Samstag, 29. November 2014

Kindheit von André Stern. Oder: Der fehlende Schulbesuch war nicht der bedeutendste Faktor

Ich bin schon mal auf André Stern und dessen Kindheit durch Blogleser aufmerksam gemacht worden. Zudem tauchen Hinweise auf ihn und seine Kindheit auch hin und wieder in Onlinediskussionen bzw. Kommentaren von Medienartikeln  auf, die ich hier und da verfolgt habe.

Ich habe mir dann Vorträge von André Stern - er spricht auch deutsch - online (u.a. auch auf seiner Homepage) angeschaut, um ein genaueres Bild zu bekommen. Und jetzt habe ich auch das Buch „Mein Vater mein Freund“ (Meine Ausgabe 2014, veröffentlicht im Verlag Zabert Sandmann), das André zusammen mit seinem Vater Arno Stern geschrieben hat, durchgesehen.

André Stern scheint für viele Menschen und auch Medien vor allem  interessant zu sein, weil er als Kind nie zur Schule ging und offensichtlich trotzdem ein sehr intelligenter, kreativer, selbstbewusster, konstruktiver und vielseitiger Mensch geworden ist. (In Frankreich gibt es keine Schulpflicht und André blieb zu Hause bei den Eltern und empfindet dies als reines Glück.) Wobei Viele, die ihn interviewen oder gar von ihm schwärmen Tendenzen in die Richtung zeigen, dass André sich gerade weil er nicht zur Schule ging besonders gut entwickeln konnte.
Für mich persönlich ist die Tatsache, dass André nie zur Schule gegangen ist (und durch die er öffentlich bekannt wurde), nicht der wesentliche Punkt, warum ich mich für seine Biografie interessiere. Noch neugieriger war ich auf den Umgang der Eltern mit ihm. Denn André wirkt auf mich derart lebensbejahend, ungefährlich und wach, dass rein die Tatsache, dass er nie zur Schule ging, da meiner Auffassung nach nicht der entscheidende Punkt war. Liesst man das o.g. Buch, bestätigt sich schnell, dass André in keiner gewöhnlichen Familie aufgewachsen ist.
Der Vater, Arno Stern, ist Forscher, Künstler und Pädagoge und die ganze Familie scheint in einem sehr kreativen, intellektuellen Milieu gelebt zu haben. Zudem scheinen die finanziellen Mittel derart aufgestellt gewesen zu sein, dass die Eltern im Prinzip Leben und Arbeit verbinden konnten und somit für ihre Kinder beständig zu Hause da sein konnten. Leben, Arbeit und Freizeit waren eins, so ähnlich hat André das auch einmal bzgl. seines jetzigen Lebens ausgedrückt.
Insofern halte ich André Stern nicht für ein gutes Beispiel dafür, wie gut es Kindern tun könnte, nicht zur Schule zu gehen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland wie auch in Frankreich hat alleine schon was die berufliche und finanzielle Situation angeht überhaupt nicht die Voraussetzungen, Kindern die Aufmerksamkeit, Zeit und Unterstützung zukommen zu lassen, die sie bräuchten, wenn sie nicht zur Schule gehen würden. Zudem scheinen die Eltern von André auch von ihrer Persönlichkeit (Intellekt, Empathie, Kreativität) her über Ressourcen zu verfügen, die nicht dem Schnitt entsprechen. Und sie verfügten über ein kreatives, zugewandtes Umfeld. Ein Auszug aus dem Buch: „Wir waren sehr viel unterwegs, oft mit Papa und/oder Maman, oft mit Freunden oder Familienmitgliedern, die vorbeikamen und sagten: Ich geh zu einer Ausstellung oder ins Theater oder ins Kino oder zu einer Lesung, soll ich die Kinder oder eines der Kinder mitnehmen? Und schon sehr früh haben wir angefangen, Kurse zu besuchen, die natürlich weder mit den Eltern noch zu Hause stattfanden.“ (S. 133) André  bechrieb in einem Interview, was für Kurse er im Alter von 12 Jahren innerhalb einer typischen Woche besuchte. „im Malort malen, Kurse in den verschiedensten Bereichen; 2 x 3 Stunden Metalltreiben, 4 Stunden Fotografie (Technik, Labor), 2 x 2 Stunden Tanz, 2 Stunden Kampfsport (Kalarripayat), weitere Kurse in Textilkunst, Töpferei, Algebra; Lesungen im Collège de France über Ägyptologie, Mittelalter und Soziologie – und vieles mehr.“  Das ganze ohne jeden Leistungsdrang oder Stress, sondern vor allem auch auf Grund eigener Begeisterung. Ein solches Programm muss sich eine Familie erst einmal leisten können.

Ich glaube André aufs Wort, dass er eine glückliche Kindheit hatte und in einem enorm anregenden Umfeld aufgewachsen ist. Aber es wird für mich ganz klar deutlich, dass die Abwesenheit von Schule nicht DIE Voraussetzung für die gute und besonders kreative Entwicklung eines Menschen ist, weil die Sterns nun einem außergewöhnlich waren. Ich persönlich glaube eher daran, dass sich in Zukunft die Schule immer mehr verändern und den Bedürfnissen von Kindern anpassen wird. Schon heute erlebe ich durch den Schulbesuch meines Sohnes, dass Schule ganz anders und viel besser ist, als ich sie bei meinem Schuleintritt Anfang der 80er Jahre erlebt habe. Aber das nur nebenbei.  

Ich möchte jetzt noch einiges aus dem o.g. Buch zusammenfassen:

André betont, dass es zu Hause bei ihm Regeln gab und diese nicht im Widerspruch zu einem Leben in Freiheit standen. „Das Gefühl der Sicherheit wurzelte in diesem Gerüst und in dem totalen Vertrauen, das wir in unsere Eltern hatten. Sie versuchten nie, uns zu überlisten oder uns etwas vorzumachen. Sie feilschten nicht. Wenn einer Nein sagte, wussten wir, dass es einen guten Grund dafür gab, selbst wenn er für uns vielleicht nicht auf Anhieb deutlich war. Ein Nein bewirkte keine Tränen und kein Toben, und unser Gehorsam war kein Akt der Unterwerfung, sondern eine natürliche Folge unseres großen, gegenseitigen Vertrauens.“ (S. 133)
Er spricht bzgl. seines Sohnes von einem Familiengefühl bestehend aus „Verbindung, Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit“ (S. 138) und bringt damit offensichtlich das zum Ausdruck, was er selbst als Kind erlebt hat. An anderer Stelle schreibt er, dass er mit seinem Vater in "Liebe, Vertrauen und Aufmerksamkeit" (S. 119) zusammenlebe, bis heute. Und: "Vertrauen, Offenheit, Respekt, Kreativität, Miteinanderleben, Bereicherung durch Verschiedenartigkeit; das sind Dinge, die mein Vater mir vorgelebt hat." (S. 120) André schreibt auch, dass er - wenn er nicht mit seinem Vater zusammen ist - fast immer täglich mit ihm telefoniere. (S. 130) Bis heute lebt der Vater total mit seinem Sohn und interessiert sich für dessen Erlebnisse und Gedanken. .
Interessant ist auch, das bei den Sterns klassische Geschlechterrollen nicht existierten oder anders besetzt waren: „Und auch die übliche Unterteilung zwischen „männlich“ und „weiblich“ gehörte nicht zu den Paradigmen, unter denen ich aufgewachsen bin. Mein Vater war keine Versorgungsstelle für männliche Verhaltensmuster, Virilität oder Autorität, er war kein Bestrafer, kein Konfliktpartner und kein Gegenpol zu meiner Mutter, sondern genau wie sie ein unentbehrlicher Teil unserer Konstellation: Ich kann mir bis heute meinen Vater nicht ohne meine Mutter vorstellen.“ (S. 143)

Wichtig finde ich auch die Info, dass Arno Stern "ein glücklicher Sohn" (S. 113) war und seinen Vater (Andrés Großvater) offensichtlich sehr positiv erlebt hat. Hier zeigt sich die starke Wirkung der Evolution von Kindheit und wie positive Erfahrungen weitergegeben und natürlich auch weiter entwickelt und verbessert werden.

Ich möchte mich jetzt nicht in weitere Details verlieren. Es dürfte, denke ich, deutlich geworden sein, dass André Stern in einem liebevollen, sehr bindungsstarken Elternhaus aufgewachsen ist und alles darauf angelegt war, dass er sich so entwickeln konnte, wie er es wollte und wie es seiner Persönlichkeit entsprach. Und ich denke, dass dieser Mensch und seine Kindheit sehr gut in meine Reihe von Beispielen für positive Kindheiten passt.

Wie würde die Welt nur aussehen, wenn die Mehrheit der Kinder auf der Welt ähnlich engagierte und positive Eltern hätten; ähnlich auch wie die von Astrid Lindgren, die von den Geschwister Scholl oder von Reinhard Mey? Dabei sollen alle Eltern in ihrer Einzigartigkeit und ihrer Verschiedenartigkeit stehen, natürlich. Aber dieses Grundgerüst: Echte Geborgenheit, bedingungslose Liebe, starke Bindung, Freiheit und niemals Gewalt, wenn dies die Mehrheit der Eltern erfüllte (und eines Tages wird dies so weit sein) wird die Menscheit Sprünge in ihrer Entwicklung erleben, die heute noch kaum vorstellbar sind.

Donnerstag, 27. November 2014

Je grausamer die Taten, desto deutlicher werden ihre Ursachen

Ich habe momentan etwas wenig Zeit, um „Zwischengedanken“ in Textbeiträge umzusetzen. Für diesen Zwischengedanken nehme ich mir jetzt aber doch die Zeit.

Gestern hörte ich auf NDR Info einen Sendebeitrag anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises an den Arzt Denis Mukwege, der sich seit Jahren um Opfer von Vergewaltigungen im Kongo kümmert.
In dem Beitrag berichtete eine Frau aus dem Kongo von einer erlebten Vergewaltigung (wobei diesen Wort nicht ausreicht, um das zu beschreiben, was ihr angetan worden ist.). Die Frau wurde an ein Kreuz auf einem Platz gefesselt, die Beine gespreizt. Eine Menge von Menschen (wohl auch Frauen) tanzte um dieses Kreuz herum, jubelte, schrie. Währenddessen wurde sie immer wieder von diversen Männern, die gerade wollten, vergewaltigt…

Ich habe schon bei dem Thema Kindesmisshandlung lernen müssen, dass es im Grunde keine Grenze der Gewalt gibt. Immer wieder stieß ich in der Vergangenheit auf Berichte, die mich absolut fassungslos machten, weil sie alles übertrafen, was ich zuvor über Kindesmisshandlung gehört und gelesen hatte. Die o.g. Gewaltszene zwischen Erwachsenen gehört für mich zu einer Kategorie von extremer Gewalt, die im Grunde unvorstellbar ist. Unvorstellbar für Menschen, die etwas fühlen.

Trotzdem mich solche Berichte sehr erschüttern, gleichzeitig lassen sie mich nicht ohne ein Verstehen zurück (Verstehen heißt niemals entschuldigen). Und mein Verstehen steigt im Grunde mit der Steigerung von Taten und Grausamkeiten an, auch wenn es vielleicht für manchen ungewöhnlich klingt, so etwas zu lesen, weil die routinemäßige Reaktion stets ein großes Fragezeichen ist. Je grausamer menschliche Taten sind, desto deutlicher wird für mich, warum sie stattfinden können.

Nur Menschen, die innerlich absolut tot sind, können so handeln, wie die Täter in der o.g. Vergewaltigungsszene. Und jede weitere Tat mehr, entfernt sie mehr von dem, was wir „Leben“ nennen. Sie werden durch ihre weiteren Taten letztlich zu innerlichen „Superzombies“, die erst im körperlichen Tod Erlösung finden.  Das bedeutet nicht, dass diese Täter nicht wie Menschen wirken können, am Imbiss etwas essen gehen, sich unterhalten, Karten spielen, einem Kind über den Kopf streicheln, über einen Witz lachen usw. Aber eines ist klar: Solche Täter fühlen gar nichts mehr, auch in ihrem privaten Leben, in Gesprächen, letztlich in jeder Sekunde ihres Lebens. Sie sind innerlich absolut kalt und erleben somit bereits die Hölle auf Erden.

In dem o.g. Bericht war die Rede von Vergewaltigungen als Kriegswaffe und dem Zugang zu Rohstoffen im Kongo. Ich glaube mittlerweile, dass eines der Grundprobleme bzgl. des Verstehens/ dem Erklären von grausamer Gewalt ist, dass viele Menschen wirklich glauben, grausame Gewalt gehöre zum angeborenen Verhaltensrepertoire von Menschen und nur die äußeren Umstände müssten entsprechend eingestellt sein, um solche Gewaltexzesse möglich zu machen...
Solchen Berichten wie o.g. gehört dagegen meiner Ansicht nach routinemäßig angehängt: Solche Täter fühlen nichts mehr, sie sind innerlich gestorben, sonst wären ihre Taten nicht möglich. Und wenn dies einmal verstanden würde, müsste die nächste Frage lauten: Ja und wie kam es denn, dass diese Menschen innerlich verstorben sind, was hat sie „getötet“? Und erst wenn diese Frage umfassend beantwortet ist, stößt man auf die eigentlichen Ursachen der Gewaltexzesse.

Warum befragen Forscher und Journalisten nicht Täter wie die aus der o.g. Szene konkreter? Die gesamte Kindheit müsste abgefragt werden; kümmerte sich jemand um das Kind, welche Gewalterfahrungen gab es, wie oft kam Gewalt vor und in welcher Form, durch welche TäterInnen? Gab es ergänzend traumatische Kriegserfahrungen, existenzielle, extreme Erfahrungen von Hunger und Elend? Wurden Menschen, vielleicht Angehörige vor den Augen des Kindes getötet? Wurde evtl. das Kind/der Jugendliche gezwungen, Anderen Gewalt anzutun usw. ? Würden diese Fragen umfassend beantwortet werden können (sofern sich die Täter konkret erinnern), würde sich auch das „Verstehen“ einstellen. Den LeserInnen dieses Blogs dürfte klar sein, von welcher Art Antwort ich ausgehe: Dem genauen Gegenteil von einem geborgenen, glücklichen Aufwachsen, sondern eher von Grausamkeiten, die jenen ähnlich sind, welche die erwachsenen Täter selbst verübten.
Kürzlich las ich aus Interesse den Wikipediabeitrag über  den schottischen Freiheitskämpfer William Wallace. In dem Beitrag wird auch die Hinrichtung (am 23.08.1305)  wegen Verrats am König besprochen.  Ich zitiere wie folgt. „An ein Pferd angebunden musste er mehrere Stunden lang nackt durch die Straßen Londons laufen, während die Bewohner ihn mit Steinen bewarfen. Anschließend wurde Wallace zuerst fast bis zum Tode gehängt, dann noch lebend kastriert und ausgeweidet – die entfernten Körperteile und Innereien wurden vor den Augen des Verurteilten und der Zuschauer verbrannt (…).“
Vor noch längerer Zeit las ich, wie es u.a. „römische Art“ war, Gefangene hinzurichten. Der Kopf des Gefangenen wurde zwischen zwei Balken gesperrt, der Körper dann so lange ausgepeitscht, bis der Gefangene tot war. Dies tat man u.a. gerne vor den Augen von Führern unterworfener Völker.

Gewaltexzesse wie heute im Kongo waren in historischen Zeiten „normal“. Steven Pinker hat darüber ausführlich in seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ berichtet. Ein Beispiel aus Pinkers Buch blieb mir in Erinnerung. Ein historischer Fund von einem Folterwerkzeug zeugte von der möglichen Grausamkeit. Ein metallener Ochse wurde gefunden, in dem Menschen lebendig verbrannt worden waren. Zur Belustigung der Anwesenden kamen die Schreie dann aus dem Mund des Ochsen.

Diese drei Beispiele geben - in unserer heutigen Wortwahl -die Möglichkeiten institutioneller Gewalt wieder. Von den Regierenden gewünscht und verordnet, als normale Praxis gewollt, zur Belustigung und Erheiterung, zur Abschreckung, sicher, aber letztlich immer auch um kurz etwas zu fühlen. Denn nur „innerliche Zombies“ fühlen kurz etwas, wenn andere Menschen gequält werden. Und nur Menschen die innerlich tot sind, können solche Taten - wie schon gesagt - vollbringen. Wie innerlich tot waren denn nun also unsere Vorfahren?
Wenn man sich die Erkenntnisse der Psychohistorie anschaut, dann müssen breite Schichten der Bevölkerung in historischen Zeiten innerlich tot gewesen sein; einfach, weil sie von Geburt an ständig Gewalt und Ablehnung ausgesetzt waren. So etwas überleben die meisten Menschen nicht, zumindest nicht in ihrem Inneren. (Heute gibt es da schon andere Möglichkeiten und andere Hilfsangebote für Menschen, die grausames als Kind durchmachen mussten. Aber früher?)

Um diesen Zwischengedanken zum Thema ein Schlusswort zu geben. Wer grausame Taten verstehen will, muss sich mit den Ursachen des innerlichen, emotionalen Absterbens von Tätern befassen. Dann kann auch präventiv besser gehandelt werden. Wer sich nicht mit dem Fühlen und Nicht-Fühlen befasst, muss zwangsläufig blind bzgl. den eigentlichen Ursachen bleiben und wird stets mit einem großen Fragezeichen vor den Dingen stehen.