Mittwoch, 23. Dezember 2020

Rückblick 2020 und Ausblick auf 2021

In meinem Anfang 2019 herausgebrachten Buch habe ich am Schluss formuliert, dass das ausgebreitete Thema für mich nun ein Stück weit ein Ende hat. 2019 und 2020 habe ich dann allerdings so viele Blogbeiträge veröffentlicht, wie lange nicht. Außerdem bin ich seit Anfang 2020 sehr aktiv bei Twitter und habe auch die Vorteile dieser Plattform schnell erfasst. 

Vor allem in den USA, in Großbritannien, aber mittlerweile auch zunehmend in anderen Teilen der Welt erreicht die sogenannte ACEsScience immer neue Höhen und Aufmerksamkeit. Sprich das Ausmaß von den „adverse childhood experiences“ (ACEs) wird in der Bevölkerung, aber auch in speziellen Populationen immer mehr ausgeleuchtet, und es werden Zusammenhänge zu diversen Problemlagen gefunden. Erst in diesem Jahr ist mir im Zusammenhang mit den ACE-Studien immer öfter das Wortpaar "trauma-informed" im englischsprachigen Raum aufgefallen:  trauma-informed society, trauma-informed schools, trauma-informed lawyers, trauma-informed  justice system, trauma-informed social work usw. In der Tat: Wir brauchen eine traumainformierte Gesellschaft in allen Bereichen. Nur wenn wir wirklich verstehen, können wir auch entsprechende Schrauben drehen. 

Steven Windisch und Kollegen haben 2020 den Text „Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists“ veröffentlicht. Das war für mich ein Highlight des Jahres, kommt doch dadurch in den USA der Fokus auf traumatische Kindheitserfahrungen als eine wesentliche Ursache für Terror und Extremismus mehr in den Blick. Ich bin sicher, dass dazu im englischsprachigen Raum weitere Forschungsprojekte folgen werden. Vielleicht traut sich ja auch ein renommierter Wissenschaftler, die Trump-Präsidentschaft unter diesen Gesichtspunkten zu analysieren? Das wäre zu begrüßen! 

Wo wir beim Thema sind: 2021 werde ich weiterhin versuchen, die aus Deutschland bekannten Extremismusstudien und ihre Ergebnisse weiter zu verbreiten (ich werde berichten, wenn mir dazu geplante Veröffentlichungen gelingen). Gepaart mit Informationen über einzelne Terroristen/Extremisten und gepaart mit den Informationen über die Kindheitshintergründe von 24 bekannten NS-Tätern, die ich mittlerweile recherchiert habe: Adolf Hitler, Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höss, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl, Werner Best, Odilo Globocnik, Robert Ley & Alfred Rosenberg.

Ich habe das Gefühl, dass die Welt im Aufbruch bzgl. „meines Themas“ ist (der Durchbruch wird aber noch etwas dauern!). Junge Wissenschaftler wie Steven Windisch (aber auch andere) bringen neue Impulse ohne Scheuklappen. Die jüngere Generation wird – wenn meine Thesen stimmen – weniger innere Widerstände bzgl. des Themas haben, gerade weil diese Generation als Kind weniger belastet wurde, als die Älteren. 

Bzgl. der Entwicklungen in Deutschland bin ich grundsätzlich weiterhin optimistisch. Nur folgendes macht mir Sorgen: Die massive Steigerung der Krippen-Betreuungsquote für Kinder 0-2 (mit all ihren möglichen Folgen in der Zukunft) und die – so sehe ich das in meinem Umfeld – „Verplanung von Zeit der Kinder“ durch Ganztagsbetreuung, Kurse, Förderung, Termine usw. Die Freiheiten, die wir Kinder der 1980er Jahre hatten, habe ich in guter Erinnerung. Wir brauchten auch keinen Termin bei Freunden (und deren Eltern) vereinbaren: wir trafen uns einfach, weil wir Zeit hatten und weil wir selbstständig draußen unterwegs waren. 

Für die Kinder hoffe ich sehr, dass nach dem Corona-Jahr 2020 irgendwann 2021 wieder mehr Normalität eintritt und sie wieder unbeschwert zur Schule gehen und ihre Freunde treffen können. 

In diesem Sinne: Frohe Festtage und ein hoffentlich gutes neues Jahr 2021. 


Freitag, 18. Dezember 2020

Zwei Beispiele für politische Radikalisierung aus meiner Schulzeit

Heute Nacht bin ich um ca. 3 Uhr aufgewacht und mir fielen zwei Beispiele für eine politische Radikalisierung aus meiner Zeit am Gymnasium ein. Damit ich heute nicht wieder aufwache (denn ich mag meinen Schlaf), schreibe ich die Geschichte lieber auf. 

Ich nenne meine beiden Mitschüler von damals „Lars“ und „Knut“. Mit beiden stand ich nicht all zu eng in Kontakt bzw. war nicht mit ihnen befreundet, außerdem anonymisiere ich ihre Namen. Insofern habe ich kein schlechtes Gewissen, diese Geschichte hier aufzuschreiben.  

Lars radikalisierte sich damals nach rechts und Knut nach links. 

Beginnen wir mit "Lars":

Lars war ein etwas pummeliger, unsportlicher junger Mann, der fanatischer HSV-Fan war. Er war ruhig, zurückhaltend und gab allgemein wenig von sich preis. Auf mich wirkte er auch sensibel. Richtig laut und aus sich rauskommend wurde er nur, wenn es um den HSV ging. In der Schule stand er etwas außerhalb. Ich würde ihn nicht direkt als Außenseiter bezeichnen, er lief halt einfach irgendwie mit und wurde wenig wahrgenommen. 

Der alleinerziehende Vater von Lars hatte eine hohe berufliche Position (und war damals in gewissen Kreisen auch prominent). Dies bedingte, dass der Vater oft wochenlang abwesend war. Eine Haushaltshilfe hielt die Wohnräume in Schuss. Ansonsten blieb Lars oft sich selbst überlassen. Über seinen Vater sprach er sehr distanziert, wenn er ihn überhaupt mal erwähnte. Dass sein Vater eine „wichtige Person“ war, erfuhr ich erst, als Lars sich damals etwas mit meinem damaligen besten Freund anfreundete und wir Lars dann auch mal zu Hause besuchten. Die Kehrseite des „alleine Seins“ war, dass Lars relativ viele Freiheiten genoss. Die Mutter von Lars war, meiner Erinnerung nach, irgendwie ein Tabu in der Familie. Sie war nicht da und über sie wurde nicht gesprochen. Lars war in meinen Augen ein sehr einsamer Jugendlicher. Die Trennung der Eltern hatte sich wohl schon in seiner Kindheit vollzogen. 

Lars kam dann durch den HSV mit rechten Hooligans in Kontakt. Es begann eine schleichende Radikalisierung. Seine Weichheit verschwand Stück für Stück. Er wurde nach außen härter und noch verschlossener. Allerdings kamen jetzt in Abständen plötzlich rechte Sprüche und stark antisemitische Äußerungen. Mein damaliger bester Freund distanzierte sich immer mehr von Lars (wie ich auch). Doch zum Geburtstagfeiern in einer Location wollte er Lars noch einmal einladen und nicht außen vorlassen. Lars kam dann aber nicht alleine, sondern mit ca. 4 seiner rechten Hooligan-Freunde, in der Hoffnung, dass es kostenlos Alkohol gab. Dies führte zum endgültigen Bruch mit ihm und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.   

Bei Lars kamen einige klassische Faktoren in der Sozialisation, die zu Radikalisierung führen kann, zusammen. Trennung der Eltern und offenkundige Vernachlässigungserfahrungen und Einsamkeit (wobei nicht klar ist, was er sonst noch alles in dieser Familie erlebt und erlitten hat) gepaart mit einem zurückhaltenden Charakter führten zu einem starken Bedürfnis nach einem Anschluss an eine Gruppe und einem Dazugehören bzw. Familienersatz. Dies fand er zunächst als fanatischer Fußballfan. Ich selbst war 2 oder 3 Mal als ca. 14 Jähriger (also Anfang der 1990er Jahre) bei HSV-Spielen dabei, weil ein Freund von mir Fan war. Damals standen unten in der Westkurve ganz offen die Nazis und Skins. Nach jedem Ruf aus der Kurve „Sieg!“ hallte es von unten „Heil!“ hinterher (oft inkl. Hitlergruß). Dies wurde damals ganz offensichtlich toleriert. Farbige Spieler der Gegner, die am Ball waren, wurden mit Affenlauten begleitet (und das nicht nur von den Nazis). Im Bus gab es von einzelnen Fans Gesänge, wie man dem Gegner eine Fahrt nach Ausschwitz wünschte. Manche Fans hatten auf dem Weg ins Stadion Reichskriegsflaggen dabei. Kurzum: Ich wurde kein HSV-Fan. (Ich habe mir von einem aktuellen HSV-Fan sagen lassen, dass dies heute natürlich nicht mehr so sei)

Mir blieb dieser rechte Block der Fans immer in Erinnerung, weil mir das damals sehr Angst machte. Und jetzt kam Lars mit seiner Vorprägung und seinem Wunsch nach Gemeinschaft und wohl auch Stärke. Er war immer im Stadion, bei jedem Spiel. Es erklärt sich von selbst, dass er auch Kontakt zu rechten Hooligans finden konnte und auch fand. Wäre Lars stattdessen z.B. St- Pauli Fan geworden, hätte er vermutlich keine rechte Gesinnung entwickelt, sondern evtl. eine linke. Zufälle und Lebensentscheidungen prägen uns Menschen und auch die Richtungen, die wir einschlagen. Für mich steht aber ohne Zweifel fest: Hätte Lars Wärme und Zuspruch in seiner Familie erlebt (was offensichtlich nicht der Fall war), dann wäre er nicht in die politische Radikalität abgedriftet.


Kommen wir jetzt zu Knut, bei dem die Hintergründe ganz ähnlich waren:

Sein Vater war Vorstandmitglied einer großen Firma (inkl. Mercedes S-Klasse und bei Bedarf Chauffeur). Entsprechend war der Vater häufig abwesend. Bei Knut hatte ich keine vertiefenden Einblicke in die Familie, aber ich erinnere genau seine tiefe Abneigung gegen seinen Vater. Er hasst seinen Vater zutiefst und auf der anderen Seite hegte er auch ein Stück weit Bewunderung für ihn und wünschte sich Anerkennung, die er aber nicht bekam. Ich erinnere mich auch an eine Situation, in der Knut kurz in diese Bewunderung gegenüber seinem Vater einschlug oder ihn entschuldigen wollte. Seine Schwester zischte ihn dann an: „Du weißt, dass Papa ein Arschloch ist!“  

Knut baute sich Stück für Stück eine sehr linke und radikale Identität auf. Er war sehr extrovertiert und jeder in der Schule kannte ihn. Er war durch und durch politisch und radikal. In seine Kleidung baute er dann auch Punkelemente ein. Er lehnte den Staat ab. Er fing stark an zu trinken und traf sich für Saufgelage mit seinen ebenfalls radikalen Freunden. Für mich gipfelte das Ganze in einer Deutschstunde. Knut formulierte in dieser Stunde laut seine Thesen über die Welt und äußerte direkt, wie sehr er Menschen hasste und diese als lästig empfand (seine genaue Wortwahl kann ich nicht erinnern, er bezog sich dabei auch auf irgend einen radikalen Denker). Die Reaktion des Deutschlehrers hat mich damals sehr beeindruckt. Er war wirklich sehr emotional berührt. Er strafte Knut nicht ab, sondern äußerte seine echte Sorge und sein Unverständnis für diese Weltsicht. Knuts Vater (der ja für einen neoliberale, kapitalistische Weltsicht stand), wurde natürlich auch politisch zum Feindbild für Knut. Umgekehrt war es wohl genauso: Der Vater lehnte die radikal linke Sicht des Sohnes ab und ging noch mehr auf Distanz.  

Später traf ich Knut zufällig in einem Bus in Hamburg. Er hatte in den USA an einer Eliteeinrichtung studiert. Von seiner linken Ausrichtung war nichts geblieben, wohl aber seine Radikalität. Er berichtete stolz von seinem beruflichen Werdegang. Er sei jetzt Manager und wäre für das Entlassen der Mitarbeiter zuständig, was echt Spaß machen würde. Seine Formulierung war dabei ziemlich deutlich und war gepaart mit Wichtigtuerei und Sadismus. 

Beide Akteure sind meines Wissens nach nicht gewalttätig geworden. Wobei ich das auch nicht ausschließen könnte. Wären sie gewalttätige Extremisten geworden, dann hätte mich dies nicht gewundert. Das meine ich so. Es soll nicht bedeuten, dass ich ihr Verhalten entschuldigt hätte. Aber: Ich kannte beide. Ich hatte Einblick in ihre Familie und in ihre innere Unruhe, ihr „aus-der-Bahn-geworfen-Sein“, ihre innere Radikalität und ihr Bedürfnis nach Feindbildern. 


Freitag, 11. Dezember 2020

Kindheit des Rechtsterroristen und Massenmörders Brenton Tarrant


Nur wenige Tage nachdem der Rechtsterrorist Brenton Tarrant einen Massenmord in Christchurch (Neuseeland) an vorwiegend muslimischen Menschen verübt hatte, schrieb ich einen Beitrag über seine Kindheit. Ich mahnte, dass wir in Bezug auf Tarrants Satz in seinem Manifest „I had a regular childhood, without any great issues“ vorsichtig sein sollten. Bereits Anders Breivik (Vorbild für Tarrants Tat) hatte seine Kindheit in seinem Manifest idealisiert, obwohl er nachweisbar eine extrem traumatische Kindheit hatte. 

Am 08.12.2020 wurde der „Report: Royal Commission of Inquiry into the terrorist attack on Christchurch masjidain on 15 March 2019“ online veröffentlich (aktualisiert wurde der Report am 10.12.) 

Im „Chapter 2: The individual’s upbringing in Australia“ finden sich einige Details über Tarrants Kindheit und Familie, die mir vorher nicht bekannt waren. In meinem Text aus dem Jahr 2019 äußerte ich bereits die Vermutung, dass weitere Belastungen in seiner Kindheit zu finden sein werden. Seine Tat war derart kalt, grausam und im Grunde unvorstellbar, so etwas tun Menschen nicht, nur weil sie Trennungskinder sind und in der Schule gemobbt wurden. Da musste mehr passiert sein. 

Das für mich wichtigste neue Detail ist, dass Tarrants Mutter nach der Trennung von ihrem Mann (wobei der genaue Zeitraum der Trennung nicht klar ist; Brenton soll zwischen 7 und 10 Jahre alt gewesen sein) mit einem gewalttätigen Partner zusammenkam! 

Brenton und seine Schwester lebten nach der Trennung der Eltern zunächst bei ihrer Mutter. Brentons Mutter sagte nach der Tat ihres Sohnes aus, dass ihre Kinder durch die Trennung der Eltern, aber auch durch den Verlust ihres Hauses durch einen Brand und den Tod des Großvaters traumatisiert wurden (vgl. S. 168). Das Verhalten ihres Sohnes hätte sich nach der Trennung stark verändert, er sei vor allem sehr ängstlich geworden (Brenton selbst sagte ebenfalls aus, dass er ein sehr ängstliches Kind gewesen sei).  Vermutlich wird nicht nur die Trennung Auslöser für die starken Ängste gewesen sein, denn der neue Partner der Mutter war gewalttätig, sowohl gegen die Kinder als auch gegen die Mutter:
That relationship was violent, with the new partner assaulting Sharon Tarrant and the children. An apprehended violence order was taken out against his mother's partner to protect the individual. Lauren Tarrant, and later the individual, went to live with their father“ (S. 168).
Für Brenton Tarrant bedeutete dies gleich zwei belastende Kindheitserfahungen: Selbst erlittene Gewalt und das Miterleben von häuslicher Gewalt gegen Mutter und Schwester. Dies sind traumatische Erfahrungen für ein Kind. 

Ab dem 12. Lebensjahr habe Brenton laut Aussagen seiner Schwester stark an Gewicht zugenommen, was ihn zur Zielscheibe für Mitschüler machte. Er wurde in der Folge in der Schule gemobbt und hatte kaum soziale Kontakte oder Freunde. Bereits ab ca. den 6. oder 7. Lebensjahr verbrachte Brenton viel Zeit mit Computerspielen. Als Kind hatte er auch einen unkontrollierten Zugang zum Internet in seinem Zimmer. Er verbrachte immer mehr Zeit im Internet oder mit Computerspielen, was man wohl als Flucht vor der Realität deuten kann. Die Eltern scheinen hier nicht eingegriffen und Alternativen angeboten zu haben. Insofern deute ich dies auch als ein Zeichen für elterliche Vernachlässigung (wobei das Wort Vernachlässigung in dem Bericht nicht erwähnt wird). 

Als Brenton ca. 16 oder 17 Jahre alt war, wurde Krebs bei seinem Vater diagnostiziert, was auch die Kinder, die ja aus der mütterlichen Wohnung zu ihrem Vater geflohen waren, schwer belastete. Der Vater wurde zudem depressiv. „After the diagnosis Rodney Tarrant became increasingly depressed and his children did not cope well“ (S. 169). Die Gesundheit des Vaters verschlechterte sich so weit, dass er Palliativpflege brauchte. Im April 2010 brachte sich der Vater um (Brenton muss zu der Zeit ca. 20 Jahre alt gewesen sein). Brenton soll den leblosen Vater entdeckt haben und er schein evtl. auch in die Suizidabsichten des Vaters eingeweiht gewesen zu sein. Die Vermutung steht laut dem Report im Raum, dass Brenton seinen Vater beim Selbstmord unterstützt hat. Fest steht, dass der Tod des Vaters eine große Belastung für Brenton war. 

Die psychische Situation von Brenton Tarrant wird an einer Stelle recht gut zusammengefasst:
As the individual grew older, he told his sister that he thought he was autistic and possibly sociopathic. He also said that he did not care for people, including his own family, but knew that he should. His friendships with those outside his family were limited and we have seen no evidence that the individual was involved in sustained romantic or sexual relationships“ (S. 170). 

Die Belastungen in Kindheit und Jugend werden auf Grundlage dieses Berichts mehr als deutlich. Für mich steht weiterhin die Frage im Raum, wie der Erziehungsstil der biologischen Eltern war. Haben auch sie (manchmal) Gewalt angewandt? Waren sie liebevoll und zugewandt oder das Gegenteil davon? Wir wissen es nicht. 

Was für sich fest steht ist, dass die Mutter-Sohn-Beziehung einen schweren Bruch erlitten hat. Sie war es, die einen gewalttätigen Mann in ihrem Haus gewähren ließ. Sie selbst erlitt Gewalt und ihre Kinder gleichfalls. Aus unserer erwachsenen Perspektive wissen wir um all die Schwierigkeiten, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen haben. Viele dieser Frauen haben auch als Kind selbst Gewalt erlitten (ob dies auch bei Brentons Mutter so war?). Solche Partner einfach rauszuschmeißen fällt diesen betroffenen Frauen, die ja oftmals auch massiv eingeschüchtert werden, nicht immer leicht. Kinder aber können die Situation nicht neutral erfassen und bewerten. Für sie ist es immer ein mütterlicher Verrat, wenn die Mutter keinen Schutz vor der Gewalt ihres Partners leisten, geschweige denn sich selbst schützen kann. So etwas hinterlässt immer tiefe Risse in der Beziehung zueinander. 

Abschließend noch der Hinweis, dass derartige Taten in der Regel von Männern verübt werden (von 172 vom „The Violence Project“ untersuchten Massenmördern in den USA waren nur 3 weiblich!). Frauen haben eher andere Wege, um solche kindlichen Belastungen auszudrücken (z.B. Selbstverletzung, Misshandlung der eigenen Kinder, psychosomatische Beschwerden usw., was im Übrigen auch für viele belastete Männer gilt, denn die meisten von ihnen werden keine Massenmörder). Traditionelle Männlichkeitsbilder und entsprechende Strukturen tragen sicher ihren Teil dazu bei, dass Massenmorde Männersache sind. Die Welt ist komplex und viele Einflussfaktoren müssen in Betracht gezogen werden. Aber: Der Fall Brenton Tarrant zeigt – mal wieder – eindrucksvoll auf, dass als Kind geliebte, gewaltfrei und fürsorglich behandelte Menschen keine Massenmörder werden. Der Fall zeigt aber auch auf, dass Prävention nicht nur bedeutet, solche Belastungen für Kinder zu verhindern, sondern auch, dass psychosoziale Hilfen greifen müssen, wenn Kinder solchen Belastungen ausgesetzt sind. Wer weiß, wenn Brenton Tarrant frühzeitig Hilfen bekommen hätte, vielleicht wäre all das Grauen dann nicht passiert. Das ist eine von vielen Lektionen, die wir aus diesem Fall ziehen können. 


Donnerstag, 10. Dezember 2020

7 (Kindheits-)Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen

Ich habe einen sehr interessanten Text gefunden, in dem systematisch die familiären Hintergründe von 7 ehemaligen Rechtsextremisten bzw. rechten Akteuren beleuchtet werden. Solche Texte findet man höchst selten! Destruktive Kindheitserfahrungen fallen mehrheitlich sehr ins Auge, sind aber nicht bei allen Akteuren eindeutig nachweisbar.  

Meine Quelle: Gary, S. & Kaufmann, F. (Hrsg.) (2020):  Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen und ihr Einsatz in pädagogischen Settings. Ein Werkstattbericht 2.0. CJD Hamburg. 


Heidi Benneckenstein (Ex-Neonazi) (über sie hatte ich auch schon einen Blogbeitrag verfasst):
in die rechtsextreme Szene hineingeboren; Trennung der Eltern, als sie 9 Jahre alt war; autoritärer Erziehungsstil des Vaters und väterliche Gewalt gegen die Kinder; Erziehung im Sinne von Leistungs- und Wettkampfsgedanken; „Verlierer“ wurden mit Ausgrenzung bestraft

Maximilian Kelm (Ex-Neonazi): im Grunde keine Infos über seine Kindheit. 

Johannes Kneifel (ehemaliger rechter und gewalttätiger Skinhead):
Aufwachen in widrigen Verhältnissen; Mutter leidet an Multipler Sklerose und ist bereits in Kneifels früher Kindheit stark eingeschränkt; Vater ist seit einem Unfall in seiner Jugend nahezu blind;  beide Elternteile sind arbeitslos; prekäre ökonomische Umständen;  Kneifel empfand Scham über die familiäre Situation; durch die Einschränkungen seiner Eltern bekam er nicht die elterliche Aufmerksamkeit, die er brauchte; die Eltern setzen kaum Grenzen und vermeiden Konflikte; elterliche Wertschätzung erhält er wenig; Johannes fühlt sich als Außenseiter und hat Schwierigkeiten, Freunde zu finden; mit 13 Jahren plagen ihn Selbstmordgedanken; die älteren Schwester meldet irgendwann die Familie beim Jugendamt, welches in der Folge auch familiäre Defizite feststellt; der 14-jährige Johannes wird zunächst in eine Jugendpsychiatrie eingewiesen, danach kommt er in ein Internat. 

Philip Schlaffer (Ex-Rechtsextremist):
Das Verhältnis zu seiner Familie in der Jugendzeit, insbesondere zu seinem Vater, beschreibt er als angespannt“ (S. 44). Als Bruch in seinem Leben empfindet er den Umzug der Familie nach England und später wieder zurück nach Deutschland;  später auf einer Gemeinschaftsschule fühlt er sich als Außenseiter; keine Details über Kindheit und Erziehungsstil der Eltern. Er betont in seinen Videos, dass er eine „normale“ Familie hatte, eine“ glückliche Kindheit“. Dies widerspricht den vorherigen Feststellungen. Bereits im Alter von 14 Jahren begann sein Einstieg in die rechte Szene. 

Franziska Schreiber (ehemals AfD-Mitglied):
in Dresden in einem „bunten, linken Haushalt“ aufgewachsen (S. 58); kein Details über ihre Kindheit. 

Christian E. Weißgerber (Ex-Neonazi):
Mutter floh auf Grund der Gewalttätigkeit ihres Mannes aus der Familie; Gewalt des alleinerziehenden Vaters bestimmte die Familie und richtete sich gegen die Kinder; Schwester holte sich Hilfe beim Jugendamt und wurde aus der Familie geholt; Christian blieb aus Mitleid beim Vater und war weiter der Gewalt ausgesetzt. 

Timo F. (Ex-Neonazi; Infos aus einem autobiografischen Roman):
„Seine Biographie ist geprägt von Gewalt, Beziehungsabbrüchen, dysfunktionalen Familienstrukturen (auf verschiedenen Ebenen) und dem beständigen und sich aus den genannten Faktoren speisenden (und selten erfüllten) Wunsch nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Anerkennung“ (S. 82). Zitat aus dem Buch: „Ich fühlte mich unendlich alleine auf der Welt. Ein störender Fremdkörper in ihrer kleinen glücklichen Familie. Wie diese fetten Brummer, die immer so lästig um einen herumschwirrten und bei denen man froh war, wenn sie irgendwann tot auf der Fensterbank lagen. Ich war der Brummer“ (S. 82). Mutter wechselt häufig die Partner und die Familie zieht häufig um. Timos Urgroßvater (bei dem die Mutter einen Großteil ihrer Kinderund Jugendzeit verbracht hat) war ehemalige Angehörigen der (Waffen-)SS und blieb von der Einstellung her auch ein Nazi. Prägung durch diese Einflüsse; auch Timos Mutter war rechts eingestellt.


Mittwoch, 9. Dezember 2020

Prostitution: Sind belastende Kindheitserfahrungen von Freiern auch eine Ursache dafür?

Bereits im Jahr 2013 schrieb ich in einem Blogbeitrag, der sich auf das Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen von Prostituierten konzentrierte: „Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.“

Vielleicht gibt es dazu mittlerweile Studien (über Hinweise würde ich mich freuen)? Ich habe nicht die Kapazität, große Recherchen dazu zu unternehmen. Allerdings fand ich schon damals eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Freiertum nahe legt.

Ich schrieb damals am Ende des eingangs verlinkten Beitrags (mit Bezug auf die erwähnte Studie): „Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie.“

Ich möchte dieses Thema heute erneut aufgreifen.

Wieder ist es so, dass die Studienlage eher indirekte Hinweise bezogen auf die These liefert, dass belastende Kindheitserfahrungen mit „Sexkauf“ in einem Zusammenhang stehen. Aber diese Hinweise sind ziemlich deutlich und sollten zu weiteren direkten Forschungen führen.

In sogenannten „adverse childhood experiences“-Studien wurde herausgefunden, dass erhöhte Belastungen in der Kindheit (Misshandlungs-/Missbrauchsserfahrungen, Vernachlässigung, suchtkranke Elternteile usw.) mit einem Anstieg von sexuell riskanten Verhalten (z.B. viele Sexualpartner, früher Sex in Jugend, Sex ohne Kondom) in einem Zusammenhang stehen. (z.B. „Adverse childhood experiences andsexual risk behaviors in women: a retrospective cohort study“ + „Early Adversity and Sexual Risk in Adolescence: Externalizing Behaviors as a Mediator“ + „Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results from a population-based sample“) Warum das so ist, ist eine andere Frage. Da der Gang zu Prostituierten auch als „sexuell riskantes Verhalten“ bezeichnet werden kann, nehme ich an, dass diese Ergebnisse auch auf Freier übertragen werden können.

Eine Studie möchte ich dabei besonders hervorheben: Anderson, K. G. (2017): Adverse Childhood Environment: Relationship With Sexual RiskBehaviors and Marital Status in a Large American Sample. Evolutionary Psychology, April-June 2017: 15(2), 1–11.
17.530 Männer and 23.978 Frauen aus 13 US-Staaten im Alter zwischen 18-54 Jahren wurden dafür befragt. Innerhalb der Studie wurden auch diverse andere Studien besprochen, die Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und sexuell riskantem Verhalten sowie einer frühen geschlechtlichen Reifung fanden. Wichtiger aber noch ist die Fragestellung der Studie. Denn eine Frage beinhaltete bezogen auf eine potentielle AIDS-Erkrankung das riskante Verhalten bezogen auf die letzten 12 Monate vor der Befragung: intravenöser Drogengebrauch, Behandlung auf Grund einer Geschlechtskrankheit, bezahlen oder bezahlt werden für Sex oder Analverkehr ohne Kondom.

Leider wurde der Punkt „für Sex bezahlt oder bezahlt werden“ nicht gesondert aufgestellt, aber er war immerhin enthalten. Das Ergebnis ist recht eindeutig: Für Männer erhöhte jeder einzelne ACE-Wert (insgesamt 7 ACE-Werte) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Für Frauen erhöhten jeweils 5 ACE-Werte (u.a. Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Insofern lässt sich aus den Ergebnissen der Studie schließen (wenn auch mit einigen Beschränkungen), dass belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Bereich Prostitution insgesamt („Sexkauf“ oder für Sex bezahlt werden) in einem Zusammenhang stehen. (ganz ähnlich aufgebaut - mit der gleichen Fragestellung bezogen auf das, was als sexuell riskantes Verhalten definiert wird - war auch die bereits oben verlinkte Studie Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results froma population-based sample“ + die Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung!)

Abschließend noch ein Gedanke: Wer sich allgemein mit den Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst, wird schnell darauf stoßen, dass diese Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten (inkl. häuslicher Gewalt gegen Frauen), verminderte Empathie und Moralvorstellungen, selbstschädigendes Verhalten, (Selbst-)Hass usw. erhöhen. Dass diese „Schablone“ auch auf Freier angewendet werden kann, ist mehr als naheliegend! Hat doch ihr Verhalten viel mit dem Ausblenden von Realitäten (dem Leid von Prostituierten), Hass, Bedürfnis nach Macht (oder bzgl. Sado Maso Fantasien auch mit inszenierter Ohnmacht), Kontrolle, Demütigungen von anderen Menschen, fehlender Selbstachtung und fehlender Moral zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass das wissenschaftlich erwiesene hohe Ausmaß von leidvollen Kindheitserfahrungen von Prostituierten nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite beinhaltet höchst wahrscheinlich kindliche Ohnmachtserfahrungen der Freier, Zuhälter und Menschenhändler. Das soll deren Verhalten nicht entschuldigen, erklärt aber, wie man Prostitution präventiv verhindern kann: Mehr Kinderschutz und mehr Fürsorge und gute Lebensbedingungen für Kinder!

Freitag, 4. Dezember 2020

Kindheit von Robert Mugabe

Simbabwes langjähriger Regierungschef und Diktator Robert Mugabe erfüllt einige Punkte, die mir immer wieder bei Diktatoren aufgefallen sind: 

  1. Er ist männlich, denn eine Diktatur zu führen, war und ist in patriarchalen Gesellschaften stets Männersache. Als Führer verkörperte er nach außen traditionelle Männlichkeitsvorstellungen von absoluter Stärke und Entschlossenheit, sowie Härte im Kampf gegen seine „Feinde“. 
  2. Er war hoch intelligent und verbrachte bereits als Kind die meiste Zeit damit zu lesen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. 
  3. Er hatte eine sehr enge (aber keine gesunde) Mutterbeziehung, die Tendenzen von emotionalem Missbrauch und einer „Muttersöhnchen-Konstellation“ aufweist (siehe dazu auch das Buch „Muttersöhne“ von Volker Elis Pilgrim, dessen These ist, dass dies die entscheidende Gemeinsamkeit von Diktatoren und Massenmördern ist. Meine Recherchen über diverse Diktatoren stützen diese These. Ich halte aber auch weitere Belastungen in der Kindheit von großer Bedeutung und ebenfalls auch die Rolle der Väter). Und: Die Mutter hatte hohe Erfolgserwartungen gegenüber ihrem Sohn. 
  4. Er war als Kind vielfachen Belastungen ausgesetzt, die sich zu einem „Gesamttraumapaket“ kumulierten. 

Alle diese 4 Punkte fand ich oftmals bezogen auf Diktatoren bestätigt (siehe u.a. in meinem Buch)! 


Kommen wir jetzt zu Mugabes Kindheit:

Meine Quelle dafür ist: Holland, Heidi (2009): Dinner With Mugabe: The untold story of a freedom fighter who became a tyrant. Penguin Books, Johannesburg (South Africa). Kindle-E-Book Version. 

Robert erlebte als Kind den Tod zwei seiner älteren Brüder. Einer davon, Michael, war der Liebling der Familie. Nach Michaels Tod verließ der Vater die Familie und heiratete später erneut. Robert war zum Zeitpunkt dieser Trennung 10 Jahre alt und entwickelte in der Folge einen tiefen Hass gegen seinen Vater. Roberts Mutter wurde nach der Trennung von ihrem Mann depressiv (wobei Holland auch eine Quelle zitiert, nach der die Mutter schon VOR der Trennung und dem Verlust von 2 Kindern psychisch angeschlagen war. An einer Stelle im Buch – Seite 5 - spekuliert sie entsprechend auch, ob Robert von seiner belasteten Mutter als Baby vernachlässigt worden sein könnte). 

Robert war ein schüchternes, sensibles Kind, das jetzt zum mütterlichen Favoriten wurde. Er stützte seine Mutter, begleitetet sie täglich zur christlichen Messe und versuchte, seine Mutter glücklich zu machen (diese Geschichte gleicht übrigens fast 1zu1 den Kindheitserlebnissen von Francisco Franco). Gleichzeitig hatte die Mutter hohe (Leistungs-)Erwartungen an ihren Sohn Robert; sie trieb ihn an, viel zu lernen. Aber sie strafte ihren Sohn auch körperlich, wie Roberts Bruder Donato berichtet:
If his mother smacked him, Robert must thank her for correcting him; that's what she believed. (…) She smacked him maybe thrice and he thanked her every time. The other children used to tease him and he became lonely“ (S. 4) Diese mütterliche Gewalt in Kombination mit dem „Bedanken“ dafür durch ihren Sohn ist schon bemerkenswert. Hier wurde offensichtlich erfolgreich die kindliche Wahrnehmung verdreht! Erlittene Schmerzen und Demütigungen wurden „dankend“ entgegengenommen, denn Mutter konnte es ja nur zum „Wohle des Kindes“ tun, damit er seine Lektionen lernt…

Nach außen beschützte seine Mutter ihren Liebling dagegen vor jedem, auch den eigenen Geschwistern. Robert war indes ein Einzelgänger, der sich oft zum Lesen zurückzog. Seine Favoritenrolle bei seiner Mutter und auch dem Geistlichen vor Ort machte ihn zur Zielscheibe von Gleichaltrigen und seinen Geschwistern, die ihn gnadenlos hänselten (vgl. S. 6). 

Auf Seite 11 schreibt die Autorin kurz, dass Robert Mugabe eine „traumatische Jugend“ hatte. Dem ist im Grunde nichts weiter hinzuzufügen. Wie so oft bleibt mir nur anzumerken, dass als Kind wirklich geliebte und umsorgt aufgewachsene Kinder später keine Diktatoren werden.

(Abschließend noch der Hinweis auf den Länderreport über Simbabwe (von der Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children) und die dortigen Gesetze zum Thema Gewalt gegen Kinder + Studien zum aktuellen Ausmaß der Gewalt in dem Land. In dem Land sind Körperstrafen gegen Kinder u.a. in der Familie und Schule weiterhin legal!)


Donnerstag, 3. Dezember 2020

Islamistischer Terror - Die Kindheit von Arid Uka

Arid Uka verübte am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland (Mordanschlag auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen). Über seine Kindheit liegen mittlerweile einige Erkenntnisse vor: 

Mit seiner Geburt im Kosovo im Jahr 1990 einige Jahre vor dem Ausbruch des Kosovokrieges, nach der Scheidung seiner Eltern und der Auswanderung des Vaters nach Deutschland begann eine schwierige Kindheit. Arid Uka folgte als Säugling dem Vater nach Deutschland und verbrachte die ersten drei Lebensjahre ohne Mutter. Die Lebensverhältnisse normalisierten sich erst nach dem fünften Lebensjahr mit der Wiederheirat der Eltern und der Familienzusammenführung in Deutschland. In relativer Armut lebte die Familie mit drei Kindern in einem Stadtteil von Frankfurt am Main, der jahrelang als sozialer Brennpunkt galt“ (Ben Slama, B. (2020): Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. In: Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.): Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich - Phänomenübergreifend. Bundeskriminalamt (Polizei+Forschung, Band Nr. 54), S. 338).
Als Arid 17 Jahre alt war, verschlechterte sich die wirtschaftlich eh nicht einfache Situation der Familie nachdem der Vater schwer erkrankte. Arids Orientierungskrise (auch in der Schule brachen seine Leistungen ein) verschärfte sich dadurch. Im familiären Umfeld gab es kaum Unterstützung. Seine Zuwendung zum Islam begann in dieser Zeit. 

Ein weiteres, schweres Trauma kam in der Kindheit hinzu: „Bezüglich des Vergewaltigungsvideos (Anmerkung Sven Fuchs: Auslöser für seine Morde sei seinen Angaben zu Folge gewesen, dass er zuvor im Internet ein Video über die Vergewaltigung muslimischer Frauen durch US-Soldaten gesehen habe) gab Herr Leyggraf an, die starke persönliche Reaktion des Angeklagten sei durch ein eigenes Missbrauchserlebnis zu erklären. Der Angeklagte habe ihm erzählt, dass er als 6-7jähriger im Park von einem älteren Mann missbraucht worden sei.“ (INTERNATIONAL RESEARCH AND DOCUMENTATION CENTRE WAR CRIMES TRIALS, 19. Dezember 2011: Monitoring Report Nr. 8 Strafverfahren gegen Arid U.)

Das Missbrauchserlebnis im Park war offensichtlich traumatisch. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass ein solches Einzelerlebnis nicht ausreicht, damit ein Mensch zum terroristischen Mörder wird. Ein Kind, das sicher in seiner Familie aufwächst und fürsorglich/gewaltfrei behandelt wird und dem so etwas passiert, wird auch traumatisiert, ja. Aber die (Entwicklungs-)Grundlage wäre eine ganz andere! In der frühen Kindheit von Arid Uka deuten sich dagegen schwere Konflikte der Eltern an. Und er wurde von der Mutter jahrelang getrennt. Wie der Vater mit dem Säugling und Kleinkind umging ist nicht klar. Auch über den mütterlichen Erziehungsstil erfahren wir nichts. Der Mutter war es ja versagt, eine Bindung zum Kind aufzubauen. Auf ihren Sohn traf sie erst, als er 3 Jahre alt war. Ich vermute, dass in den ersten Lebensjahren einiges passiert sein muss. Dieser schwierige Start ins Leben kumulierte mit der sexuellen Missbrauchserfahrung. Häufig findet sich bei Extremisten genau das: Mehrfachbelastungen in Kindheit und Jugend. Ein Kind muss viel erleben und erleiden, damit der Hass wächst.