Donnerstag, 26. Oktober 2017

Neue Öffentlichkeit für das Thema Sexismus und Gewalt gegen Frauen als Zeichen für Fortschritt

Derzeit herrscht - ausgelöst durch die Affäre Weinstein - eine ungewöhnlich lang anhaltende, breite, weitgehend ehrliche und offene Debatte über Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen.  Alle Medien durchzieht das Thema (der SPIEGEL machte das Thema gar aktuell zur Titelstory). Politikerinnen reden plötzlich offen über Übergriffe und Sexismus. Alte Vorfälle werden wieder aufgerollt. Selbst George H. W. Bush musste sich kürzlich für einen Übergriff und sexuelle Anzüglichkeiten rechtfertigen.

Ich habe zu dem Thema drei Anmerkungen.

1. Gut so! Sexismus und sexuelle Gewalt gehören breit thematisiert und müssen präventiv bekämpft werden.

2. Ich empfinde die aktuelle Welle der Berichterstattung als außergewöhnlich. Meine These ist, dass diese Welle etwas mit Fortschritt und einem generellen Befriedungprozess zu tun hat, nicht mit gesteigerten Fallzahlen von Übergriffen. Gewalt ist in der westlichen Welt immer mehr „out“ und Gewalttätern wird immer weniger Toleranz entgegengebracht. Der Aufschrei der Frauen zeugt auch von einem gestiegenen Selbstbewusstsein. Letzteres hat wiederum viel mit der Sozialisation und Entwicklung von Kindheit der letzten Jahrzehnte zu tun.

3. Gewalt gegen Frauen sinkt nachweisbar seit Jahren. Darüber wird leider öffentlich viel zu wenig berichtet.

Den letzten Punkt möchte ich etwas weiter ausführen:

Das KFN hat zwei große repräsentative Studien miteinander verglichen. Die eine Studie stammt aus dem Jahr 1992, die andere (noch größere, mit weit über 11.000 Befragten) aus dem Jahr 2011.

In der Zusammenfassung der Studie „Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland“ schreibt die Autorin Deborah F. Hellmann: „Seit 1992 hat sich das Risiko häuslicher Gewaltviktimisierungen unter den 23- bis 40-Jährigen deutlich verringert. Insgesamt ist ein Rückgang um fast 30 % zu verzeichnen. Besonders für Frauen hat sich das Risiko häuslicher Gewalt in diesem Zeitraum reduziert (um insgesamt 42 %) und für schwere Gewaltviktimisierungen ist eine besonders starke Reduktion zu verzeichnen.“ (S. 178+179) Und bzgl. sexueller Gewalt wurde zusammengefasst: „Während sich im Alterskohortenvergleich keine Unterschiede in der Fünfjahresprävalenz beobachten lassen, zeigt der Vergleich mit der Befragung von 1992, dass sich das Risiko sexueller Gewalt sowohl innerhalb als auch außerhalb von Haushalt und Familie (für die deutschstämmige weibliche Stichprobe) fast um die Hälfte reduziert hat.“ (S. 180) Nebenbei bemerkt zeigte die Studie sowohl im Vergleich zwischen 1992 und 2011, als auch bzgl. verschiedener Altersgruppen für 2011 einen deutlichen Rückgang von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.

Die Ergebnisse der KFN Studie und der Vergleich mit Daten aus dem Jahr 1992 wurde auch noch mal etwas vereinfacht aufgearbeitet von dem Kriminologen Christian Pfeiffer und Deborah F. Thoben: „Weniger Gewalt zu Hause gegen Frauen“ (Centaur 4 /2013) In dem Text weisen beide Autoren auch deutlich auf den Einfluss einer friedlicheren Erziehung auf den Rückgang der Gewalt gegen Frauen hin. 

Lesenswert ist ergänzend auch das Buch  "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" von Steven Pinker, Kapitel "Frauenrechte und der Rückgang von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt." (ab S. 584). Schaut man historisch weiter zurück (als Frauen noch Besitz waren), werden die Fortschritte bzgl. Frauenrechten überdeutlich. Aber auch die letzten Jahrzehnte zeigen einen eindrucksvollen Fortschritt. In den USA ist laut Pinker die jährliche Vergewaltigungsquote von 250 auf 100.000 Einwohner im Jahr 1973 auf 50 im Jahr 2008 gesunken. (S. 596) In Wirklichkeit dürfte, so Pinker, der Rückgang noch stärker sein, denn Frauen seien immer mehr bereit - als in früheren Jahren - Vergewaltigungen anzuzeigen. Ebenso sinken seit 1993 angezeigte Taten auf Grund häuslicher Gewalt. Das selbe gilt für England und Wales (S. 609+611)
Pinker zeigt auch eine grafisch aufbereitete Übersicht, die sich aus Umfragen ergibt. Diese zeigt eine seit 1970 stetig zunehmende positive und fortschrittliche Einstellungen gegenüber Frauen. (S. 599) Ebenso zeigen Befragungen, dass seit 1965 die Zustimmung zu der Frage, ob es richtig sei, wenn ein Mann seiner Frau eine Ohrfeige gibt, stetig sinkt. (S. 607)

Für die USA liegen außerdem eindrucksvolle Berichte der US-Regierung vor, die vor allem auch Dunkelfelddaten berücksichtigt haben und sehr aussagekräftig sind. Zwischen 1995 und 2010 ist die jährliche Quote von Vergewaltigungen/sexuellen Angriffen (inkl. Versuch) um 58 % gesunken, von 5 auf 1.000 Frauen auf 2,1 auf 1.000 Frauen. (U.S. Department of Justice (2013): Female Victims of Sexual Violence, 1994-2010) Interessant an diesem Bericht ist auch, dass grafisch ergänzend die Entwicklung von Anzeigen bei der Polizei bzgl. sexueller Gewalt dargestellt wurde (ebd., Figure 3, "Rape and sexual assault victimizations against females reported to police, 1995–2010"). Zwischen 2000 und 2003 gab es einen stetigen, starken Anstieg von Anzeigen. Bis 2005 gingen die Anzeigen wieder zurück, um dann bis 2008 wieder leicht anzusteigen. Diese Kurven entsprechen nicht dem stetigen Rückgang im Dunkelfeld, so dass hier eindrücklich gezeigt werden kann, wie vorsichtig man Hellfelddaten betrachten muss, denn gerade zwischen den Jahren 2000 bis 2005 war der Rückgang im Dunkelfeld am größten! (ebd., Figure 2, "Rape and sexual assault victimizations, by sex of victim, 1995–2010")

Ebenso ist häusliche Gewalt in den USA stark rückläufig. Und zwar um 63 % zwischen 1994 und 2012 oder jährlich 13,5 pro 1.000 Frauen im Jahr 1994 auf 5 pro 1.000 Frauen 2012. ( U.S. Department of Justice (2014): Nonfatal Domestic Violence,2003–2012 ) Die Gewaltkriminalität insgesamt war in diesem Zeitraum ähnlich rückläufig und zwar um 67 %, worauf die Autoren hinweisen.

In den USA sehr bekannte Gewaltforscher wie David Finkelhor zusammen mit Lisa Jones (Crimes Against Children Research Center (2012): "Have Sexual Abuse and Physical Abuse Declined Since the 1990s?")  haben zudem Daten zusammengetragen, die einen generellen und starken Rückgang von sexuellem Missbrauch von Kindern, Kindesmisshandlung, Kindestötungen, Vergewaltigungen sowie häuslicher Gewalt seit Anfang der 1990er Jahre aufzeigen.

Da diverse Studien einen starken Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Gewaltkriminalität gezeigt bzw. Sexualstraftäter massiv in ihrer eigenen Kindheit Misshandlungen, Vernachlässigung und Übergriffe erlebt haben und ergänzend Einzelstudien (siehe externen Link: "Childhood Corporal Punishment and Future Perpetration of Physical Dating Violence") einen signifikanten Zusammenhang zwischen erlebter körperlicher Gewalt in der Kindheit und späterem eigenen Gewaltverhalten in Beziehungen (sprich häuslicher Gewalt) gezeigt haben, destruktive Kindheitserfahrungen allerdings in der westlichen Welt seit einigen Jahrzehnten stark rückläufig sind und elterliche Zuwendung parallel zugenommen hat, ist dieser Fortschritt der Kindheit sicherlich einer der bedeutsamsten Faktoren (wenn nicht gar der bedeutsamste Faktor) auch für den allgemeinen Rückgang von Gewalt gegen Frauen.

Der Rückgang der Gewalt gegen Frauen hilft natürlich nicht all den Frauen, die aktuell Gewalt erleben oder erlebt haben. Trotzdem bin ich der Meinung, dass auch über den oben gezeigten Fortschritt berichtet werden muss.