Freitag, 12. Juni 2009

Interview mit "Beinahe-Amokläufer"

In der aktuellen EMMA wird als Titelthema ein junger Mann (Pseudonym „Sven“) vorgestellt, der ganz offen über seine früheren Amokfantasien spricht. Vermittelt wurde der Kontakt über den Kriminologen Prof. Dr. Pfeiffer. Das Interview mit „Sven“ wird von der EMMA genutzt, um ihre These vom Zusammenhang von Frauenhass/männlicher Sozialisation und Amokläufen zu stützen. Ich fand die Einblicke in „Svens“ Kindheit und die Folgen daraus wesentlich aufschlussreicher.

Svens Kindheitserfahrungen/Familiensituation (Zusammenfassung auf Grundlage des Interviews):
Eltern sind beide Alkoholiker und überfordert, die Mutter hat psychische Probleme und starke Stimmungsschwankungen („von supernett bis extrem autoritär“), Mutter „delegierte“ körperliche Gewalt an den Vater (ist hier also auch beteiligt!), der Vater hat „ordentlich geprügelt“ und war sonst in der Familie eher abwesend, Mutter übte totale Isolation und Kontrolle über die Kinder aus (kein Kindergartenbesuch, kein Fussballverein, keine Klassenfahrten wurden erlaubt, weil “da hätten wir ja darüber reden können, was bei uns zu Hause so los war“), keine Bekundungen von Liebe (außer als Sven schon erwachsen war, wo ihm seine Mutter das erste mal in seinem Leben sagte, dass sie stolz auf ihn sei und ihn liebe)
Kurz gesagt: Diese Kindheit war wirklich ein Albtraum! (Es freut mich nebenbei bemerkt für „Sven“, dass er trotz allem und wohl auch dank einer längeren Therapie heute seinen Weg zum Leben und auch einen Weg im Umgang mit seinen Eltern gefunden hat.)

Berichtete Folgen: Hass auf die Mutter (als Sven noch klein war), unerträgliche Gefühle, wenn sie ihn in den Arm nehmen möchte, später dann Hass auf den Vater und Verachtung für diesen, totaler Hass auf die ganze Gesellschaft, Hass auf seine religiöse Erziehung, Selbstmordgedanken („Es wäre ja langweilig, sich vor den Zug zu werfen, das sieht doch keiner.“), Zwangsstörungen, Zählzwang, Kontrollzwänge, Angst aus dem Haus zu gehen, Angst vor dem ganzen Leben, Depressionen, Außenseiterrolle in der Schule, konkrete Amokfantasien.

Ich habe sicherlich keinen gesamten Überblick über alle Medienberichte. Zumindest innerhalb der Beiträge, die ich in den letzten Wochen zum Thema Amoklauf gesehen und gehört habe, war der Faktor Kindesmisshandlung kein Thema. Und das ist in der Tat erstaunlich bei so naheliegenden ursächlichen Faktoren (und jetzt auch dem Beispiel “Sven“). Und vor allem wäre der präventive Ansatz dann auch ein ganz anderer, aufwendigerer, grundlegenderer.

Besonders interessant – gerade auch für diesen Blog – fand ich folgende Stelle im Interview:

Frage der EMMA: Sie sind nach dem Abitur zur Bundeswehr gegangen?
“Sven“: Da kam ich gut klar! Das war so eine ganz archaische Sache. Ich wurde total gefordert, bekam auch schon mal Tadel, aber auch Lob. Wir hatte alle Uniformen an, waren alle gleich. Unser einziges Feindbild waren die Vorgesetzten, untereinander haben wir total zusammengehalten. In dieser Zeit hatte ich auch nicht mehr diese Amokfantasien.
(EMMA Mai/Juni 2009, „Amokläufer”, S. 21)

Das Militär zieht Menschen mit einer problematischen Sozialisation systematisch an, so meine These im Grundlagentext, die hier erneut belegt wird. Uniformität, Kameradschaft, Leistungsdruck, Unterordnung, Legitimität von Gewalt und insbesondere Feindbilder lenken von eigenen inneren Problemen und Konflikten ab. Ich fand es sehr aufschlussreich, dass „Svens“ Amokfantasien seine Schulzeit über da waren, aber während seiner Bundeswehrzeit verschwanden. Als „Giftcontainer“ dienten jetzt einfach neue Hassobjekte.

Siehe ergänzend zu diesem Beitrag auch "Amoklauf von Winnenden und die Medien"

Mittwoch, 10. Juni 2009

Info zur Schließung meiner alten Homepage

Ab 10. Juni 2009 ist meine alte Homepage offline!

Mit dem Gedanken, die Page zu schließen, hatte ich schon längere Zeit gespielt. Ich muss gestehen, dass ich dabei hin und her gerissen war, weil in den zusammengestellten Informationen sehr viel Zeit und Arbeit steckt und es für andere Menschen sicherlich weiter hilfreich wäre, auf diese zugreifen zu können. Für mich persönlich ist die Homepage nicht mehr hilfreich, sondern eher eine Last. Aktualisierungen kosten Zeit und Kraft. Außerdem trage ich durch den ständigen Onlineauftritt auch eine ständige Verantwortung, auch das kostet Kraft. Schließlich hatte ich pro Tag bis zu 200 Besucher auf die Homepage und bei Googel eine extrem gute Treffersortierung bei entsprechenden Stichworten. Ich kann mich außerdem nicht mehr wirklich mit dem Projekt identifizieren, das ich genau genommen hauptsächlich in den Jahren 2002/2003 vorangetrieben und danach nur phasenweise ergänzt habe. Es macht für mich dadurch nun durchaus Sinn, dieses Kapitel zu beenden.

Viele Menschen haben lesend den Weg der Homepage in den letzten Jahren begleitet und mir viel positives Feedback gegeben, dafür möchte ich mich herzlich bedanken!. Ich denke, dass ich in dieser Zeit einiges bewegen konnte, sowohl bei mir, als auch bei anderen Menschen, was mich natürlich sehr freut.

Der Text „(destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg“ ist der für mich derzeit wichtigste aus dem alten Projekt. In dem Text steckt viel Arbeit und Zeit und ich möchte ihn unbedingt in diesem extra eingerichteten Blog erhalten und auch ergänzen:. http://kriegsursachen.blogspot.com/

Mich interessiert jetzt mehr die Politik bzw. die politischen Konsequenzen der Gewalt gegen Kinder. Dies erfordert für mich einen neuen Raum in Form eines Blogs, der mir mehr Freiheit für meine Gedanken gibt, als eine feststehende Homepage. Vorteil ist dabei für mich eindeutig auch die zeitliche Kennzeichnung von Beiträgen und die „Lockerheit“ eines Blogs. Der Grundlagentext zu diesem speziellen Thema hinterließ bei mir noch viele aufgestaute Gedanken, die ich hier noch mal aufgeschrieben habe. Das meiste ist allerdings gesagt und ich werde nur noch hier und da mal ein paar Gedanken aufschreiben.

Was den Erhalt anderer wichtiger Texte angeht, bin ich bemüht, diese einem großen Onlineprojekt zu übertragen. Ob dies alles so klappt, wie ich mir das vorstelle und wann dies genau sein wird, kann ich leider noch nicht genau sagen. Ich werde innerhalb dieses Textes ganz unten auf jeden Fall eine aktualisierte Mitteilung hinterlassen, wenn alles über die Bühne gegangen ist. Weiterhin bin ich auf Anfrage gerne bereit, Texte, die Euch noch bekannt und wichtig sind, zur Veröffentlichung auf anderen Homepages freizugeben.

Ein Projekt hat bereits den Text über die „Gewalt gegen Kinder in der Geschichte“ übernommen – siehe hier: http://gewalt-im-jhh.de/Blick_uber_den_Tellerrand/Die_Gewalt_gegen_Kinder_in_der_Geschichte.doc


Viele Grüße

Donnerstag, 4. Juni 2009

Kindheit von Astrid Lindgren


"Es gibt kein anderes Kind, das mich inspirieren kann, als das Kind, das ich selbst einmal gewesen bin." (Astrid Lindgren)


Wenn man im Internet über biografisches und über die Kindheit von Astrid Lindgren recherchiert, steht immer etwas von Liebe, Glück und Geborgenheit in der Kindheit und von der gegenseitigen Liebe ihrer Eltern, die ein Leben lang währte, am Anfang der Berichte. Lindgren selbst betonte immer wieder, wie glücklich ihre Kindheit gewesen ist, und war fest davon überzeugt, dass diese glückliche Kindheit und die glückliche Ehe ihrer Eltern der Hauptgrund für ihren Erfolg waren. Zusätzlich wird auch darauf hingewiesen, dass ihre Eltern zwar viele Freiheiten erlaubten, aber auch konsequent Grenzen setzten und einen festen Rahmen vorgaben. Für damalige Verhältnisse – Lindgren wurde 1907 geboren – war dies ein Erziehungsstil, der seiner Zeit weit voraus war. Ebenso ungewöhnlich war damals sicherlich auch das besondere Verhältnis von Astrids Vater - Samuel August Ericsson – zu seinen Kindern (denn Männer entdeckten historisch gesehen nur sehr langsam ihre Vaterrolle). Er verteilte seine Liebe großzügig an die Kinder, erzählte Geschichten, herzte die Kinder, wann immer er Gelegenheit dazu fand. Aber lassen wir am Besten Astrid Lindgren selbst zu Wort kommen:

„Gunnar, Astrid, Stina und Ingegerd, so hießen die Ericssonskinder auf Näs. Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. (…) Unsere Kindheit war ungewöhnlich frei von Rügen und Schelte. (...) Hannas Art der Kindererziehung war, so finde ich, recht großzügig. Dass man zu gehorchen hatte, war selbstverständlich, aber sie stellte nie unnötige und unerfüllbare Forderungen. So verlangte sie beispielsweise nicht, dass man unbedingt pünktlich zu den Mahlzeiten erschien . kam man zu spät, musste man sich selber etwas aus der Speisekammer holen. Ohne Vorhaltungen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie uns je Vorwürfe gemacht hätte, wenn wir mit zerrissenen oder beschmutzen Kleidern nach Hause kamen. Wahrscheinlich hielt sie solche Pannen, die im Eifer des Spiels passieren konnten. Für das gute Recht eines Kindes. Sie zeterte nicht über Missgeschicke, für die man nichts konnte. Wie zum Beispiel damals, als unsere jüngste Schwester auf den Küchentisch krabbelte und dabei die große Schüssel voll Blutgrütze umkippte. Kein Wort verlor Hanna darüber, sie wusch ihr blutverschmiertes Töchterchen, zog ihm sauberer Sachen an und gab uns zum Mittagsessen statt Blutgrütze etwas anderes. Diese Freiheit zu haben hieß aber keineswegs, ständig frei zu haben. Dass wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. (...)" (Lindgren, A. 1977: Das entschwundene Land. Friedrich Oettinger Verlag, Hamburg. S. 34ff)
Als Lindgrens Mutter gestorben war, fuhr ihr Vater fort sie zu lieben und von ihr zu sprechen. „Er tat es noch, als er 94 Jahre alt war und heiter und zufrieden in seinem Bett in dem Pflegeheim lag (…). »Du, Kind, eine solche Mutter, wie du gehabt hast!«, sagte er, als ich ihn zum letzten Mal besuchte. Ja, ganz gewiss habe ich das! Und einen solchen Vater! Mit einem so treu liebenden Herzen, einem bis in den Tod liebenden Herzen! (…) Ich kann sie beide vor mir sehen. Dort oben in den himmlischen Wohnungen. (…) Und er hält ihre Hände, so wie er es immer getan hat, und sagt mit seiner liebevollen Stimme: »Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben`s schön.« Meine lieben Eltern! Euer Kind sendet euch hiermit seines Herzens demütigen und innigsten Dank für alles.“ (ebd., S. 38+39)


An nachfolgendem Zitat wird auch deutlich, wie Lindgren ihre eigenen Erfahrungen als Erwachsene weitergab und für diesen Erziehungsstil warb: "Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. (...) Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen auch Eltern Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und Kindern wünschen." (http://www.astrid-lindgren-zentrum.at/schule/lindgren.html)

Astrid Lindgren engagierte sich in ihrem Leben politisch gegen Krieg, gegen Kernkraftwerke, gegen zu hohe Steuern und arbeitete auch für den Tierschutz. Lindgrens Hauptsorge galt jedoch zeitlebens vor allem den von Erwachsenen bevormundeten und durch Krieg geängstigten Kindern dieser Welt. Als Mensch fällt sie durch ihre hohe Empathiefähigkeit, Fantasie und Kreativität, Durchsetzungsfähigkeit, Humor, Charme und Lebensfreude auf. Ihre Kindheit und ihr Leben sehe ich als großes Vorbild für eine menschlichere und friedlichere Zukunft.

siehe ergänzend zu diesem Beitrag auch Astrid Lindgrens Position "Niemals Gewalt"