Mittwoch, 11. März 2020

Kindheiten und Lebenswege von zwei Dschihadisten

Das Buch „Dschihadisten - Feldforschung in den Milieus. Die Analyse zu 'Black Box Dschihad'“ (2011, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen) von Martin Schäuble hat mich wirklich schwer beeindruckt. Schäuble ist akribisch und mit viel persönlichem Aufwand den Lebensgeschichten zweier Dschihadisten nachgegangen. Solch umfassende Analysen von Terroristen sind selten zu finden! Beide Biografien könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein:

Daniel wuchs in Deutschland auf, konvertierte nach einer Sinnkrise und einer kurzen Inhaftierung zum Islam, schloss sich dann der Islamischen Dschihad Union an und plante mit seinen Gesinnungsbrüdern (die Terror-Zelle in Deutschland ist bekannt unter dem Namen Sauerland-Gruppe) einen großen Bombenanschlag in Deutschland. Glücklicherweise flogen sie auf und wurden verhaftet, bevor der Anschlag verübt werden konnte.

Sa'ed wuchs in Palästina auf. Er radikalisierte sich, wurde Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden und verübte schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem, bei dem 7 Menschen starben und über drei Duzend zum Teil schwer verletzt wurden.

Nach der Durchsicht des Buches wurde mir schnell klar, dass die Gemeinsamkeiten dieser beiden Täter nicht nur im Hang zum Dschihadismus liegen: Beide machten als Kind traumatische Erfahrungen. Beide wuchsen in Familien auf, deren Kommunikation tief gestört war und in denen Probleme nicht offen und konstruktiv besprochen werden konnten. Beide wirkten nach Außen sehr unauffällig und machten ihre Probleme und ihre Sinnkrisen mit sich selbst aus.

Ich konzentriere mich in dieser Besprechung jetzt wesentlich auf die destruktiven Kindheitserfahrungen.

Beginnen wir mit Daniel:

Daniels Mutter wird als dominant beschrieben, die für ihren Sohn Mutter und Vater zugleich war. Der Vater hielt sich im Grunde aus der Kindererziehung raus und konzentrierte sich auf beruflichen Erfolg (S. 84). Schäuble meint, dass der Vater zu seinem Sohn keine emotionale Bindung aufbauen konnte (S. 95) Bereits im Kindergarten fiel Daniel dadurch auf, dass er ernst und ein Einzelgänger war (S. 85).
Die Erziehung der Mutter war offenbar ein Mix aus viel geben im Sinne von wohlhabenden Lebensumständen und materiellen Dingen, aber auch Strenge: „Sie schlug ihn manchmal, ohrfeigte ihn. Das wird andauern bis er dreizehn ist und er ihre Hand einmal dabei festhalten konnte. Für Daniel muss dieses zweideutige Verhalten der Mutter schwer zu verstehen gewesen sein: Einerseits die Mutter, die alle Wünsche erfüllt, anderseits ihre autoritäre Strenge, die sich zumindest in den Schlägen äußerte“ (S. 89). Es deutet nichts darauf hin, dass der Vater seinen Sohn vor den Schlägen geschützt hätte.

Als Daniel 11 Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Vater zog aus, Daniel und sein Bruder blieben bei der Mutter, die ihre Freunde einlud und mit Sekt auf den Auszug des Vaters anstieß (S. 95). Daniel dagegen litt unter diesem Verlust und weinte Zuhause wegen der Trennung.

Die Trennung der Eltern entwickelte sich schnell zum Scheidungskrieg, der mit allen Mitteln geführt wurde. Autor Schäuble zog einen Psychoanalytiker zu Rate und kommt zu dem Schluss, dass dieser Scheidungskrieg für Daniel traumatisch war (S. 97). Die Eltern redeten schlecht übereinander; der Vater forderte Daniel sogar auf, die Mutter auszuspionieren; die Mutter wiederum nahm die Telefongespräche zwischen Daniel und seinem Vater heimlich auf. Die Kinder scheinen den Eltern in dieser Zeit egal gewesen zu sein (S. 97). Kurz nach dem Auszug des Vaters zog zudem der neue Freund der Mutter im Haus ein. Mit dem neuen „Stiefvater“ kam Daniel nicht zurecht und es zog ihn eher zu seinem Vater.
Später, der genaue Zeitrahmen wird nicht beschrieben, brach Daniel den Kontakt zur Mutter für mehrere Jahre gänzlich ab (S. 191).
Während des Scheidungskrieges, Daniel war 11 oder 12 Jahre alt, versuchte sich seine Mutter mit Tabletten das Leben zu nehmen. Daniel fand sie und konnte einen Krankenwagen rufen (S. 99).

Zusammengefasst hat Daniel eine traumatische und von emotionaler Kälte geprägte Kindheit erlebt. Als Jugendlicher konsumierte Daniel Drogen, traf falsche Freunde und kam schließlich durch Kontakte zum radikalen Islam.

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Sa'ed wurde 1985 in die Krisenregion Palästina hineingeboren. Die Freund-Feind-Bilder und politischen Konflikte wurden ihm quasi in die Wiege gelegt, wie so vielen Kindern, die in dieser Region aufwachsen.
Aber auch die Familiensituation war sehr konfliktbeladen und destruktiv. Seine Mutter wurde im Alter von 14 Jahren gegen ihren Willen verlobt. Im Alter von 15 Jahren musste sie den acht Jahre älteren Mann heiraten, der der Vater von Sa'ed werden sollte (S. 101). Echte Liebe zwischen den Eltern gab es also nicht.
Sa'ed erlebte im Alter zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr eine rastlose Zeit, die Familie zog zunächst nach Jordanien, bekam allerdings keine Aufenthaltsgenehmigung und musste wieder zurück (S. 102). Zurück in den Palästinensischen Gebieten erlebte Sa'ed im Kindergartenalter die Erste Intifada. Auf den Straßen vor dem Haus der Familie brannten Autoreifen und tobten Kämpfe zwischen Palästinenser und israelischen Soldaten (S. 103). Was Sa'ed davon mitbekam und wie sich dies auf ihn auswirkte, kann man nur vermuten. Schäuble weist auf die Spiele der Kinder hin, von denen er berichtet bekommen hatte und an denen auch Sa'ed mitwirkte. Die Kinder reinszenierten in ihren Spielen die Gewalt auf den Straßen und die Trauerfeiern für die Toten.

Aber auch innerhalb der Familie scheint es gewalttätig zugegangen zu sein. Die Mutter sowie auch der Vater werden als streng beschrieben. Ein früherer Freund von Sa'ed berichtete, dass der Vater seinen Sohn geschlagen habe, auch mal mit einem Stock. Später verneint der selbe Freund und auch der Vater die Gewalt. Der Vater berichtet aber noch, dass er Sa'ed auch angeschrien habe, was ihm heute Leid täte. Zu Recht weist Autor Schäuble darauf hin, dass nach dem Tod von Sa'ed sowohl seinem früheren Freund, als auch dem Vater Erinnerungen an solche Strafmaßnahmen sicher schwer gefallen sein dürfe (S. 110). Im Grundschulalter scheint Sa'ed seinem Vater aus dem Weg gegangen zu sein, er habe nicht das beste Verhältnis zum Vater gehabt.

Sowohl die beengten Lebensverhältnisse zu Hause (er hatte 6 Geschwister) als auch seine Brüder, die als autoritär ihm gegenüber beschrieben werden, bedingten wohl, dass Sa'ed während seiner Grundschulzeit seine Zeit am Liebsten draußen verbrachte (S. 112). An anderer Stelle wird beschrieben, wie Streitereien zwischen ihm und seinen Brüdern ablaufen konnten: Ein Bruder hatte Fotos zerschnitten, auf denen Sa'ed zu sehen war. Bei einem anderen Streit schüttete ein Bruder eine Tasse heißen Tee in das Gesicht von Sa'ed, so dass seine Mutter ihn ins Krankhaus bringen musste. Dabei ist noch etwas sehr auffällig: Sa'ed hatte seiner Mutter nichts von seinen Verbrennungen berichtet. Er lag in seinem Bett und sagte nichts. „Er hatte Angst, dass ich ihn und seinen Bruder bestrafen würde, weil sie gekämpft haben“, sagte die Mutter (S. 273). Wie groß muss die Angst vor der Mutter sein, wenn ein Kind sich nicht traut, ihr von den Verbrennungen zu berichten?
An einer anderen Stelle im Buch wird auch von Hänseleien durch seine Brüder berichtet. Sa'ed half seiner Mutter viel im Haushalt und bei der Betreuung der kleinen Geschwister. „All das brachte ihm immer wieder Spott ein, auch in der eigenen Familie, denn Hausarbeit und Kinderbetreuung ist in Nablus häufig Frauensache. Statt Sa'ed nannten sie ihn Sa'eda. Die weibliche Form seines Vornamens. Den Vater stimmte das manchmal traurig. Die Mutter freute sich über die Unterstützung“ (S. 113).

Bereits mit elf Jahren erschien Sa'ed nicht mehr in der Schule (S. 132). Er wollte (oder musste?) arbeiten, um seine Familie zu unterstützen. Zu der Zeit sah er seinen Vater unter der Woche gar nicht, dieser pendelte nur am Wochenende nach Hause. Die Mutter war stark eingespannt. Unterstützung, Gespräche über Zukunftspläne all dies scheint es nicht gegeben zu haben (S. 134).
Zunächst arbeitete er in einer Schneiderei, von 7-30 Uhr bis 17 Uhr, für 2 € Lohn am Tag. Später in einer Bäckerei, wo die Schicht oft bis 18 Uhr ging, für 9 € Lohn am Tag (S. 135f). In den Betrieben herrschte ein raues Klima und die Kinder standen naturgemäß ganz unten in der Hierarchie.

Sa'ed war zum Beginn der Zweiten Intifada 15 Jahre alt, er erlebte Bombenexplosionen (auch vor dem eigenen Haus) und den Einmarsch der Israelis mit. Seine Mutter verlor eine Freundin, weil eine durch Palästinenser selbstgebaute Bombe versehentlich neben ihr hoch ging (S. 154). Sa'ed wendete sich in dieser Zeit immer stärker der Religion zu.
Als Sa'ed 17 Jahre alt war, wurde sein Freund und Arbeitskollege von israelischen Soldaten erschossen (S. 181). Kurz darauf musste die Familie von Sa'ed fluchtartig umziehen, in ihrem Wohnort war es zu gefährlich geworden, die Kämpfe eskalierten immer mehr. Dann wurde der Bruder eines Freundes von Sa'ed ebenfalls umgebracht. Sa'ed habe dann Rache geschworen (S. 184).

Beenden wir an dieser Stelle den Blick auf Sa'ed, der zum Selbstmordattentäter wurde. Mehrere traumatische Ereignisse in seiner Kindheit und Jugend wurden hier aufgezeigt, inkl. einer sehr destruktiven Familienatmosphäre.

Schlussgedanken

Das "Traumagesamtpaket" von Sa'ed ist gewiss größer (und alleine schon durch seine Umgebung politisch aufgeladen), als das von Daniel. Die Frage ist, ob  Sa'ed auch zum Selbstmordattentäter geworden wäre, wenn er eine liebevolle Familie, keine elterliche und geschwisterliche Gewalt und einen starken familiären Zusammenhalt erlebt hätte, bei gleichen Rahmenbedingungen? Die Frage ist gleichzeitig aber auch, ob bei diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen überhaupt liebevolle Familienverhältnisse erzeugt werden könnten? Rahmen und Familie, Familie und Rahmen, in den palästinensischen Gebieten scheint beides eng miteinander verflochten zu sein. Das Traumapotential in dieser Region ist enorm, gerade auch für die Kinder.

Prävention muss in beiden Fällen in der Familie beginnen, mit Hilfen (auch bei der Austragung von Konflikten), mit Anleitung zu einer gewaltfreien Kindererziehung und Kommunikation, mit positiven Ausgleichserfahrungen außerhalb der Familie u.ä. Mit Blick auf Sa'ed wird es komplizierter. Der Autor Martin Schäuble verweist in seinem Schlusswort zu Recht auf die notwendige Lösung der politischen Konflikte in der Region und auf eine notwendige Reduzierung von Gewalt- und Unrechtserfahrungen. Nur so kann dem Terror der Nährboden entzogen werden. Ich würde dem noch anschließen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dass Kinder zur Schule gehen können und nicht in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen landen. Der Autor würde das sicher genauso sehen.

Dem Autor Martin Schäuble gebührt Respekt und Dank für diese umfassende Arbeit! Selten gehen derartige Analysen so in die Tiefe. Man vergisst nie, zu was für Taten diese beiden Männer in der Lage waren! Aber man versteht, dass ein Mensch nicht zum Terroristen geboren wird, sondern dass der Lebensweg entscheidende Weichen stellt. Und an diesen Weichen sollten und können wir ansetzen.

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