man sammelte öffentlich zugängliche Datenquellen wie z.B. Gerichtsberichte oder Medienberichte. Bei einem so sensiblen Bereich wie Kindesmisshandlung ist es nur logisch, dass hier unterschiedliche Ergebnisse zu Tage treten! Auch diese Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen.
Beide Studien zeigen auf, dass bzgl. des Themas belastende Kindheitserfahrungen ein geschulter Blick wichtig ist, um Ergebnisse auch richtig darstellen und einordnen zu können. (siehe ergänzend und zur Info auch meinen Text: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung)
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