Freitag, 29. April 2022

Kindheit von Katharina II., die Große (Russland, 1729-1796)

Katharina II., die Große wurde am 02.05.1729 geboren (Geburtsname: Sophie Auguste Friederike). Auch ihre Kindheit umfasste, ähnlich wie bei den anderen Zaren, die ich bisher analysiert habe, viele Belastungen.

Erzieherische Qualitäten besaß Katharinas Mutter nach dem Zeugnis ihrer Tochter kaum. Sie hatte sich ebenso wie ihr Gemahl als erstes Kind einen Sohn gewünscht und war sehr enttäuscht, als es ein Mädchen war. `Meine Mutter wäre bei meiner Geburt fast gestorben und schwebte noch lange nachher zwischen Tod und Leben`. Sie `kümmerte sich nicht viel um mich. Sie schenkte anderthalb Jahre nach mir einem Sohn das Leben, den sie abgöttisch liebte. Ich war nur geduldet und wurde oft hart und heftig gescholten, und nicht immer gerecht, ich fühlte das, ohne mir jedoch über meine Empfindungen schon ganz klar zu sein`“ (Donnert 1998, S. 15). 

Dass ihre Mutter bei der Geburt fast starb, könnte ergänzend auch ein Hinweis auf Belastungen für den Säugling sein. Wie die Geburt genau ablief, wird nicht beschrieben. Katharinas Mutter - Johanna Elisabeth, geb. 24.10.1712 – war zum Zeitpunkt von Katharinas Geburt nur sechzehn Jahre alt! Aus heutiger Sicht würden wir von einer „Teenager-Schwangerschaft“ sprechen, die oftmals mit Risken verbunden ist. Dass die Jugendliche, die im Alter von fünfzehn Jahren (zwangs-)verheiratete worden ist, kaum Muttergefühle entwickeln konnte, ist nachvollziehbar. 

Die Entfremdung von Mutter und Kind wurde in den hohen Gesellschaftsschichten der damaligen Zeit allerdings auch routinemäßig durch die Strukturen und Traditionen betrieben. Für den Säugling war selbstverständlich eine Amme zuständig, „die junge Frau eines Soldaten“ (Cronin 2006, S. 15). Die Mutter konnte und sollte sich nach der Geburt anderen Dingen zuwenden. 

Katharina selbst hat in ihren Aufzeichnungen den schwedischen Diplomaten Gyllenborg zitiert, der ihre Mutter bzgl. der Vernachlässigung gegenüber der Tochter mahnend etwas auf den Weg gab:
Er sah, dass meine Mutter mich nicht sehr beachtete und sagte eines Tages zu ihr: `Madame, Sie kennen dieses Kind nicht (…) ich bitte Sie darum, sich mehr mit dem Mädchen zu beschäftigen als bisher. Ihre Tochter verdient das in jeder Hinsicht`“ (Donnert 1998, S. 19). 

Zum Mutterersatz wurde Katharinas Erzieherin: „Sichtliche Zuneigung brachte die kindliche Sophie, die wohl kaum wirkliche Mutterliebe erfahren haben dürfte, ihrer Erzieherin, der Französin Mademoiselle Cardel entgegen, der sie mit dem vierten Lebensjahr anvertraut wurde“ (Donnert 1998, S. 16).
Aber auch andere Erzieher waren für das Kind zuständig, darunter war der Pfarrer Wagner.
Den Kirchenmann Wagner hat Katharina in weniger guter Erinnerung behalten: als einen langweiligen Pedanten, deutschen Griesgram und gestrengen Pastor, der langatmige Ermahnungen verteilte, seine Schülerin mit Abfragen schikanierte und dabei nie eine Chance hatte, diese von seinen Ansichten zu überzeugen. (…) Anders als die französische Gouvernante hatte sich Wagner sogar erlaubt, die nicht selten störrische Prinzessin zu züchtigen“ (Donnert 1998, S. 17). Das Kind erlebte also auch Körperstrafen.
Dies wird auch von einer anderen Quelle bestätigt: „Kaplan Wagner war ein strenger Zuchtmeister, der lange Stellen in der Heiligen Schrift rot unterstrich und sie Sophie auswendig lernen ließ. Wenn sie ein Wort verfehlte, schlug er sie“ (Cronin 2008, S. 16f.). Auch Drohungen mit Körperstrafen gehörten zu Wagners Erziehungsmitteln dazu (Cronin 2008, S. 18). 

Von ihrem Kinderzimmer aus konnte Katharina die Orgel der Kirche hören. „Abends dachte sie über Pastor Wagners grimmige Ermahnungen nach, über das Jüngste Gericht und die mühevolle Aufgabe, für die Erlösung zu arbeiten. Dazu dröhnte die Orgel; es war zu viel für ein kleines Mädchen, und oft brach sie in Tränen aus“ (Cronin 2008, S. 17). Zur Hilfe kam ihr manches Mal ihre französische Gouvernante, ein gewisser Ausgleich im Angesicht des Leids. 

Als Katharina sieben Jahre alt war, starb ihre jüngere Schwester Auguste Christine Charlotte; als Katharina dreizehn Jahre alt war, starb ihr jüngerer Bruder Wilhelm Christian Friedrich; als sie sechszehn Jahre alt war, starb ihre jüngste Schwester Elisabeth Ulrike im Alter von drei Jahren. Am Leben blieb nur ihr Bruder Friedrich August. Wie sie mit dem Tod dieser drei Geschwister umgegangen ist, konnte ich den Quellen nicht entnehmen. Es wird auf jeden Fall eine schwere Belastung für sie gewesen sein. 

Ab dem Alter von sieben Jahren kam für Katharina auch noch schwere gesundheitliche Probleme hinzu. Sie bekam zunächst einen schweren Husten und lag nur auf der linken Seite. Als sie wieder aufstehen konnte, waren ihre Wirbelsäule und Schulter schief. „Schließlich entschloss man sich, den Stettiner Henker, der sich auf die Behandlung solcher Fälle verstand, heranzuziehen“ (Donnert 1998, S. 15). Sie bekam eine Art Schnürbrust an, die sie Tag und Nacht für anderthalb Jahre nicht ablegen durfte. Erst als sie zehn oder elf Jahre alt war, war sie dieses lästige „Gerüst“ endgültig los. Ein anderer Biograf beschreibt es so: „Mit diesem käferartigen Panzer auf dem Leib schleppte sich die arme Sophie monatelang durch das Schloss, ohne dass eine nennenswerte Besserung erfolgte. Es war eine Lehre in Demut und Geduld" (Cronin 2008, S. 19). 

Als Katharina vierzehn Jahre alt war, wurde beschlossen, sie mit dem späteren Zaren Peter III. zu verheiraten (die Heirat fand allerdings erst statt, als Katharina sechszehn Jahre alt war).  Sie musste nun die Reise nach Russland antreten. Während ihrer Reise traf sie in Stettin noch kurz ihren Vater: „Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah“ (Donnert 1998, S. 24).
Der Vater und sein Umgang mit seiner Tochter wird in den Quellen im Grunde nicht erwähnt. An einer Stelle zeigt sich allerdings, dass auch er streng gewesen sein wird: „Sophie war streng erzogen worden. Sie pflegte ihre Briefe an den Vater mit Sätzen zu beenden, die mehr waren als bloße Floskeln: `Bis an das Ende meines Lebens, mein Herr, werde ich Sie hochachten und verehren, und ich verbleibe als Euer Durchlaucht demütige, gehorsame und ergebene Tochter und Dienerin`“ (Cronin 2008, S. 44).

Es zeigen sich diverse Belastungen in der Kindheit der Zarin, die nicht ohne Folgen geblieben sein werden. 


Quellen:

Cronin, V. (2008). Katharina die Große. Piper Verlag, München.

Donnert, E. (1998). Katharina II. die Grosse (1729-1796). Kaiserin des Russischen Reiches. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. 



Donnerstag, 28. April 2022

Kindheit von Peter I., der Große (Russland, 1672 - 1725)

Peter I., genannt "der Große",  wurde am 9. Juni 1672 als Sohn von Zar Alexei I. und dessen zweiten Frau Natalja Naryschkina geboren. 

Kurz nach seiner Taufe wurde der Säugling Peter „von seinem kleinen Gefolge in seine Privaträume gebracht – eine Amme (…), eine Gouvernante und eine Gruppe von Zwergen, die den Zarenkindern als Diener und Spielgefährten zugewiesen waren. Als Peter zwei Jahre alt war, zogen er und sein Gefolge, zu dem inzwischen vierzehn adelige Frauen gehörten, in eine größere Wohnung innerhalb des Kremlpalastes um“ (Massie 1982, S. 29). 

Das Kind wurde also von Beginn an von seinen Eltern entfremdet und von diversen Bediensteten aufgezogen, ein übliches Vorgehen in hohen Kreisen nicht nur in Russland. Die vielen Zuständigen lassen an sich schon erahnen, dass keine wirkliche Bindung mit einer Hauptbezugsperson möglich war. Für das Kind wird das nicht folgenlos geblieben sein. 

Die Zarenfamilie bekam noch eine Tochter hinzu. Ein drittes Kind starb kurz nach der Geburt (ebd. S. 31). Am 08.02.1676 starb der Zar, Peters Vater. Peter war zu der Zeit drei Jahre alt. „Damit hörte das unbeschwerte Daseins Peters auf. Jetzt war er der potentielle störende Abkömmling der zweiten Frau seines verstorbenen Vaters“ (ebd. S. 31). Zunächst aber wurde der fünfzehnjährige Fjodor III. Thronfolger, der Peters Halbbruder war. Das Pendel der Macht war somit zurück zu der Familie der ersten Frau von Alexei I. – den Miloslawskis - zurückgeschwungen. 1682 starb Fjodor III. und der erst zehnjährige Peter wurde sein Nachfolger. Die offizielle Regentin war seine Mutter Natalja. 

Kurz danach brach ein Aufruhr der sogenannten Strelitzen (bewaffnete Fußsoldaten, Pikoniere und Musketiere, die u.a. den Kreml bewachten) aus. Sie waren schon vorher unzufrieden mit ihrer Behandlung durch höher Gestellte und wurden teils auch gezielt von Mitglieder der Miloslawskis-Familie gegen die Naryschkinas (Peters Linie) aufgestachelt. Schließlich behauptetet man, dass die Naryschkinas den Zarewitsch Iwan (aus der Linie der Miloslawskis) ermordet hätten und weiteres Unheil anrichten würden. 

Die wütenden Soldaten stürmten in den Palast. Die Mutter von Peter versuchte die Soldaten zu beruhigen, indem sie ihnen mit Peter und Iwan an der Hand entgegentrat, um zu zeigen, dass Iwan am Leben war. „Für Natalja war es eine schreckliche Aufgabe, sich mit ihren Söhnen den brüllenden, bewaffneten Männern zu zeigen, die das Blut ihrer Familie forderten“ (ebd. S. 47). Zunächst gelang die Beruhigung. Später schlug die Stimmung um, der erste Adlige wurde ermordet bzw. „in Stücke gerissen, ringsherum war alles mit Blut bespritzt“ (ebd. S. 49).
Ungehindert rannten nun die Strelitzen im Kreml durch die offiziellen Räume und die Privatgemächer (…) und schrien nach dem Blut der Naryschkins und der Bojaren. Die erschreckten Bojaren bangten um ihr Leben und ergriffen die Flucht. (…) Nur Natalja, Peter und Iwan blieben zurück, zusammengekauert in einer Ecke des Bankettsaals. Für die meisten gab es kein Entkommen. Die Strelitzen schlugen Türen ein (…). Stießen mit ihren Lanzen in jede dunkle Ecke (…). Diejenigen, die sie aufstöberten, wurden zur Roten Treppe geschleift und über die Balustrade geworfen. Die Leichen zerrte man vom Kreml hinunter (…) auf den Roten Platz, wo man sie auf eine immer höher wachsende Pyramide verstümmelter Körper warf“ (ebd. S. 49).
Als die Nacht hereinbrach, legten die Soldaten eine Pause ein. „Die im Kreml zurückgeblieben Angehörigen der Zarenfamilie verbrachten eine Nacht des Schreckens“ (ebd. S. 50). Am nächsten Morgen ging das Grauen weiter. Peter und seine Familie blieben allerdings weiter unentdeckt. Der ganze Aufruhr konnte erst beendet werden, als die Soldaten den verhassten Bruder von Peters Mutter in die Hände bekamen, ihn folterten und schließlich auf dem Roten Platz zerrten. Man hackte ihm Hände und Füße ab und zerstückelte ihn schließlich komplett (ebd. S. 52). Danach herrschte wieder Ruhe und die Zarenfamilie konnte sich wieder ihres Lebens sicher sein. 

Für den zehnjährigen Peter war dies eine lebensbedrohliche Situation und ganz gewiss eine hoch traumatische Erfahrung. „Den Aufstand der Strelitzen sollte Peter sein Leben lang nicht vergessen. Im Herzen trug er fortan einen unversöhnlichen Hass (…).“ (ebd. S. 55). Als er siebzehn Jahre alt war erlitt er einen Schock, nachdem er angenommen hatte, die Strelitzen würden anrücken und ihm nach dem leben trachten (eine Fehlannahme). „Sieben Jahre lang hatte er Alpträume, in denen die Strelitzen die Naryschkins zu Tode hetzten“ (ebd. S. 93). 
Troyat (1990, S. 36) fasst Peters Kindheit wie folgt zusammen: "Seit seinen ersten Schritten war er in Greueln und Gewalttaten gewatet, der Anblick der Wunden und der Leichname wurde zu einer Begleiterscheinung seiner Kindheit."

Während seiner weiteren Kindheit und Jugend entwickelte Peter einen starken Hang zu Kriegsspielen aller Art, in die auch Untergebenen involviert wurden. Um sich herum sammelte er immer mehr junge Knaben (einige hundert) und organisierte sie militärisch (inkl. Unterbringung in Kasernen). Echte Waffen wurden besorgt, kleine Forts errichtet usw. und vor allem Krieg gespielt (ebd. S. 69ff.). 

Als Peter siebzehn Jahre alt war, wurde er in die Ehe mit einer drei Jahre älteren Frau gezwungen (ebd. S. 75). Diese Ehe verlief sehr unglücklich und er hatte eine schlechte Beziehung zu seiner Frau. 

Über den Erziehungsstil oder sonstige traumatische Erfahrungen konnte ich in dieser Quelle nichts finden. Allerdings fand ich in einer anderen Biografie folgende Schilderungen:
Peter hat als Erzieher gewirkt und sich als Erzieher empfunden. Gegen Ende seines Lebens (1723) sagte er einmal: ´Unser Volk gleicht den Kindern, die sich niemals ans ABC machen, wenn sie nicht vom Meister dazu gezwungen werden´. (…) Widersetzlichkeit, Untreue, Unredlichkeit weckten einen Grimm, bei dem er sich selbst vergaß. Mit grausamsten Strafen hat er Unterschlagungen geahndet (…). Die Nächststehenden züchtigte er in stiller Kammer eigenhändig mit dem Stock, auch die höchsten Würdenträger (…). Oder auch er ließ sie am frühen Morgen kommen und in seiner Gegenwart einen nach dem anderen mit Ruten streichen. Er konnte gelegentlich hinwerfen, man solle ihm ebenso gehorchen wie seine Hündin (…)“ (Wittram 1954, S. 32)
Peters eigener erwachsener Sohn Alexej kam  "infolge einer unmenschlichen Auspeitschung, die sein eigener Vater angeordnet hatte" ums Leben (Cronin 2008, S. 37). Schon vorher hatte der Zar seinem Sohn Alexej und auch dessen Mutter Angst eingeflößt. Als Alexej acht Jahre alt war, verbannte der Vater die Mutter in ein Kloster. Der Sohn wurde in der Folge von einer Tante und von Hauslehrern aufgezogen (Troyat 1990, S. 211ff.). Es gibt Erzählungen und Vermutungen, dass Alexej im Rahmen der Folter auch von seinem Vater geschlagen wurde. Troyat (1990, S. 259f.) hält dies für "(...) durchaus möglich. Nach dem Knüppel die Peitsche. Der Zar hat die Arbeit des Henkers nie gescheut."

Solche Verhaltensweisen lassen zumindest deutlich erahnen, dass Peter selbst als Kind körperlich bestraft wurde und dies später wieder-aufführte. Ergänzend mögen sie auch Ausdruck seiner traumatischen Erfahrungen als Zehnjähriger sein: Nicht er will mehr Angst vor seinen Untertanen haben, sondern sie sollen ihn fürchten. 

Auch weitere Verhaltensweisen von Peter legen den Schluss nahe, dass sie in einem Zusammenhang mit seinen traumatischen Kindheitserfahrungen während des Aufstands stehen. Der Zar Peter I. behielt trotz einer gewissen westlichen Ausrichtung "eine barbarische Grausamkeit, die bei keinem anderen europäischen Monarchen denkbar gewesen wäre. Als er wieder einmal im Ausland war, rebellierte die Moskauer Garde; Peter eilte zurück, ließ 1700 Gardisten langsam über dem Feuer rösten, bis sie ein ´Geständnis` ablegten, und schlug eigenhändig mit der Axt vierhundert Meuterern die Köpfe ab" (Cronin 2008, S. 36).  

Die Besprechung weiterer Grausamkeiten des Zaren würden hier wohl den Rahmen sprengen. Eine davon möchte ich abschließend noch erwähnen:
Peter kehrte einmal mitten in der Nacht unvermutet nach Petersburg zurück. Im Vorzimmer fand er den Kammerherren William Mons de la Croix nicht vor, dieser befand sich im Zimmer der Zarin. William wurde bald darauf wegen anderer "Delikte" angeklagt und gestand unter der Folter alles mögliche. Katharina schwieg. "Nach der Verurteilung und Enthauptung Williams schleppte Peter seine Gattin an die Stätte der Exekution, er forschte in ihrem Antlitz und lauerte auf ein Beben, eine Träne, ein Erschauern, vermochte aber kein Anzeichen einer Gemütsbewegung zu entdecken. Er ging noch weiter, indem er das Haupt des Toten in einer Schüssel auf den Kaminsims ihres Schlafzimmers stellen ließ. Doch bald erregte dieser grausige Kaminschmuck Peters Enkel, während Katharina weder Abscheu noch Verzweiflung zu erkennen gab" (Olivier 1963, S. 11). 


Quellen: 

Cronin, V. (2008). Katharina die Große. Piper Verlag, München. 

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

Olivier, D. (1963). Elisabeth von Rußland. Die Tochter Peters des Grossen. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin / Stuttgart.

Troyat, H. (1990). Peter der Grosse. Zar - Reformer - Despot. Wilhelm Heyne Verlag, München. 

Wittram, R. (1954). Peter der Grosse. Der Eintritt Russlands in die Neuzeit. Springer Verlag, Berlin/Göttimngen/Heidelberg. 


Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit

In dem Buch „Peter der Grosse und seine Zeitvon dem Historiker Robert Massie fand ich aktuell einige wirklich sehr eindrucksvolle, erschreckende und interessante Passagen über die häusliche Welt und die Rolle von Frauen in der russischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Den Bezug zum heutigen Russland kommentiere ich im Schlussteil. 

In der damaligen Vorstellung „wurden Frauen als naive, hilflose, nicht übermäßig intelligente Wesen angesehen, ohne moralischen Verantwortungssinn, mit leidenschaftlichem Hang zur Promiskuität. Die puritanische Vorstellung, dass schon in jedem kleinen Mädchen das Böse lauerte, beeinflusste die russischen Menschen bereits seit ihrer Kindheit.“ (Massie 1982, S. 36)

In besser gestellten Familien durften Kinder verschiedenen Geschlechts niemals miteinander spielen. Die heranwachsenden Töchter hielt man hinter Schloss und Riegel und „unterrichtete sie im Gebet, in Gehorsam und in Handarbeiten“ (ebd. S. 36). 

Gewöhnlich wurde ein Mädchen schon in der frühen Pubertät einem Mann versprochen, den sie nie zuvor gesehen hatte. (…) Wenn sich alle einig waren, wurde die junge Tochter, das Gesicht hinter einem Schleier aus Leinen versteckt, vom Vater dem zukünftigen Ehemann vorgestellt. Der Vater nahm dann eine kleine Peitsche, schlug seiner Tochter damit leicht auf den Rücken und erklärte: `Sieh, du Liebling unter den Töchtern, dieser letzte Schlag gemahnt dich an die väterliche Gewalt, unter deren Zucht du bisher gelebt hast, jetzt wirst du aus meiner Hand entlassen; bedenke, dass du nicht so sehr der Gewalt entronnen als in eine andere übergegangen bist. Wenn du deinem Gatten nicht den Willen tust, wie du es schuldig bist, wird er es dich statt meiner merken lassen.` Daraufhin übergab der Vater dem Bräutigam die Peitsche, der, entsprechend dem Brauch, äußerte, `dass er die Peitsche nicht für nötig erachte`. Er nahm sie aber gleichwohl als ein Geschenk seines Schwiegervaters an und band sie sich an seinem Lederriemen fest“ (ebd. S. 37).

Danach folgten die Hochzeitszeremonien. „Später, während die Gäste sich zur Tafel begaben, gingen die Jungverheirateten sogleich ins Bett. Zwei Stunden standen ihnen zur Verfügung, dann wurden die Türen des Hochzeitszimmers aufgerissen, und die Gäste scharrten sich um das Paar, um zu erfahren, ob der Ehemann die ihm Anvertraute noch unberührt vorgefunden hatte“ (ebd. S. 37). 

Die junge Frau besaß keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In bezug auf letzteres empfahl er, `ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen`. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, `indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei  er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen`. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. `Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt`, schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (ebd. S. 38).
Der Autor beschreibt auch, dass manche Frauen zurückschlugen und ihre Männer umbrachten. Das sei aber selten vorgekommen, weil die Strafen für die Frauen sehr grausam waren: Sie wurden bis zum Hals in die Erde eingegraben und gingen langsam und jämmerlich zugrunde.  

Der Ehemann durfte dagegen nach der Tötung seiner Frau wie beschrieben neu heiraten und sein Leben leben. Die Kirche gestatte dem Mann insgesamt drei Eheschließungen. Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. 

Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (ebd. S. 39). 

Am meisten jedoch, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort auch „transgenerationales Trauma“). Nun ist es sicherlich so, dass im 17. Jahrhundert auch in Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog: Z.B. herrschte die Leibeigenschaft sehr viel länger in Russland vor, ebenso die hohen Raten von Analphabeten. Das restliche Europa entwickelte sich dagegen schneller: "Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25).
Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen  (d'Encausse 1998, S, 18). 

In einer parlamentarischen Anfrage (europäisches Parlament) vom 2. März 2017 heißt es:
Präsident Putin hat das Gesetz über häusliche Gewalt erlassen, mit dem häusliche Gewalt in Russland entkriminalisiert wird. Ungeachtet der von den russischen Gesetzgebern vorgebrachten juristischen Argumenten für eine Angleichung von Strafen sind wir der Auffassung, dass in diesem Fall von einer Angleichung nach unten das Signal einer toleranten Haltung gegenüber der Misshandlung von und Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeht. In Russland werden jedes Jahr 14 000 Frauen von ihren Partnern getötet, und die Zahl der Straftaten in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt ist in den vergangenen Jahren weiter angestiegen.“ 

Im Magazin „AMNESTIE!“ vom Februar 2006 (herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion) wird unter dem Titel "Häusliche Gewalt. «Privatsache» Auch in Russland" formuliert. „Anlässlich einer Meinungsumfrage im Jahr 2003 gaben rund 40 Prozent der männlichen und weiblichen Befragten an, dass Schläge durch den Ehemann je nach den Umständen gerechtfertigt seien. Die Mehrheit betrachtete erzwungenen ehelichen Sexualverkehr nicht als Straftat. (…) «Gewalt ist unser Schicksal», davon sind viele Frauen in Russland überzeugt. Und der Staat unternimmt kaum etwas, um das zu ändern. In der Russischen Föderation gibt es kein Gesetz gegen Gewalt in der Familie, sie wird als «private Angelegenheit» betrachtet. (…). 70 Prozent der Frauen in Russland erleben laut einer Studie mindestens einmal in ihrer Ehe Gewalt.“ 

Es ist für mich ganz und gar deutlich, dass das Hier und Jetzt in Russland mit seiner grausamen (unverarbeiteten) Vergangenheit in Verbindung steht. Das meine ich natürlich in Bezug auf Gewalt innerhalb von Familien, aber auch in Bezug auf politische Gewalt und Krieg. Eine Gesellschaft, die seit Jahrhunderten in ihren kleinsten Einheiten (den Familien) Terror, Gewalt, Gehorsam und Unterwerfung gewohnt ist, ist auch anfälliger für blinden Gehorsam im politischen Raum, für Mitläufertum, Kriegsbegeisterung, Identifikationen mit starken Führern, Gleichgültigkeit und Täterschaft. Insofern betone ich hier erneut: Die Probleme in Russland sind nur langfristig wirklich zu lösen, indem die Familie und vor allem auch Kindheit Stück für Stück befriedet und demokratisiert wird. 

Leider ist die Realität so, dass die unzähligen russischen Soldaten, die aktuell für Gewalt, Terror und Gräueltaten verantwortlich sind, die Kriegsgewalt auch wieder mit nach Hause tragen werden. Traumatisierte Soldaten sind keine guten Väter und Ehemänner! Noch dreht sich also der Kreislauf der Gewalt in Russland. Das ist tragisch, aber nicht unveränderbar.


Quellen:

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München. 

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.


siehe ergänzend auch den Blogbeitrag "Kindheit in Russland"

Dienstag, 26. April 2022

20. Jahrestag vom Amoklauf von Erfurt und mein Bekannter, der sich als 18-Jähriger umgebracht hat

Ich erinnere mich heute, am 20. Jahrestag der Amoktat von Erfurt, an einen Bekannten von mir aus der Schulzeit. Er war der feste Freund meiner damaligen besten Freundin. Über die Kindheit von Robert Steinhäuser (dem Amoktäter von Erfurt), habe ich natürlich versucht zu recherchieren, fand aber fast nichts. Offensichtlich haben die Familienmitglieder kaum Einblicke gegeben. 

Mein damaliger Bekannter hat sich umgebracht, als er ca. 18 Jahre alt war… 

Kaum jemand hätte dies vorher für möglich gehalten. Er war sehr beliebt. Er war aber auch ein eher ruhiger Mensch, der vieles mit sich ausmachte. Als er alle Tabletten geschluckt hatte, rief er noch seinen besten Freund an, unterhielt sich, wurde immer müder, nahm auf seine Art Abschied. Niemals hätte dieser Bekannte eine Amoktat verübt, er war gänzlich zu keiner Gewalt fähig. Wohl aber gegen sich selbst. 

Sein Vater war ein reicher Architekt. Sein Sohn sollte in eine ähnliche Richtung gehen, das hatte der Vater beschlossen! Mein Bekannter hatte nicht viel Spaß an der Schule und er hatte auch keine hohen Ziele. Sein Traum war es, Maurer zu werden. Für den Vater undenkbar! 

Die Eltern lebten getrennt. Über seine Mutter sprach mein Bekannter gar nicht. Sein Vater kontrollierte alles. Ein Innenarchitekt hatte das Jugendzimmer meines Bekannten eingerichtet. Wir alle fanden das „cool“. Ein solches Zimmer hatte keiner von uns. Für meinen Bekannten hatte das Zimmer keinen Wert, es war nicht seins, er hatte dort kaum etwas bestimmt und gestaltet. In seinem Zimmer wirkte mein Bekannter wie ein Fremdkörper. 

Was genau alles in dieser Familie passiert ist, vermag ich nicht zu sagen. Eines war klar: Dem Bekannten wurde die Luft zum freien Atmen genommen. 

Auf der Trauerrede sprach der Pastor die Verantwortung des Vaters sehr deutlich an. Ich nahm das damals mit gemischten Gefühlen auf. Dieser Vater hatte ein Recht darauf, sich in diesem Moment zu verabschieden und zu trauern. Im Raum stand ein Stück weit eine Anklage, vor weit über 300 Menschen. Auf der anderen Seite war dieser offene Umgang eine Wohltat, so empfanden wir alle es, weil wir wussten, wie kalt und kontrollierend dieser Vater war. 

Dieser Vater wollte seinen Sohn gewiss nicht in den Selbstmord treiben. Aber es stimmt, er hatte seinen Anteil und damit muss er leben.  

Auch die Eltern von Robert Steinhäuser wollten ganz gewiss nicht, dass ihr Sohn eine solche Tat begeht. Falls sie irgendwann die Kraft und den Willen aufbringen, wünsche ich mir mehr Klarheit und Offenheit. Wie sah die Kindheit von Robert aus? Wie war die Bindung zwischen den Familienmitgliedern? Wie war die Familienatmosphäre? 

Antworten schulden wir den Opfern und Hinterbliebenen. 


Telefonseelsorge Hotline:

0800 1110111


Freitag, 22. April 2022

Studie: Erziehungsnormen/Kindheit und rechtsextreme Einstellungen

Es ist immer wieder erstaunlich, was für „Schätze“ sich finden lassen, wenn man lange genug „gräbt“. Nachfolgende Studie habe ich kürzlich durch einen Hinweis in einem Buch gefunden. Vorher ist mir die Studie nirgends aufgefallen, entsprechend scheint sie weitgehend in der „Schublade“ der Wissenschaft/Extremismusforschung verschwunden zu sein. Dabei bringt diese Studie (ähnlich wie die Nachfolgestudie, die ich hier im Blog bereits besprochen habe) wichtige Erkenntnisse zwischen dem Zusammenhang von Kindheitserfahrungen und rechtsextremen Einstellungen:

Utzmann-Krombholz, H. (1994). Rechtsextremismus und Gewalt: Affinitäten und Resistenzen von Mädchen und jungen Frauen. Ergebnisse einer Studie. Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Düsseldorf. 

Zwischen dem 25.08.1993 und dem 06.10.1993 wurden repräsentativ für Nordrhein-Westfalen 1.045 deutsche Jugendliche im Alter zwischen 14 und 24 Jahren befragt. 

Erfreulich ist, dass mehr als 80 % der Befragten angaben, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. 

Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, verbunden mit Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft, fand man bei 8 bis 10 % der Jugendlichen, von diesen sind drei Viertel männlich.  

Neben dem wichtigen Einflussfaktor Geschlecht fand man auch starke Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und rechtsextremen Einstellungen: 

Auffallend ist die überraschend stringente Beschreibung der Kindheitserfahrungen. Danach gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen einer strengen Erziehung, zu der auch Schläge gehöhrten, und einem rechtsextremen Einstellungsmuster. Diese Jugendlichen hatten nach ihrem Empfinden keine glückliche Kindheit, sie fühlten sich mit ihren Problemen alleine gelassen und von ihren Eltern vernachlässigt. Die Eltern verstanden sich nicht gut, hatten keine Zeit für ihre Kinder, aber man wahrte den äußeren Rahmen, in dem man sehr viel Wert auf gute Manieren legte (…). Sie sind im hohen Maße verunsichert und haben starke Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Über ihr Leben entscheiden andere, sie selbst haben wenig Einfluss auf die Gestaltung ihres Lebens. (…). Dieses Gefühl von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit lässt sie nach einem festen Rahmen suchen, `Zusammenhalt` ist für sie der wichtigste Wert (…) “ (S. 34f.). 

Im Anhang finden sich auch Zahlen bzgl. dem Extremwert „stimme voll und ganz zu“ (S. 111f.):

„Ich hatte eine glückliche Kindheit“: 32 % aller Befragten, 11 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Wenn ich Probleme hatte, dann waren meine Eltern für mich da“: 35 % aller Befragten, 15 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Meine Eltern hatten nicht viel Zeit für mich“: 10 % aller Befragten, 28 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Meine Eltern verstanden sich ausgesprochen gut“: 23 % aller Befragten, 9 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich habe mich als Kind oft einsam gefühlt“: 5 % aller Befragten, 13 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Wenn ich etwas angestellt habe, dann gab es schon mal Ohrfeigen“: 11 % aller Befragten, 20 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich wurde als Kind oft geschlagen“: 4 % aller Befragten, 10 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich wurde ziemlich streng erzogen“: 9 % aller Befragten, 29 % der rechtsextrem Eingestellten.


Donnerstag, 21. April 2022

Kindheit von Zacarias Moussaoui

Zacarias Moussaoui erklärte vor Gericht, dass er eigentlich für das Terrornetzwerk al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus habe lenken sollen, allerdings kam er vorher in Haft.  Er gilt als Helfer für die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA und wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Über seine Kindheit habe ich bereits in meinem Buch kurz berichtet (nachfolgend der kurze Auszug). Seine in Marokko aufgewachsene Mutter heiratete seinen erheblich älteren Vater im Alter von vierzehn Jahren. Später, als die Familie in Frankreich lebte, verließ sie mit ihren Kindern ihren Mann; Zacarias war da drei Jahre alt (Auchter, T. (2012): Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte. Psychosozial Verlag, Gießen, S. 236). Seine Schwestern sagten vor Gericht aus, dass Zacarias von seinem Vater misshandelt wurde. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe die Familie terrorisiert (Focus-Online 2006, Arzt hält Moussaoui für paranoid). Die Mutter sei, so eine Gutachterin vor Gericht, auch während all ihrer Schwangerschaften von ihrem Ehemann misshandelt worden. Zacarias kam mehrmalig in Waisenhäusern unter (Reihnische Post-Online 2006, Moussaoui hatte angeblich schwere Kindheit). Aber auch seine Mutter war autoritär und dominant. Und sie schlug ihre Kinder (Auchter 2012, S. 237).

Nun habe ich die Zeit gefunden, eine weitere, sehr eindrucksvolle Quelle für seine Kindheit zu sichten:

"Zacarias Moussaoui, mein Bruder" von Abd Samad Moussaoui (2002, Pendo Verlag, Zürich)

Seit Jahren recherchiere ich über die Kindheiten von Extremisten, Terroristen und Gewalttätern. Dass der Bruder eines solchen Täters ein ganzes Buch schreibt, in dem ausführlich und ganz offensichtlich auch ohne Scheukappen die Familiengeschichte und destruktive Kindheitssituation beschrieben wird, ist wohl einmalig (selten schreiben Familienmitglieder von Tätern Bücher. Und dann kommt eher etwas heraus wie „Liebe ist nicht genug - Ich bin die Mutter eines Amokläufers“ von Sue Klebold, was – wie der Titel schon zeigt – eher wenig Erhellendes über die Kindheit der Täter zu Tage bringt, sondern wohl eher der Entlastung der Mutter dienen soll…).

Die Mutter (Aischa) der Brüder hatte bereits eine schwierige Kindheit. Ihr Vater starb 1953, da war Aischa sieben Jahre alt. Ihre Mutter war zu der Zeit kaum vierzig Jahre alt und hatte nun alleine fünf Kinder zu versorgen, ohne dass ihr Mann ihr Geld hinterlassen hätte (Moussaoui 2002, S. 16). Die Mutter konnte nicht alle ernähren. Aischa wurde zu einem Cousin gegeben und musste dafür dort im Haushalt helfen. „Wie ihre Geschwister auch wuchs Aischa also ohne Vater auf. Schon sehr früh dachte sie nur an eines: nichts wie weg. Als sie vierzehn Jahre alt war, lernte Aischa meinen Vater kennen, Omar Moussaoui“ (S. 17). Die Verwandten erzählten später, Aischa hätte unbedingt so früh heiraten wollen. Die Version von Aischa selbst war eine andere: „Unsere ganze Kindheit über hat Aischa uns gegenüber behauptet, sie wäre gegen ihren Willen mit vierzehn verheiratet worden. Nach der Hochzeit brachte meine Mutter nacheinander zwei Kinder zur Welt, die sehr bald starben. Als sie siebzehn war, kam Nadia auf die Welt, meine älteste Schwester“ (S. 17). Ein weiteres Mädchen folgte. Die Familie zog dann nach Frankreich. Die beiden Brüder wurden in Frankreich geboren, als die Mutter Aischa Anfang 20 war. 

Zacarias war der Jüngste. Drei Jahre nach seiner Geburt ließen sich seine Eltern scheiden. Die Mutter begründete dies mit der Gewalttätigkeit ihres Mannes (S. 19). Die Mutter zog mit den Kindern nach Mulhouse, wo sie Arbeit gefunden hatte. „Kaum waren wir in der elsässischen Stadt angekommen, steckte unsere Mutter uns ins Waisenhaus (…). Plötzlich standen wir also ohne Vater und ohne Mutter da. An diese düstere Zeit unserer Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen, aber sie sind furchtbar“ (S. 19). Aischa kam während dieser Zeit ca. einmal die Woche zu Besuch, aber sie nahm die Kinder nie mit zu sich.
Eines Tages nahm sie ihre Kinder dann allerdings wieder bei sich Zuhause auf. Aischa arbeitete von früh bis spät. „Zu Hause trat meine Schwester Nadia, die damals zwölf Jahre alt war, im Haushalt an ihre Stelle. Sie kaufte ein, kochte, putzte und kümmerte sich um uns. Abends machte sie uns zu essen, morgens half sie uns beim Anziehen. Und wir hatten uns still zu verhalten, sonst setzte es was“ (S. 22). Hier deuten sich also auch Körperstrafen seitens der älteren Schwester an (!) und natürlich wird die mütterliche Vernachlässigung überdeutlich

Später zog die Familie erneut um, diesmal in ein sogenanntes „Problemviertel“. Die Jungs wurden dort offensichtlich des Öfteren in Prügeleien verwickelt. Von manchen Nachbarn wurden sie außerdem rassistisch beleidigt. Die Wohnung war sehr klein, so dass sich das Leben für die Kinder vor allem draußen abspielte. „In der Wohnung war es nicht lustig. Meine Mutter kümmerte sich nicht um uns, sie hatte immer etwas anderes zu tun. Es wäre illusorisch gewesen, von ihr auch nur ein liebevolles Wort oder eine zärtliche Geste zu erwarten, sie war dazu nicht in der Lage. Mit meinen Schwestern hatte sie immer Krach, obwohl sie enorm viel leisteten“ (S. 24). 

Manchmal versuchte der Vater, die Kinder zu besuchen. Die Mutter hatte ihre Kinder allerdings so sehr vor dem Vater gewarnt, dass sie oft wegliefen, wenn er sie sehen wollte. Die Mutter hatte ergänzend gedroht, dass sie nicht mehr ihre Mutter sein werde, wenn sie mit dem Vater mitgehen würden (S. 25). Der Vater stellte schließlich seine Besuchsversuche ein. Später erfuhren die Kinder, dass ihr Vater eine Zeit im Gefängnis gesessen hatte, was sie zutiefst schockierte (S. 53).

Schließlich trat auch ein Stiefvater ins Leben der Kinder. Er störte wohl nicht, blieb aber recht unsichtbar. Die Dominanz in der Familie übte die Mutter Aischa aus. Sie war auch sehr kontrollierend und manipulativ. Und sie war gewalttätig: „Um uns zu bestrafen, wurde nicht selten ein Teppichklopfer zweckentfremdet“ (S. 29). Zuhause gab es oft „Ärger, Geschrei und Schläge“ (S. 30). 

Zwischen der Mutter und ihrer Tochter Jamila eskalierten die Konflikte schließlich so weit, dass Aischa ihre Tochter in ein Internat schickte. (Jamila wurde später depressiv und bulimisch, außerdem versuchte sie, mit Hilfe einer Sozialarbeiterin in einem Heim unterzukommen, was nicht gelang: S. 50)  Abd Samad wurde ebenfalls das Internat angeboten. Er wollte seine Lieblingsschwester nicht alleine gehen lassen und ging mit. Unter der Woche waren die Geschwister nunmehr voneinander getrennt. „Mein Weggang machte Zacarias traurig, denn für ihn war es ein wenig so, als würde ich ihn im Stich lassen“ (S. 33). Zacarias war nach dem Wegzug seiner Geschwister den „häuslichen Gewittern“ nun noch stärker ausgesetzt. Er versuchte Zuhause immer in Alarmbreitschaft zu sein und „dem mütterlichen Zorn aus dem Weg zu gehen, was ihm nicht immer gelang“ (S. 34). 

Irgendwann verkündete die Mutter einen erneuten Umzug. Nur Zacarias war absolut dagegen. Er hatte in seinem Wohnort Bindungen aufgebaut und träumte davon, Profihandballer zu werden (er war talentiert), was sich durch den Umzug erledigte. „Mit dem Abstand glaube ich, dass dieser Umzug nach Narbonne nach dem Aufenthalt im Waisenhaus der zweite große Bruch für ihn war“ (S. 34f.) Zacarias war zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Ab dann sei Zacarias verändert gewesen.
Irgendetwas hatte sich bei ihm eingenistet, ein kleines Mal, eine Spur Bitterkeit oder Groll, wie eine Narbe, die so klein ist, dass man sie kaum sieht, aber die auch mit der Zeit nicht verheilt“ (S. 37). 

Ihre Mutter bot ihnen auch keine richtige Verbindung zu ihrem Herkunftsland oder zur Religion. Zu all den familiären Belastungen kam noch das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit hinzu und Rassismus. In der Schule gab es sogar einen Lehrer, der gezielt Schüler arabischer Herkunft prügelte. „Zacarias ließ sich schlagen, ich ließ mich schlagen, die anderen ließen sich auch schlagen. Schweigend“ (S. 80). Es kam noch zu weiteren Opfererfahrungen, die mit Rassismus zusammenhingen. 

Der Autor berichtet auch über die Art und Weise mütterlicher Demütigungen. „Du bist ein Tunichtgut, von dir kommt alles Böse, du bist ein Bastard!“ (S. 59). „Ein Streit zwischen meinem Bruder und meiner Mutter konnte um sechs Uhr abends beginnen und sich bis zwei Uhr in der Früh hinziehen …. Meine Mutter ließ erst locker, wenn sie sah, dass ihr Sohn kurz davor war, zusammenzubrechen“ (S. 60).

 Als Zacarias ca. 18 Jahre alt war, verließ er seine Familie. „1988 kam er noch einmal kurz wieder. Dann tauchte er erst acht Jahre später wieder auf, 1996, mit kahlrasiertem Schädel, langem Bart und kurzer Hose (…)“ (S. 62). Durch Kontakte zur Islamistenszene hatte er sich radikalisiert. Das Schicksal nahm seinen Lauf… 


Sonntag, 17. April 2022

Kindheit von Zar Peter III. (Russland, 1728-1762)

Peters Mutter starb drei Monate nach seiner Geburt im Jahr 1728. Der Vater widmete sich danach seinem Sohn. Großen Wert legte der Vater auf eine gute Erziehung, wofür er extra für den vierjährigen Peter einen Professor für Theologie anstellte, der zum Vorbild für den Jungen wurde. Die allgemeine Erziehung zielte offensichtlich auch darauf ab, das Interesse fürs Militärische bei dem Jungen zu wecken, was auch gelang (Palmer 2005, S. 21-23). Der Vater starb allerdings, als Peter elf Jahre alt war. Peter vermisste ihn sehr (Palmer 2005, S. 17). 

Zum Vormund wurde ein Onkel, der kein großes Interesse an dem Kind hatte und der die Erziehung dem schwedischen Oberlehrer Otto Friedrich von Brümmer überließ. „Der Erzieher behandelte den Jungen mit einer Härte, die an Brutalität grenzte, er schrie ihn an und bestrafte ihn häufig. Fast jeden Tag musste der kleine Herzog auf Erbsen knien, was ihm unerträgliche Schmerzen bereitete. Brümmer ließ sich aber von den Tränen des Jungen nicht beeindrucken“ (Palmer 2005, S. 24). Der Biograf Bernhard Mager beschreibt die Wahl des neuen Erziehers kurz und knapp so: „Wie sich nachfolgend zeigte, eine für Peter unglückliche Entscheidung. Von Brümmer war weder pädagogisch noch sonst geeignet, eine erbprinzliche Hoheit adäquat zu erziehen" (Mager 2018, S. 14). Peter hätte „unter oft willkürlich verhängten Strafen und unter der von Schikanen durchsetzen Erziehung durch von Brümmer“ gelitten (Mager 2018, S. 15). Der Erzieher Brümmer wird von Mager an einer Stelle auch als „Despot“ bezeichnet (Mager 2018, S. 67).

Peter war der einzige Enkel Peter des Großen und wurde auf Befehl der Kaiserin Elisabeth I. von seinem Wohnort in Schleswig-Holstein nach Russland befohlen. Peter begab sich auf die Reise im Glauben daran, seiner Tante Elisabeth nur einen Besuch abzustatten. (Mager 2018, S. 56f.)
Geplant war allerdings sein dauerhafter Aufenthalt in Russland und die entsprechende Thronfolge. Anfang des Jahres 1742 brachen Peter und seine Begleiter auf. Peter war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vierzehn Jahre alt. „Leider begleitete Brümmer Karl Peter auch auf die Fahrt nach Russland. Das machte die Reise noch schlimmer. (…) Der junge Herzog war von den Quälereien der vergangenen Jahre so erschöpft, dass er nur wünschte, der hochmütige Schwede möge für immer verschwinden. Das Gleiche galt für den Kummerjunker Friedrich Wilhelm von Bergholz (…), einen Menschen, der nicht weniger brutal war als Brümmer“ (Palmer 2005, S. 24). 

Auf der Reise nach Russland strafte Brümmer einmal einen Wirt mit Peitschenhieben. „Peter war von diesem Erlebnis schockiert. Dass man Kinder schlagen durfte, hatte er durch Brümmer bereits erfahren müssen. Noch nie hatte man aber einen erwachsenen Mann in seiner Anwesenheit bestraft“ (Palmer 2005, S. 26). An dieser Stelle erfahren wir also auch, dass Strafen seitens des Oberlehrers gegen seinen Zögling Peter auch körperliche Gewalt bedeuteten!

Als Peter in Russland ankam und empfangen wurde begann er „bitterlich zu weinen und die Erwachsenen standen hilflos daneben“ (Palmer 2005, S. 26). Peters Herz hing an dem Herzogtum Holstein. In Russland fühlte sich der junge Peter dagegen als Gefangener (Mager 2018, S. 65).

Zar Peter III. war Vollwaise und musste eine von Gewalt und Demütigungen durchsetzte Erziehung über sich ergehen lassen. Hinzu kam der erzwungene Verlust der vertrauten Umgebung in Holstein in frühen Jahren. Insgesamt betrachtet ist dies eine sehr traumatische Kindheit. 


Quellen:

Mager, B. (2018). Der Zar aus Schleswig-Holstein: Zar Peter III. als Landesherr von Holstein im Spiegel historischer Dokumente. Ihleo Verlag, Husum. 

Palmer, E. (2005). Peter III. Der Prinz von Holstein. Sutton Verlag, Erfurt.


 


Montag, 11. April 2022

Kindheit von Zar Nikolaus I. (1796-1855; Russland)

Meine Quelle für die Kindheit von Zar. Nikolaus I.:
Lincoln, W. B. (1981). Nikolaus I. von Russland. 1796 - 1855. Callwey Verlag, München.

Vom Tag seiner Geburt an wurde Nikolaus von seiner Großmutter Katharina II. überwacht. Allerdings starb Katharina wenige Monate nach seiner Geburt. Paul I. (siehe auch über seine Kindheit hier im Blog) – der Vater von Nikolaus I. – übertrug einen Tag nach dem Tod der Zarin seinem vier Monate alten Sohn das militärische Oberkommando über die kaiserliche berittene Garde (S. 58). Dieser Schritt gab auch die weitere Richtung vor: Nikolaus wurde sehr früh der am Hofe vorherrschenden militaristischen Atmosphäre ausgesetzt. „Nikolaus´ erste Erinnerungen müssen demnach Eindrücke militärischer Art, strenger Hofzeremonien und eine Mutter gewesen sein, die bei seinen kurzen Begegnungen mit ihr auf striktester Einhaltung der Hofetikette bestand“ (S. 60) Und: „Je mehr Nikolaus vom Säuglings- in das Kindesalter hineinwuchs, desto konkretere Formen nahm die Betonung des Militärischen an“ (S. 62).  Dazu passt, dass der Vater im November 1800 General Graf Lamsdorf zum Erzieher seiner jungen Söhne bestimmte, Nikolaus war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. 

Nikolaus hat über diesen Haupterzieher später geschrieben: „Graf Lamsdorf flößte uns nur das Gefühl von Furcht ein. Diese Furcht und die Gewissheit seiner Allmacht waren sogar so stark, dass in unsrer Gedankenwelt unsere Mutter nur eine zweitrangige Bedeutung hatte. Dieser Tatbestand raubte uns völlig jegliches Vertrauen von Söhnen in ihre Mutter. Wir sahen sie ohnehin nur selten allein und wenn, dann geschah das in einer Art und Weise, als würde uns ein Urteil verkündet. Der ständige Wechsel des Personals in unserer Umgebung ließ in uns schon in frühester Jugend die Gewohnheit wachsen, bei unseren Bediensteten nach schwachen Stellen zu suchen und diese dann zu unserem Vorteil zu nutzen. Furcht und das Bestreben, einer Bestrafung zu entgehen, beschädigte meinen Geist mehr als irgend etwas anderes“ (S. 63)
Im Grund sagt dieses eine eindrucksvolle Zitat alles über die Kindheit des Zaren! Erstaunlich ist auch, wie der Zar selbst reflektiert, Ursachen in der Kindheit sieht und feststellt, dass sein Geist beschädigt wurde. Was unter "Strafen" zu verstehen ist, wird an einer Stelle deutlich, wo es um für den Schüler Nikolaus qualvollen Unterricht geht und der Graf „mich häufig während der Unterrichtsstunden selbst auf schmerzhafte Weise mit dem Stock züchtigte“ (S. 68f.). Bzgl. des langweiligen und pedantischen Unterrichts durch seine Erzieher kommentiert Nikolaus später auch: „Ich erinnere mich, wie sehr uns diese beiden Männer quälten“ (S. 68). 

Die Bindung zur Mutter (und auch zum Vater) wurde allerdings schon weit früher unterbrochen und hing nicht nur vom strengen Erzieher ab. Diverse Bedienstete waren von Beginn an für die Kinder zuständig: „Nikolaus verbrachte seine ersten Lebensjahre in der Gesellschaft von Gouvernanten und Kindermädchen zumeist ausländischer Herkunft. Seine Mutter (…) sah ihn nur wenige Minuten am Tag“ (S. 58). Aus dem Jahr 1798 (Nikolaus muss ca. zwei Jahre alt gewesen sein) gibt es einen Tagebucheintrag, dem zur Folge die Mutter im Verlauf eines Monats nur sechs bis sieben Stunden mit ihrem Sohn verbracht hatte (S. 60).  Bzgl. des Vaters – Paul I. – sah es nicht anders aus. Selten spielte er mit den Kindern, das starre Protokoll des Hofes ließen dies kaum zu.  „Normalerweise hatte Paul I. für seine jüngeren Kinder nur dann etwas freie Zeit, wenn er frisiert wurde“ (S. 60). Elternfiguren standen also nicht zur Verfügung. 

Neben militärischen Prägungen wurden die Kinder auch dem starren Protokoll unterzogen. Pflichterfüllung und militärische Tapferkeit wurden in der Erziehung betont. „Zur gleichen Zeit wurde größter Wert auf einwandfreies Verhalten, Würde und die Kontrolle der eigenen Gemütsbewegungen gelegt, die sie im Tun und Handeln ihrer Mutter erkennen konnten. Es war dies jene Art strenger Selbstkontrolle, die später eine Reihe von Beobachtern von einer inneren Kälte bei Nikolaus sprechen ließ“ (S. 61). 

Ein weiteres Trauma kam für den Jungen hinzu. In der Nacht des 11. März 1801 wurde sein Vater Paul I. ermordet. 

Später hing Nikolaus dem Militär sehr an, die entsprechende Erziehung von Geburt an ging offensichtlich auf. „Seine Leidenschaft für die Armee sollte für den Großfürsten und später den Zaren Nikolaus charakteristisch sein“ (S. 71). Nachdem Zar Alexander I. seinen jüngeren Brüdern die Erlaubnis gab, sich der Armee im Felde gegen Napoleon anzuschließen, schreibt Nikolaus später:
Ich bin nicht einmal in der Lage, einen Anfang mit der Beschreibung unserer Glückseligkeit zu machen, die eher verrückter Freude glich. Jetzt hatten wir angefangen zu leben – in einem einzigen Augenblick überschritten wir die Schwelle von der Kindheit zur Welt; in das wirkliche Leben“ (S. 72) Leben und Glück angesichts des Krieges, diese Regungen kennen wir auch aus Deutschland bei den Massen, als der Erste Weltkriegs ausbrach. Wenn Kindheit traumatisch war, wenn Kinder keine echten Bindungen und keine wirkliche Familie erlebt haben, dann kann das Militär eine Ersatzfamilie sein und der Kampf ein Mittel, um überhaupt etwas zu fühlen. 

Abschließend ist es von Interesse, auf die Kindheitsbedingungen von Zar Alexander I. (dem älteren Bruder von Nikolaus I.) zu schauen: „Er durfte nicht verhätschelt werden: Seine Matratzen wurden mit Stroh gefüllt; selbst im kalten russischen Winter musste in seinem Zimmer immer ein Fenster offenstehen. Er schlief in einem Flügel des Winterpalais, der neben der Admiralität lag, so dass sein Ohr sich an die Kanonenschüsse gewöhnte“  (Palmer, Alan (1994). Alexander I. Der rätselhafte Zar. Ulstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin. S. 21f.). Es ist entsprechend davon auszugehen, dass diese "Abhärtungsrituale" auch den jüngeren Bruder Nikolaus trafen!



Freitag, 8. April 2022

Kindheit von Zar Paul I. (1754 - 1801, Russland)

Quelle für diesen Text: "Zar Paul I. Mensch und Schicksal" von Valentin Graf Zubow (1963, K. F. Koehler Verlag, Stuttgart)

Schon für den Fötus scheint es deutliche Belastungen gegeben zu haben: „Es ist zu bemerken, dass Katharina während ihrer Schwangerschaft Ängsten und Kummer ausgesetzt war. Sie fühlte, dass ihr Geliebter sich ihr entzog, und sie klammerte sich mit all ihren Kräften an diese Liebe“ (S. 16).

Bereits kurz nach der Geburt wurden Mutter und Sohn getrennt: „Das Leben Pauls erhielt schon von den ersten Atemzügen an eine tragische Färbung. Kurz nach der Geburt befahl die Kaiserin Elisabeth der Hebamme, das Kind in ihre Räume zu bringen, während die Mutter von ihrer Tante, ihrem Gatten und dem ganzen Hofe vollständig vergessen wurde und stundenlang ohne jegliche Pflege blieb“ (S. 15). Der einzige Zweck Katharinas Anwesenheit in Russland war, dem Land einen Thronfolger zu schenken, schreibt der Biograf. Die ganze Härte und Gefühlskälte der Gesellschaft wird in dieser Szene deutlich.

Für Paul bedeutet dieser Schritt eine sofortige und dauerhafte Trennung von seiner Mutter:
Jahre hindurch durfte Katharina ihren Sohn nur in großen Abständen, und auch dann nur für kurze Augenblicke sehen; die Kaiserin hatte die Pflege des Kindes ganz übernommen (….). Es ist anzunehmen, dass die Behandlung, die Katharina erfahren hatte, in ihr die mütterlichen Gefühle abstumpfen ließ, wenn sie überhaupt je welche besessen hat (…)“ (S. 15).

Die Pflege des Kindes sah dann so aus, dass er von „einer Menge Weiber aus dem Volke gehütet“ wurde (S. 16). Offensichtlich nicht zu seinem Wohle, der Säugling wurde u.a. überhitzt. Und: „Die Zahl der Wärterinnen erhöhte die Sicherheit des Kindes keineswegs, im Gegenteil; es geschah, dass sie morgens beim Aufwachen den Kleinen außerhalb der Wiege ruhig am Boden schlafend vorfanden“ (S. 16).
Es ist auch möglich, dass die Wärterinnen die Keime der Angst in die Seele des Kindes gepflanzt haben. Um der persönlichen Überwachung der Kaiserin Elisabeth zu entgehen, suchten sie aus ihr ein Schreckgespenst für den Kleinen zu machen; es gelang ihnen so gut, dass er an all seinen Gliedern zitterte, sobald sie sich näherte. Als sie die Wirkung ihrer Besuche bemerkte, erschien sie immer seltener und kam schließlich überhaupt nicht mehr (…)“ (S. 16).
Der Junge hatte somit auch seine "Ersatz-Mutter“ verloren. Die Frage ist, was die „Wärterinnen“ alles mit dem Jungen anstellten, der ihnen nun komplett ausgeliefert war? Pauls Schwester wurde ebenfalls der Obhut dieser Frauen überlassen. Der Biograf schreibt: „Während der Knabe die Pflege der Wärterinnen überlebte, unterlag ihr das weniger robuste Mädchen. Paul hing sehr an seiner Schwester, und ihr Tod verursachte ihm großen Kummer“ (S. 17). Die Betreuungspersonen konnten offensichtlich lebensgefährlich für die Kinder sein, was diese Passage hervorhebt. Der Tod der Schwester bedeutet ein Trauma für sich für das Kind Paul. 

Im Alter von sieben Jahren musste Paul einen weiteren Schlag erleben. Pauls (vorgeblicher und wohl nicht biologischer) Vater, Peter III., „den der Knabe kaum kannte“ (S. 18), folgte nach dem Tod der Kaiserin auf den Thron. „Sechs Monate später traf ein dritter und entscheidender Schlag Pauls von Natur aus verängstigte Seele: der Staatsstreich vom 28. Juni 1762, der seine Mutter auf den russischen Thron hob und seinen vorgeblichen Vater das Leben kostete“ (S. 18).  In der Fantasie des Kindes muss eines klar geworden sein: Sicherheit ist eine Illusion! 

Der Biograf beschreibt neben den vielen Ängsten einen weiteren Wesenszug von Paul: Minderwertigkeitsgefühle (S. 20). Dies mag kaum verwundern, wenn wir uns seine frühe Kindheit vor Augen führen. 

Für den heranwachsenden Jungen war u.a. auch sein Haupterzieher Patin zuständig. Dieser tadelte den Jungen wegen dessen ständiger Ungeduld, betont der Biograf. Paul kamen z.B. die Tränen, wenn Hofempfänge zu lange dauerten. „Er wurde von Patin wegen dieser Verstöße gegen die Etikette streng getadelt und sogar bestraft“ (S. 22). In welcher Form diese Strafen ausgeübt wurden, wird nicht berichtet. 

Mir stellt sich die Frage, ob Paul auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt war? Der Biograf schreibt an einer Stelle etwas schwammig: „Man wird angesichts der Atmosphäre eines Hofes des 18. Jahrhunderts, in welcher Paul aufwuchs, kaum verwundert sein, ein vorzeitiges Aufblühen erotischer Gefühle bei ihm festzustellen. Mit sechs Jahren war er schon verliebt, mit zahn spielte sich ein richtiger kleiner Roman, platonisch und reizend, mit einem Hoffräulein der Kaiserin ab. Freilich waren auch die Gespräche, die an seiner Tafel von Patin und den Gästen geführt wurden, in Anwesenheit eines Kindes bei weitem nicht vorsichtig genug; sie hätten im 19. Jahrhundert für unerhört gegolten“ (S. 25f.). Ich denke an dieser Stelle ergänzend auch an die vielen „Wärterinnen“ in der frühen Kindheit von Paul, die um die zukünftige Macht des Jungen wussten und damals viel Macht über das Kleinkind (den "kleinen Mann und Herrscher") inne hatten. Die sexualisierte Atmosphäre am damaligen Hofe lässt einiges erahnen. (Auch die vielen Liebschaften seiner leiblichen Mutter Katharina II. sind ja legendär).

Der älter werdende Paul wünschte später, Einblicke in die Regierungsgeschäfte seiner Mutter zu bekommen. Sie wich aus. Katharina II.. „hatte eine instinktive Angst vor Paul; Angst gebiert Feindseligkeit; auf die Feindseligkeit der Mutter antwortete der Sohn mit Feindseligkeit“ (S. 27)

Mutter und Sohn waren von Anbeginn an entfremdet, das Verhältnis scheint angespannt geblieben zu sein. Aus heutiger Sicht ist die Kindheit von Paul I. hoch traumatisch verlaufen. Dies wird auch Folgen bzgl. seines politischen Wirkens gehabt haben. 


Alarming study: Adverse Childhood Experiences are increasing in the US!

The public and especially the psychohistorical community should know about a new study from the US:

Adverse Childhood Experiences Across Birth Generation and LGBTQ+ Identity, Behavioral Risk Factor Surveillance System, 2019”, published online: March 23, 2022, American Journal of Public Health 

It's about Adverse Childhood Experiences (ACEs) of the US population. (I present the data and results below.) At first glance, the title of the study suggests that it is primarily about sexual minorities, which is not true. A total of 56,262 people were interviewed. Of these, only 5.11% belong to a sexual minority.

What particularly alarms me about this study is the negative trend regarding younger generations!

First an overview:

19.26% of the current sample (n = 56 262) reported 4> ACEs! 

This is more than in previous BRFSS surveys between 2011-2014 (result: 15.81% = 4 or more ACEs). 

Currently every 5th US-American belongs to the high-risk group with regard to health and behavior problems (according to the earlier data, it was every 6th)! 

Note: This is the average value! Take a look at the details: 

4 or more ACEs:

Baby Boomers: 14.69%

Generation X: 22.31%

Millennials: 26.77%

Generation Z: 26.78%

Currently every 4th US-American of the younger generations belong to the high-risk group with regard to health and behavior problems! The data can also be interpreted as follows:
The US society is a traumatized society!

Here are some excerpts regarding the (often traumatic) stress factors (in childhood) by generation (from the current study):

Emotional abuse:

Baby Boomers: 29.99%

Generation X: 35.28%

Millennials: 41.77%

Generation Z: 44.53%


Household depression:

Baby Boomers: 12.28%

Generation X: 17.84%

Millennials: 26.37%

Generation Z: 31.47%


Household incarceration:

Baby Boomers: 4.18%

Generation X: 7.85%

Millennials: 13.86%

Generation Z: 16.43%


Household drug use:

Baby Boomers: 6.25%

Generation X: 12.04%

Millennials: 17.04%

Generation Z: 15.74%


Parental divorce:

Baby Boomers: 19.87%

Generation X: 35.64%

Millennials: 42.38%

Generation Z: 40.87%


For other ACE-Scores (household alcoholism, interpersonal violence, physical abuse, sexual violence) there is no significant increase. I would like to mention that the extent of physical abuse in all generations is high at approx. 25%.

With regard to the drug/opioid epidemic in the US, rising suicide rates, but above all with regard to the deep political division/polarization (including the catastrophic Donald Trump presidency), I would suspect connections to the high level of ACEs. 

It remains for me to note that the “baby boomer” generation is often not used to reporting on stressful childhood experiences. In addition, high ACE-scores have been shown to lead to premature death, so that the high-risk group may be underrepresented in the surveys. But this could only partly explain the bad trend.

I assume that this negative trend is real!


Donnerstag, 7. April 2022

Studie: Kindheiten von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa

Nina Käsehage stellt die Ergebnisse aus Befragungen von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa vor: 

Käsehage, N. (2020). Empowerment through Violence - European Women in Jihadi Movements. In: Hock, K. & Käsehage, N. (Hrsg.). ‘Militant Islam’ vs. ‘Islamic Militancy’? Religion, Violence, Category Formation and Applied Research. Contested Fields in the Discourses of Scholarship. LIT Verlag Zürich, S.  169-194.

Gewalterfahrungen durchziehen die Biografien dieser extremistischen Frauen:

All of the women have suffered psychological or physical abuse in their nuclear or extended families” (S. 180). Und: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel ‘relief` or to `recover`” (S. 182). 

Manche würden diese Erfahrungen in folgender Form für sich umdeuten:
I had to suffer so much in my childhood, because God tests the chosen people” (S. 182). 

Ausführlicher wird der Fall der 20-Jährigen “Umm Yasar“ vorgestellt. Sie lebt in Italien und hat einen algerischen Migrationshintergrund. Ihre Eltern waren nicht streng muslimisch. Die Eltern trennten sich, als Umm noch ein Kind war. Sie blieb bei ihrer Mutter, die oft trank und das Kind misshandelte. Die Mutter fand einen neuen Partner, der Umm sexuell missbrauchte bzw. vergewaltigte. Ihre Mutter glaubte ihr dies nicht und wurde noch gewalttätiger gegen ihre Tochter (S. 181).
Umm Yasar schloss sich als Jugendliche einer weiblichen Gang an, die sich sehr gewaltvoll verhielt. Durch einen radikalen Imam wurde sie weiter radikalisiert. In der Moschee traf sie auch ihren zukünftigen Ehemann, der ebenfalls radikalisiert war. 

Umm Yasar`s motives for joining a Jihadi group are based in her disposition for physical violence. Raised in a family where `survival of the fittest` was an everyday experience for a child, being physically tortured by her mother and occasionally raped by her step-father, the young woman had to find a way to canalize her pain. Umm Yasar choses violence towards others as an appropriate way for herself to feel strong and self-reliant, even if only for a moment. She joined an all-girls gang and made other become `victims` in order to forget her parents victimizing her day after day” (S. 185). 

Nun, die Zusammenhänge sind überdeutlich und ergänzen das Bild über die destruktiven Kindheiten von Extremisten, das ich hier im Blog unzählige Male zeichnen konnte!