Dienstag, 19. Juli 2016

Opferrituale. Ereignisse in der Türkei bestätigen psychohistorische Annahmen

Es ist ganz und gar erstaunlich…. Die Ereignisse in der Türkei bestätigen derzeit fast in Reinform psychohistorische Annahmen. Vorweg möchte ich noch einmal Details über die Kindheit von Recep Tayyip Erdoğan ergänzen (ich hatte hier im Blog seine Kindheit ja bereits besprochen.) Quelle für diese Ergänzung ist folgendes Buch: Akyol, Cigdem (2016): Erdogan: Die Biografie. Verlag Herder: Freiburg im Breisgau. (Kindle-EBook Version.)

Im Hause Erdoğan verhängte der Vater harte Strafen. Er habe, so die Biografin Cigdem Akyol, die strengen Regeln der Seefahrt mit nach Hause gebracht. Erdoğan sagte folgendes über seinen Vater: „Wir respektierten die Autorität. Wir hätten sonst auch gewusst, dass unser Vater uns andernfalls schwer dafür würde büßen lassen.“ Und „Wenn man fluchte, war die Rechnung dafür teuer. Deswegen hat unser Vater von Zeit zu Zeit mit uns abgerechnet.“ Erdoğan erzählte einst eine Anekdote aus seiner Kindheit. Er habe eine Nachbarin beschimpft. „Da hat sie sich mir vorgenommen. Je mehr ich fluchte, desto mehr gefiel ihr das, und sie schlug mich auf den Po. Sie schlug mich, und ich fluchte. Sobald mein Vater kam, der im Stadtteil sehr beliebt war, hat sie sich über mich beschwert. Davon wusste ich natürlich nichts. Mein Vater kam herein … möge er in Frieden ruhen … Er packte mich und hängte mich unter die Decke. Ob er mich dafür an den Händen oder unter den Achseln gefesselt hat, weiß ich nicht mehr. Ich blieb fünfzehn oder zwanzig Minuten hängen, bis mein Onkel kam und mich rettete. Danach war die Zeit des Fluchens für mich vorbei.“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“, Position 731-737) Solche Maßnahmen, sagte er der Autorin folgend lächelnd, seien aber auch „sinnvoll gewesen“.  Erdogan würde seine strengen Eltern bis heute verehren und habe nie ein schlechtes Wort über sie gesagt. Vieles habe er schöngeredet oder romantisiert. (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“, Position 720)

In meiner anderen Quelle über seine Kindheit (siehe Link oben) wurde gesagt, er sei kopfüber von seinem Vater aufgehängt worden. Sofern der Vater nicht vorhatte, ihn zu befreien (und das sieht so aus) und der Onkel ihn quasi gerettet hat ist die Frage, ob dies nicht auch an eine versuchte Kindestötung grenzte? Der kleine Junge scheint sich, das zeigen Erdoğans eigene Worte, in der Folge gefügt und unterworfen zu haben. Mehr noch, alles deutet auf eine starke Identifikation mit dem Aggressor hin. Heute ist er aber kein Kind mehr, sondern der Präsident der Türkei! Nichts deutet darauf hin, dass er diesen Kindheitsalptraum aufgearbeitet hat.

Ich habe vor Kurzem schon in einzelnen Radiobeiträgen gehört, dass Erdoğan nach dem aktuellen Putschversuch von einem „Geschenk Gottes“ sprach und nun das Militär „säubern“ wolle. Da klingelten bei mir bereits die Alarmglocken! Dann kamen noch Berichte über seine Wortwahl von einem „Virus“ hinzu und schließlich von einem „Krebsgeschwür“. Die "Säuberung aller staatlichen Institutionen von diesem Geschwür" werde weitergehen, sagte er und  "Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen." (Tagesspiegel, 17.07.2016, „Erdogan will Staat von Gülen-"Geschwür" säubern“) Das sind genau die Art von Fantasiewörtern, die Lloyd deMause in seinen Werken hervorhebt. Sie stehen für eine Wiederaufführung von Kindestraumata, aber auch für fötale Belastungen ("Fötales Drama“). Bzgl. Erdoğan ist erwiesen, dass er als Kind misshandelt wurde und das schwer. Derzeit werden die Stimmen in der Türkei lauter, die die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern. Auch Erdoğan würde sich diesem Wunsch des Volkes nicht in den Weg stellen, wie er sagte. Es geht jetzt also auch noch um Menschenopfer...

Erdoğan ist nicht denkbar ohne große Teiles des türkischen Volkes, die ihn verehren und bewundern. Über die Türkei gibt es meines Wissens nach bisher wenig repräsentative Daten über die Verbreitung von Kindesmisshandlung. Gewalt gegen Kinder durch Eltern ist in dem Land weiterhin legal, ebenso gibt es keine expliziten Verbote von Körperstrafen an Schulen. Wir können bzgl. der Kindererziehung in diesem Land nicht von fortschrittlichen Standards ausgehen. Insofern spielt auch die Identifikation mit dem Aggressor im Volk eine Rolle. Die aktuellen Ereignisse in der Türkei machen mir wirklich Sorgen.

Der Theorie von Lloyd deMause nach sind Kriege, kollektive Paranoia und Opferrituale Antworten auf Wachstum, Fortschritt und schnelle gesellschaftliche Veränderungen. (Oder anders gesagt: Wachstum und Veränderungen wecken das Opfer in den Menschen und dessen unerträgliche Gefühle.) Auch dies trifft auf die Türkei zu, die vor allem unter Erdoğan in den letzten Jahren einen starken (nie dagewesenen) Modernisierungsschub erlebt hat (bei einer gleichzeitigen Rück-Traditionalisierung bzw. Islamisierung des Landes). Dieser Fortschritt des Landes ist in diversen Artikeln und Beiträgen nachlesbar. Ein Beispiel dafür ist z.B. ein Artikel auf WELT-Online: http://www.welt.de/wirtschaft/article131115977/Das-Meisterwerk-des-Sultans-Erdogan.html
Der türkische Aktienmarkt ist nach den Ereignissen eingebrochen, Touristen werden nach den aktuellen Aktionen die Türkei meiden, Investoren werden sich andere Länder suchen, politisch treibt die Türkei in die Isolation und moderne Vordenker und Reformer werden noch extremer mundtot gemacht. Insofern scheint das unbewusste kollektive Ziel, das allgemeine soziale und ökonomische Wachstum zu reduzieren, erreichbar; zu einem hohen Preis, wohlgemerkt.