Sonntag, 31. Dezember 2023

Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung.

Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)

In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. 

Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“. 

In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. 

Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“

Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.

Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".

Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern

Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier

Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. 

Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. 

Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:

Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“

Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“

Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. 

Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. 

"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". 

 Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).

Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? 

Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).

Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. 

Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!


Dienstag, 21. November 2023

Kindheit von Richard III. (England, 1452-1485)

Richards Mutter hatte über elf Jahre hinweg fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht. „Das elfte Kind der Herzogin von York war klein und kränklich, vielleicht als Folge der Schwangerschaftskomplikation. Lange Zeit schien es, als sollte es, wie vier seiner Geschwister vor ihm, das Kleinkindalter nicht erreichen" (Kalckhoff 1980, S. 14).
Richards frühe Kindheit war geprägt von Gesundheitsproblemen. „Sein Gesundheitszustand war so misslich, dass ein Reimschmied, der die Geschichte der Herzogfamilie in Verse gebracht hatte, nur berichten konnte: ‚Richard liveth yet‘ (Richard lebt noch)“ (Kendall 1980, S. 24). 

Die meisten seiner Brüder und Schwestern kannte Richard kaum. Anna, dreizehn, und Elisabeth, acht Jahre alt, wurden, wie üblich, in anderen Adelshäusern erzogen. Die beiden ältesten Knaben, Eduard und Edmund, lebten weit entfernt in Ludlow Castle. Richards Spielkameraden waren der dreijährige Bruder Georg und die sechsjährige Schwester Margarete. Vater und Mutter sah er selten. (…) In diesen ersten sieben Jahren spielte seine Schwester Margarete die Rolle der Mutter. Ihr Liebling war jedoch Georg. Dem kleinen Richard blieb wohl nichts übrig, als diese ungleiche Liebe als unvermeidlich hinzunehmen, denn er fürchtete sich vor Georg. Georg war nicht nur drei Jahre älter, er war auch alles, was Richard nicht war: stark, groß für sein Alter, schön, anziehend und verwöhnt. Richard konnte niemals ganz von diesem Bild eines strahlenden älteren Bruders loskommen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ihm sofort gehorcht werde, und dessen gelegentliches Lächeln eine ihn verwirrende Belohnung war. Am Ende dieser sieben Jahre brach die jenseits des friedlichen Marschlandes liegende Welt plötzlich über das Kind herein, das England von 1459, eine Welt der nackten Gewalttätigkeit“ (Kendall 1980, S. 24f.) 

Der Biograf Andreas Kalckhoff beschreibt allerdings schon vorher das Miterleben von Gewalt:
Noch bevor Richard das siebte Lebensjahr vollendet hatte, war er Gefangener, das einzige Mal in seinem Leben. Die Soldateska der Königin massakrierten die wehrlosen Stadtbewohner und plünderten die Burg, die ohne Verteidigung dalag“ (Kalckhoff 1980, S. 43). Die Mutter und ihre Kinder fielen zunächst in die Hände ihrer Feinde, kamen aber glimpflich davon. 

Wenig später, im Jahr 1460, erfuhr der junge Richard, dass „er im Kampfgewühl eines einzigen Tages den Vater, einen Bruder und einen Oheim verloren hatte“ (Kendall 1980, S. 38).

Als Neunjähriger wurde Richard zur weiteren Erziehung fortgeschickt. „Es war Übung in England, dass Heranwachsende als Pagen in fremde Familien gingen. So kam Richard im Herbst 1461 zu den Nevilles von Warwick auf Burg Middleham, Yorkshire“ (Kalckhoff 1980, S. 64). Dort sollte er die nächsten drei Jahre seiner Erziehung verbringen, die von morgens bis abends strikt reglementiert war. „Hier begann der junge Richard den Kampf, seine heimlichen Vorsätze zu verwirklich. Das kränkliche Kind, aus dem ein hagerer, im Wachstum zurückgebliebener Bursche geworden war, trieb sich selbst dazu an, stark zu werden und die Waffen gewandt zu handhaben. Mit ingrimmiger Leidenschaft arbeitete er am Kriegshandwerk. (…). Er musste sich darauf vorbereiten, seinem herrlichen Bruder Eduard zu dienen. Vielleicht lag es an dieser harten Ausbildung, dass ein rechter Arm und die rechte Schulter etwas stärker wurden als die linke Seite" (Kendall 1980, S. 47). 

Kalckhoff (1980, S. 66-71). beschreibt recht ausführlich die Praxis des „Weggebens“ der Kinder im England des 15. Jahrhunderts, die fast alle Kinder, ob arm oder reich, traf. Diese Kinder mussten im wahrsten Sinne des Wortes dienen und hatten keinerlei Schutz durch ihre natürlichen Eltern. 

König Eduard (der ältere Bruder von Richard!) setzte in seinem „Schwarzen Buch der Hofhaltung“ fest, wie der Erzieher (der Master of Henchmen) mit den Pagen am Hofe umzugehen hatte. Darin ging es um viele Verhaltensnormen, strikte Kontrolle und Regeln. An einer Stelle steht geschrieben:„(…) und diese Kinder täglich und stündlich gehörig anzuhalten, mit Züchtigungen auf ihren Zimmern, wie es bei solchen Herren nötig ist (Kalckhoff 1980, S. 69). Der Erziehungsauftrag beinhaltete also auch eindeutig körperliche Gewalt gegen die Kinder. Gewalt durch Erziehungspersonen traf die Kinder des Mittelalters regelmäßig. Auch Richard wird diesem Schicksal mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht entkommen sein. 

In den oben besprochenen Informationen stecken sehr viele Kindheitsbelastungen, die ganz sicher nicht ohne Folgen blieben:
Schwangerschaftskomplikation, schlechte Gesundheit, Aufwachsen ohne Eltern (betreut von Personal), Trennungen von Geschwistern, ein dominanter älterer Bruder, Miterleben von kriegerischen Entwicklungen seitens des Adels, der sich damals in England gegenseitig schwer bekämpfte ("Rosenkriege"), schließlich gewaltbedingter Tod des Vaters, des älteren Bruders Edmund und eines Onkels und erneuter Umgebungswechsel inkl. harter Ausbildung und Erziehung. 

(Während meiner Recherchen über Richard stieß ich im ZDF zufällig auf die Doku "Heinrich VIII.: Der junge Prinz " (erster Teil von drei Teilen). Seine Kindheit in England verlief recht ähnlich wie die von Richard: er wuchs ohne Eltern betreut von Personal auf; sein Vater war dominant, kontrollierend und  hatte jahrelang kein Interesse am Sohn; einige Geschwister starben; die Mutter starb, als Heinrich elf Jahre alt war.)


Quellen:

Kalckhoff, A. (1980). Richard III. Sein Leben und seine Zeit. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Glasbach. 

Kendall, P. M. (1980). Richard III. Der letzte Plantagenet auf dem englischen Königsthron 1452-1485. Verlag Callwey, München. 


Sonntag, 5. November 2023

Kindheit und islamistischer Extremismus/Terrorismus - eine Übersicht

aktualisiert: 20.12.2023 (siehe neue Ergänzungen im Kommentarbereich)


Vorwort

Die aktuellen Ereignisse seit dem 07.10.2023 in Israel und Gaza (vor allem auch die Angriffe der islamistischen Terrorgruppe Hamas) haben mich motiviert, eine Zusammenfassung bzgl. meiner bisherigen Recherchen über Kindheit und islamistischen Extremismus/Terror zu verfassen. Geplant hatte ich einen solchen Text schon lange, jetzt endlich habe ich es geschafft. 

Parallel zu diesem Text veröffentliche ich auch eine Zusammenfassung über "Kindheit in Gaza". "Trauma-Kindheit" in Gaza hat ganz sicher einen erheblichen Anteil an den grausamen Ereignissen der jüngsten Zeit! 

In meinem Buch schrieb ich im Kapitel „Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung“: „Was im internationalen Vergleich auffällt ist, dass viele Länder und Regionen, die historisch für schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen, autoritäre Staatsstrukturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, gleichzeitig sehr hohe Gewaltraten gegen Kinder aufweisen.“ Diesen Grundgedanken bleibe ich stets treu, was man auch an den diversen Länderanalysen hier im Blog sehen kann. Hervorheben möchte ich auch meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“. Der Mittlere Osten und Gesamtafrika sind außerdem weltweit führend, wenn es um Gewalt gegen Kinder in der Familie geht. Viele Problemlagen dieser Regionen sehe ich auch vor dem Hintergrund der schlechten Bedingungen für Kinder. 

Die unten aufgezeigten Ergebnisse weisen auf einen in der Öffentlichkeit vielfach übersehenen Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und islamistischem Extremismus hin. Diese Zusammenhänge gelten auch für andere Extremismusformen, was ich vielfach durch meine Recherchen zeigen konnte. 

Ist die Datenlage wirklich dünn oder müssen wir nur genauer hinsehen? Studien über die Kindheitshintergründe von islamistischen Extremisten/Terroristen

Bzgl. des islamistischen Extremismus ist die Datenlage über Familien-/Kindheitshintergründe in der Tat dünner als bzgl. des Rechtsextremismus, was in der Literatur auch immer wieder betont wird. Die Befundlage wird meiner Auffassung nach dennoch ziemlich dicht und vor allem aussagekräftig, wenn man genau hinsieht, viele Einzelfälle sammelt und Ergebnisse von Studien zusammenführt.

Nach meinem Eindruck wird in der entsprechenden Forschung bzgl. Kindheitseinflüssen zu wenig hingesehen. Dies zeigt sich exemplarisch in einer aktuellen Review (Ohls et al. 2023) über Schutz- und Risikofaktoren bzgl. islamistischer Radikalisierung und Extremismus. Das Forschungsteam führt zwar auf Seite 10 als Risikofaktor den Punkt "Victim of abuse and unstable family conditions" auf, bezieht sich dabei aber nur auf zwei Studien (Jasko et al. 2017; Lützinger 2010), die ich in diesem Text hier ebenfalls besprochen habe. 

Lloyd deMause (2002) hat in seinem Text „The childhood origins of terrorism“ schon früh auf deutliche Zusammenhänge zwischen extrem destruktiven Kindheiten und islamistischen Terrorismus hingewiesen. Aber auch er verfügte allerdings noch nicht über ausreichend empirische Daten. 

Wichtige Impulse kommen u.a. aus der Praxis: „Zum Stellenwert (…) familialer Einflüsse existieren für den gewaltorientierten Islamismus bislang allerdings keine dichten Befunde. Akteure aus der Beratungsarbeit, die mit gefährdeten Jugendlichen und ihren Eltern arbeiten, erachten familiäre Belastungen allerdings als überaus bedeutsam – sie weisen auf autoritäre und gewalthaltige Familienstrukturen, auf Aspekte emotionaler Entfremdung, überforderte Bezugspersonen und bei jungen Männern besonders auf das häufige Fehlen verlässlicher Vaterfiguren hin“ (Glaser et al 2018, S. 18).

Solche Hinweise kommen auch von dem in der Praxis sehr aktiven Psychologe Ahmad Mansour (2015) in seinem Buch „Generation Allah“ (in dem übrigens auch die Kindheit des Autors selbst und seine damalige Radikalisierung behandelt wird: hier besprochen). 

Im Streetworkerbuch "Die Wütenden" von Fabian Reicher & Anja Melzer (2022) werden fünf Fallbeispiele von Dschihadisten ausgebreitet. In drei Fällen werden schwere Traumatisierungen in der Kindheit deutlich (vor allem auch Kriegserfahrungen). An einer Stelle fasst das Autorenteam zusammen: "Rachefantasien entstehen, wenn Unrecht geschieht. Alle Attentäter haben ihre eigenen Geschichten, aber was alle miteinander verbindet, sind schwere traumatische Verletzungen, Erfahrungen von Erniedrigung und Ohnmacht, die sie nicht verarbeiten können, ohne Gewalt anzuwenden" (Reicher & Melzer 2022, S. 120). 

Mittlerweile existieren allerdings auch so einige Studien, die ich nachfolgend vorstellen möchte:

Lützinger (2010) hat 39 männliche Extremisten/Terroristen (24 rechts, neun links und sechs islamistisch) befragt. Zusammenfassend schreibt sie: „Resümierend kann festgehalten werden, dass die hier untersuchten Biographien grundlegend entwicklungsbelastete Personen charakterisieren, die mangels eines funktionierenden und eine gesunde und gelingende psychosoziale Entwicklung garantierenden Elternhauses äußerst prekäre soziale Kontakte eingegangen sind. Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus" (Lützinger et al. 2010, S. 75f.). „In den meisten Biografien spielten Gewalt und Unterdrückung schon im Kindesalter eine Rolle“ (Lützinger 2010, S. 31). Diese Ergebnisse gelten entsprechend auch für die sechs Islamisten aus dem Sample. 

Es gibt auch andere interessante Ansätze (Jasko et al. 2017): In den USA wurden 1496 Akteure (90 % männlich), die ideologisch-bedingte Straftaten (rechtes, linkes und islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.

Srowig et al. (2017) haben 33 (davon zwei weiblich) in Deutschland straffällig gewordene Islamisten auf Grundlage von Gerichtsakten und ergänzend vier Interviews mit Personen aus der Stichprobe analysiert. Das Autorenteam fasst zusammen: „Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden. Die Konflikte lassen sich wie folgt aufschlüsseln: 

- Kritische Lebensereignisse, wie die Erkrankung oder der Verlust einer nahestehenden Person bzw. vergleichbare Krisensituationen

- Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus

- Gewalterfahrungen als Täter

- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol“ (Srowig et al. (2017, S. 105).

Leider wurde nicht die genaue prozentuale Verteilung dieser Belastungsfaktoren aufgestellt. Fest steht, dass die genannten Belastungsfaktoren zentrale Gemeinsamkeiten der Islamisten sind. Ich möchte ergänzend erwähnen, dass ein exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum laut Forschungslage vor allem von Menschen praktiziert wird, die ein hohes Maß an kindlichen Belastungen (ACEs) erlitten haben. Zusammen mit dem Punkt „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ sowie auch dem Verlust von Bezugspersonen zeigt diese Studie also eindeutig auf den Einfluss von Kindheitserfahrungen bzgl. Radikalisierungsprozessen.

2016 wurden von einem Forscherteam (Aslan et al. 2018) 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Die Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten islamistischen Charakters. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden elf weitere Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Die Studie war nicht auf Kindheitserfahrungen fokussiert. Allerdings zeigt sich bei der Durchsicht, dass die deutliche Mehrheit der Befragten erhebliche Belastungen in der Kindheit erlitten haben (vor allem Kriegs- und Fluchterfahrungen und Trennungen und/oder Verlust von Familienmitgliedern). Wie der jeweilige elterliche Erziehungsstil ausgesehen hat, erschließt sich in der Studie leider nicht. 

Eine Möglichkeit, zu Erkenntnissen in diesem Feld zu gelangen, sind auch gedankliche Ableitungen. Das Bundeskriminalamt et al. (2016) konnte z.B. in einer großen Untersuchung von 778 Islamisten (mehrheitlich Männer), die aus Deutschland im Zeitraum zwischen Januar 2012 bis Juni 2016 nach Syrien oder dem Irak ausgereist sind (und sich mehrheitlich nach ihrer Ausreise einer islamistisch-jihadistischen Gruppierung angeschlossen haben), diverse Daten sammeln und auswerten. Zwei Drittel der Islamisten hatte eine kriminelle Vorgeschichte (vor allem Eigentums-, Gewalt- und/oder Drogendelikte). 53 % von den Personen mit einem kriminellen Hintergrund hatten drei oder mehr Delikte und 32 % hatten sogar sechs oder mehr Delikte begangen (Bundeskriminalamt et al. 2016, S. 18f.). Wie diverse Studien zeigen, lassen sich bei Straftätern stark erhöhte Adverse Childhood Experiences (ACEs) nachweisen. Generelle Studien über die Kindheit von Gewalt-/Straftätern sagen weitergedacht also auch etwas über die Kindheiten der hier untersuchten (kriminellen) Islamisten aus!

Diese Ableitung gilt auch für eine Untersuchung vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2011), für die 140 Konvertiten aus islamistischen Milieus analysiert wurden. Über die Hälfte dieser Akteure hatte eine kriminelle Vorgeschichte (Drogendelikte, Diebstähle und Körperverletzungen). Ergänzend gab es deutliche Hinweise in Richtung problematischer Entwicklungen in der Kindheit: „Bei den meisten Konvertiten gab es Auffälligkeiten in den Sozialisationsverläufen. Es handelt sich um »instabile« Persönlichkeiten. Ein häufiger Grund lag in gestörten Familiensystemen und fehlenden sozialen Bindungen, teilweise bereits seit frühster Kindheit“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46).
Auch eine weitere Erkenntnis dieser Untersuchung bzgl. Islamisten deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Rechtsextremismusforschung: „Die empfundene Geborgenheit, das Gemeinschaftserlebnis und die Erlebniswelt Islamismus an sich mit ihren verschiedenen Veranstaltungsformen bieten einen starken Kontrast zu dem vorher gelebten Leben. Es scheint somit sehr wahrscheinlich zu sein, dass weniger die Ideologie als vielmehr Defizite im eigenen Lebenslauf und in der Persönlichkeit Grund für den Zulauf zu einem extremistischen-islamischen Milieu sind“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46f.).

Ich fand ein weiteres Projekt zum Thema Extremismus und Terror. Allerdings habe ich bisher keine wissenschaftliche Ausarbeitung der Ergebnisse gefunden. Insofern muss ich den diversen Medien vertrauen, die über dieses Projekt berichtet haben. Meine ausgewählte Quelle ist in dem Fall SPIEGEL-Online. Die beiden Schwestern Nancy und Maya Yamout von der Nichtregierungsorganisation Rescue Me haben im Roumieh-Gefängnis in Beirut 20 verurteilte Terroristen (darunter auch Mitglieder des IS, der Nusra-Front und der syrischen Qaida) innerhalb von zwei Jahren regelmäßig interviewt (ein Vertrauensverhältnis wurde hergestellt!), um herauszubekommen, warum sie sich radikalisierten. Auffällige Gemeinsamkeiten der Terroristen sind, dass sich keiner gut mit Religion auskannte. Sie hatten nur oberflächliche Kenntnisse über den Islam. „Große Ähnlichkeit gab es bei den Kindheitsgeschichten. Keiner der 20 Terroristen kam aus einem normalen Elternhaus. Ihre Väter prügelten, demütigten und instrumentalisierten sie. Der Vater eines Terroristen drückte Zigaretten auf seinem Sohn aus. Die kreisrunden Narben auf dem Arm des Häftlings zeugen immer noch davon. Ein anderer Vater war Kämpfer im libanesischen Bürgerkrieg. Für seine Kinder war er nicht da. Die mussten schon als Achtjährige mithelfen - Waffen reinigen und Leichenteile einsammeln“ (Salloum 2014). Islamistische Führer wurden laut den beiden Schwestern zu Vaterfiguren für die untersuchten Terroristen. 

Interessant sind auch die Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Amokschützen in den USA und Selbstmordattentätern im Nahen Osten. Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Tätertypen sind belastende Kindheitserfahrungen: „In general research has found strong relationships between childhood suffering, delinquency, and criminality (…). In addition, childhood victimisation has been determined to be strongly related to substance abuse, sex crimes, prostituition, promiscuity, teenage pregnancy, and a number of violent crimes (…). Therefore, it should not be particularly suprising that the violent actors in these cases have often suffered from a troubled childhood – altough this is just one of the many factors which contributes to their ultimate attacks. This appear to be a key similarity between volunteer suicide bombers in the Middle East and rampage shooters in the U.S. The range of their disturbing childhood experiences includes being repeatedly harassed, bullied, or abused as a child, witnessing abuse, growing up in dysfunctional families, and growing up in conflict-ridden refugee camps (…)” (Lankford & Hakim 2011, S. 102). Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Akteure war ein geringes Selbstbewusstsein, was, so meine Vermutung, wiederum mit belastenden Kindheitserfahrungen in einem Zusammenhang stehen könnte.

In Kanada wurden Interviews mit sieben islamistisch-radikalisierten Personen geführt. Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen wurden nicht vertiefend ausgeführt. Allerdings zeigt eine Zusammenfassung in eine eindeutige Richtung: „Significantly, most interviewees, particularly the converts, led a deeply troubled existence during their youth and in a number of cases came from broken homes or dysfunctional families. For instance, one convert was forced to grow up without his father after his father was imprisoned for murdering a police officer” (Ilardi 2013, S. 714). In der Folge dieser Erfahrungen neigten viele der Befragten zu selbstschädigendem Verhalten wie Alkohol-/Drogensucht oder Spielsucht. 

Van Leyenhorst & Andres (2017) haben 26 Fälle aus den Niederlanden auf Grundlage von Akten analysiert. Die analysierten Akteure waren bzgl. dschihadistischer Taten in oder für ISIS in Syrien verdächtigt. Bzgl. der Vorerfahrungen in der Kindheit gibt einige wenige, aber interessante Daten: “More than half of the suspects (54%) were brought up in large families with six or more siblings. Fourteen suspects experienced one or more separations and nine grew up without a father being present” (Leyenhorst & Andres 2017, S. 325). Dazu muss ich anmerken, dass ich bei einer solch hohen Geschwisterzahl potentiell und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von elterlicher Vernachlässigung oder zumindest entsprechenden Gefühlen der Kinder ausgehe. Viel Zeit der Eltern für das einzelne Kind ist in solchen Familien einfach nicht schaffbar.
In der Studie wurde nur von vier Akteuren Aussagen zitiert. Eine davon begann so: “My parents were divorced and my stepfather favoured his own kids over me. […] I was bullied at school and was eventually placed in foster homes. […] I felt I belonged to no one and asked myself questions about belonging and meaning in life. I started to find answers in religion (…)“ (Leyenhorst & Andres 2017, S. 319). Hier werden im Einzelfall vielfältige Kindheitsbelastungen deutlich.

Ebenfalls aus den Niederlanden kommt eine Studie (Grimberger & Fassaert 2022), für die 34 Personen (davon 29 männlich)  analysiert wurden, die bzgl. gewalttätigen Extremismus verdächtigt wurden. Die Personen waren in einer Art Präventionsprojekt registriert, in dem alle Spektren des Extremismus auftauchen. In der Studie wird nicht klar, welchem Spektrum die hier behandelten Akteure zuzuordnen sind. Allerdings hatten 88,2% einen Migrationshintergrund und fast alle von diesen Akteuren hatten Familienhintergünde aus islamischen Ländern wie z.B. Syrien, Marokko, Ägypten oder der Türkei. Ich gehe insofern davon aus, dass die meisten der 34 Akteure bzgl. islamistischem Extremismus verdächtigt wurden.
Die Kindheishintergründe der Befragten waren i.d.R. belastet. 35,3% berichteten von vier oder mehr belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs). Die häufigsten ACEs waren emotionale Vernachlässigung (47,1 %), psychische Erkrankungen im Haushalt (44,1 %), Verlust eines Elternteils (38,2 %), Miterleben von häuslicher Gewalt (23,5%) und Misshandlungen (23,5%). 

Mohammed & Neuner (2022) haben 59 männliche Jugendliche/junge Erwachsene im Gefängnis von Erbil (kurdisches Gebiet im Irak) interviewt, die für terroristische Taten vor allem im Rahmen von ISIS verurteilt worden waren.
Zu Gewalterfahrungen in der Familie wurden acht Fragen gestellt. Im Durchschnitt hatten die Befragten 2,84 verschiedenen Formen von Gewalt in der Familie erlitten. Die drei häufigsten Formen der Gewalt wurden von den Autoren zahlenmäßig genannt: 81,4 % wurden geschlagen, 50,8 % wurden Zeuge, wie Familienmitglieder geschlagen wurden und ebenfalls 50,8% wurde gesagt, sie seien ein schlechter Sohn. Auch bzgl. der psychischen Situation der Befragten fand man Auffälligkeiten. 69.5% zeigten Kriterien für eine mögliche Posttraumatische Belastungsstörung und 89,8% für Depressionen.
Außerdem standen traumatische Erfahrungen in einem starken Zusammenhang zu von den Befragten selbst berichtetem Täterverhalten: “We also found that history of victimization (war events, family violence and ISIS specifc events) was strongly correlated with perpetration events reported by the sample. This interaction could be possibly explained through the habituation to violence and the vicious cycle of violence“ (Mohammed & Neuner 2022, S. 9).

In Frankreich fand eine Befragung von 150 Jugendlichen/jungen Erwachsenen, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, statt (Oppetit et al. 2019).

Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen stellen sich wie folgt dar:

Körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch: 26,7 %

Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen: 85,3 %

Verlassenheitserfahrungen: 82 %

Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds: 32 % 

Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %

Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %

Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %

Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %

Nina Käsehage hat 50 Dschihadistinnen aus Europa befragt. Sie fasst die Ergebnisse bzgl. der Kindheit der Befragten wie folgt zusammen: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel  »relief« or to »recover«” (Käsehage 2020, S. 182). Aus Platzgründen bespricht sie in dem Artikel nur ein Fallbeispiel ausführlich zur Anschauung. Dabei werden vor allem auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit deutlich. 

In einem aktuelleren Artikel geht sie speziell auf die Kindheitserfahrungen von 20 Dschihadistinnen aus Deutschland ein (Käsehage 2023). Den Artikel habe ich hier im Blog bereits besprochen. Die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen der Befragten werden in dem Artikel überdeutlich. 

Im Jahr 2024 wird Nina Käsehage das Buch „Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung“ veröffentlichen. In dem Buch wird aus Befragungen von 60 Mädchen und jungen Frauen aus dem salafistisch-dschihadistischen Milieu in Europa eingegangen. Vermutlich werden die Kindheitshintergründe dort noch ausführlich ausgebreitet werden, als in den beiden zitierten Artikeln.

Nur Einzelfälle?

Ich selbst habe für mein Buch einige Kindheiten von islamistischen Terroristen recherchiert (Fuchs 2019, S. 196-201): Ich fand schwere Belastungen in der Kindheit von Osama bin Laden (Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida), Zacarias Moussaoui (Islamist, der ursprünglich für al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus lenken sollte), der Brüder Chérif und Saïd Kouachi (Anschlag auf Charlie Hebdo) (siehe auch im Blog dazu hier und hier), Youssef Zaghba (islamistische Terroranschlag in London vom 03. Juni 2017), Syed Farook (islamistische Terroranschlag in San Bernardino, USA vom 2. Dezember 2015) (siehe auch unten im Text) und Hasna Ait Boulahcen (Islamistin und Cousine des Drahtziehers der Anschläge in Paris vom November 2015, die sich bei einem Polizeieinsatz selbst in die Luft sprengte). 

Der islamistische Terroranschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, Syed Farook, ist einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden. "Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein" (Medick 2015).

Die Forschungsarbeit von Martin Schäuble (2011) beinhaltet zwar nur zwei Fallbeispiele, allerdings glänzt die Arbeit durch eine unvergleichliche Tiefe und Ausführlichkeit bei der Biografieforschung. Umfassend werden die Lebenswege von „Daniel“ (ein deutscher Konvertit, sich der Islamischen Dschihad Union anschloss und mit seinen Gesinnungsbrüdern, die in Deutschland unter dem Namen Sauerland-Gruppe bekannt sind, einen Anschlag plante) und „Sa'ed“ (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte) vorgestellt. Beide Extremisten sind in autoritären Elternhäusern aufgewachsen und haben diverse traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht. 

"Fatma" ist mit einem Jihadisten der Sauerland-Gruppe verheiratet und war eine Schlüsselperson der virtuellen Welt des Jihadismus. Neben dem Fall „Daniel“ bekommen wir also einen ergänzenden Blick auf die Kindheit der Akteure des entsprechenden Netzwerks: Ihre Eltern trennten sich früh, die Mutter, mit der es offensichtlich viele Konflikte gab, war anschließend alleinerziehend. „Von ihrer Mutter wurde sie streng, aber nicht religiös erzogen. Die Mutter scheint gewalttätig gegenüber ihrer Tochter gewesen zu sein“ (Baehr 2020, S. 162).

Für eine klinische Studie wurde der Fall "Lea" ausführlich vorgestellt. Lea wurde vier Jahre lang seit ihrem siebzehnten Lebensjahr im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts gefolgt. Lea radikalisierte sich islamistisch und zog in Erwägung, nach Syrien auszureisen und sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Die traumatischen Kindheitsbedingungen werden recht ausführlich besprochen und an einer Stelle wie folgt zusammengefasst: "In total, at the time of her radicalization, Lea is a 17-year old girl whose childhood was marked by early and repeated trauma such as neglect, physical and sexual abuse, humiliation combined with emotional deprivation and attachment disorders" (Rolling et al. 2022, S. 4).

Der Fall Harry M. ist laut dem Autorenteam Dantschke et al. (2011) ein "typischer Fall" für eine Radikalisierung. Dazu gehört auch eine sehr destruktive Kindheit. Seinen Vater kenne er nicht, dieser habe die Familie verlassen, als Harry zwei Jahre alt war. Mit der Mutter gab es offenbar ständig Probleme; als Harry dreizehn Jahre alt war, schmiss sie ihn raus. "Harry übernachtete mal hier, mal dort, schlug sich irgendwie durch" (Dantschke et al. 2011, S. 74). Er nahm Drogen und Alkohol zu sich, um sich zu beruhigen. Mit 16 Jahren schmiss er die Schule und kam dann durch einen Schwager mit dem Islam in Verbindung. Verschiedene islamistische Prediger prägten in der Folge den jungen Mann für seinen weiteren Weg in die Radikalität.
In der Frankfurter Rundschau wird sein Leben wie folgt kurz beschrieben: „Sein Werdegang im Schnelldurchlauf: Heimaufenthalte, Drogenexzesse, Blitzradikalisierung. Harry M. machte sich in der Salafistenszene schnell einen Namen“ (Behr 2019). 

Der als IS-Terrorist angeklagte Kerim Marc B. hat vor Gericht über seine Kindheit berichtet.
"Sein Stiefvater habe ihn oft geschlagen und verprügelt, etwa wegen schlechter Schulnoten. Seine Mutter habe sein Gesicht auf Familienfotos herausgeschnitten. Bevor sie in Urlaub gefahren sei, habe sie ihn zu Verwandten gebracht. Er habe mit seinen Eltern nie über Gefühle sprechen können. Der Islam habe ihm in dieser Situation Halt gegeben. Der Gang zur Moschee sei eine Rebellion gegen sein Elternhaus gewesen“ (Welt-Online 2016). 

Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat“. Und über die Mutter: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“ (Thieme 2015). Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging" (Focus-Online 2015).
In einer anderen Quelle wird formuliert: “Harun’s parents were from Afghanistan, but he was born and raised in the wealthy city of Munich. Based on his testimony, Harun had a bad relationship with his father, who was very religious and often beat him. Harun also engaged in self-mutilation, `to relieve pressure,` cutting his arms so they required stitches” (Hellmuth 2016, S. 33).
Dazu kamen weitere Problemlagen im Lebensverlauf (unschwer zu erkennen teils sicher auch mit seinen Kindheitserfahrungen verbunden): Er litt unter Depressionen, nahm Drogen, neigte zu Selbstverletzungen und nahm seit der Jugend auch fast täglich Schmerzmittel. Drei Berufsausbildungen scheiterten. Dazu kam ein weiteres traumatisches Erlebnis: Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin starb kurz nach der Geburt (Focus-Online 2015; Thieme 2015). 

Auch bei weiteren Einzelfall-Recherchen stieß ich auf deutlich belastete Kindheiten. So ist z.B. über Arid Uka, der am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland verübte, bekannt, dass er eine schwierige Kindheit hatte. Geboren im Kosovo erlebte er als Säugling die frühe Scheidung seiner Eltern, Auswanderung des Vaters zusammen mit dem Säugling nach Deutschland, jahrelange Trennung von der Mutter, Leben in relativer Armut, kaum Unterstützung im familiären Umfeld und in Jugend Erkrankung des Vaters mit anschließender Verschlechterung der eh schon prekären Verhältnisse (Ben Slama 2020, S. 338). Hinzu kam ein traumatisches Erlebnis als er sechs oder sieben Jahre alt war: Ein fremder Mann missbrauchte ihn sexuell in einem Park (Safferling et al. 2011).

Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war: „Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger 2013). Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Er wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth 2016, S. 27f.). Jemaine, der Halb-Bruder von Denis, berichtet in einem Podcast von seinem Vater, dem Stiefvater von Denis „Mein Vater war sehr sehr streng“. Er sei gegenüber Denis strenger gewesen, als gegenüber ihm. Außerdem habe der Vater selbst eine „sehr sehr harte Kindheit“ gehabt. „Was Du halt kennst ist für dich normal und so gibst du es weiter. Wir haben auch, ich und mein Bruder, haben auch kassiert, von meinem Vater. Wir haben auch kassiert“ (funk – von ARD und ZDF 2022). Gemeint ist hier Gewalt! 

Große Bekanntheit erreichte in Deutschland auch der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau. In seiner Autobiografie hat er deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben. Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der Trennung sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.). 

Omar Mateen (Massenmörder und Attentäter von Orlando), der sich vor seiner Tat zum „Islamischen Staat“ bekannte, hatte ebenfalls eine belastete Kindheit. Eine ehemalige Nachbarin sagte in einem Interview, dass Omar ein sehr rastloses und schwer zu kontrollierendes Kind gewesen sei. Seine Mutter habe ihn häufig geschlagen. „She said that Mateen’s mother `used to slap him a lot` when he got too rambunctious” (New York Daily News 2016). Aber auch der Vater schlug Mateen einmal vor aller Augen vor der Schule seines Sohnes ins Gesicht (Sullivan & Wan 2016). Ebenso gibt es Hinweise auf häusliche Gewalt im Hause Mateen. Omars Mutter wurde 2002 inhaftiert, weil sie gewalttätig gegen ihren Ehemann wurde (Montero 2016). In einem anderen Bericht wurde ebenfalls über die Inhaftierung der Mutter geschrieben. Omars Mutter habe allerdings ausgesagt, ihr Mann hätte gedroht, sie zu töten (Jones 2016). Welche der beiden Versionen auch immer stimmen mag, häusliche Gewalt war offenbar eine Realität.

Der ehemalige islamistische Extremist Jesse Curtis Morton (bis 2012 nannte er sich: Younus Abdullah Muhammad) sagte über seine Kindheit: “I came from a very tumultuous childhood, where there was very severe abuse. And when I reached out to my society and tried to get assistance to stop that abuse, the school, my family, and the society around me didn't prevent it. And so, at a very young age, I rejected American culture and the American way of life, so to say, and sought a new identity” (PBS NewsHour 2016). 

Robert Baumleft for Egypt and Syria in fall 2012, together with his best friend, Christian Emde. He was from the small town of Solingen, where his father died of cancer shortly before Robert’s thirteenth birthday. Robert went on to complete Hauptschule and joined the German military when he was 17, but was discharged for disseminating right-wing extremist propaganda” (Hellmuth 2016, S. 32). In diesem Fall wird das Trauma “Tod des Vaters“ deutlich, ergänzend auch früh die Lust am Militärischem und Extremismus. Weitere Infos über seine Kindheit fand ich leider nicht. 

Harry  S. konvertierte zum Islam und radikalisierte sich, was schließlich zu seiner Ausreise in die Kampfgebiete nach Syrien führte. In Deutschland wurde er nach seiner Rückkehrt inhaftiert.
"Harry  did  not  experience  the  proverbial  happy  childhood.  His  Christian  parents emigrated   from   Ghana   to   Germany,   but   separated   once   they   settled   in   a   blue-collar neighborhood  of  Bremen,  a  large  city  in  Northern  Germany.  His  American  stepfather  was arrested by German police when Harry was four years old. The biological father rejoined the family but regularly beat the children. Harry’s mom worked late hours. His older stepbrother was shot to death when Harry was a teenager
” (Hellmuth 2016, S. 37).

Abdullah al H. H. kommt aus Syrien und hat sich in Deutschland dem "Islamischen Staat" zugewandt. Nach einem schweren Angriff auf ein schwules Paar (einer der beiden starb) stand er vor Gericht. Seine Kindheit wurde dort nicht ausführlich behandelt (vor allem auch was den elterlichen Erziehungsstil angeht, der in Syrien sehr oft gewaltbelastet ist), zeigt aber in eine deutlich belastete Richtung:
"Mit seinen Eltern und acht Geschwistern lebte er in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Aleppo. Die Schule besuchte er bis zur fünften Klasse, früh fiel er durch Schlägereien und Diebstähle auf. 2015 schickte ihn sein Vater fort. Er solle sich ein Leben in Deutschland aufbauen, Geld für die Familie verdienen und die Eltern später nachholen. Abdullah al H. H. war 15 Jahre alt, als er seine Heimat verließ" (Ramm 2021).

Colleen LaRose, "a white woman from suburban Philadelphia who became a Muslim jihadist and has pleaded guilty to conspiracy to murder a Swedish cartoonist under the codename "Jihad Jane" has revealed that she was drawn to Islam because it gave her a sense of belonging after a troubled childhood in which she was raped over many years by her biological father"  (Pilkington 2012).

17-Jähriger aus Österreich: Der Jugendliche war Anhänger vom "Islamischen Staat" und wollte eigenen Angaben zufolge am 11. September 2023 am Wiener Hauptbahnhof einen Terror-Anschlag verüben. Geplant war auch, dass er durch die Aktion ums Leben kommt. Eine Kinder- und Jugendpsychologin wies auf diverse traumatische Belastungen in der Kindheit des Angeklagten hin, darunter der Tod der Mutter als der junge Mann sechs Jahre alt war, Mobbingerfahrungen in der Schule, "ungünstige soziale Umstände" und "weitere Belastungsfaktoren" (Tiroler Tagesanzeiger 2023).

Die Kindheiten der Brüder Merah (islamistische Terroranschläge in Frankreich) habe ich im Blog bereits ausführlich besprochen und verweise an dieser Stelle darauf bzw. spare mir die erneute Ausführung hier. Auch die Kindheit des Top-Terroristen Khalid Scheich Mohammed habe ich hier besprochen. 

Einzelfallanalysen sind Einzefallanalysen (ich habe wirklich lange über diesen Satz nachgedacht…). Aufhorchen sollten wir, wenn sich „Einzelfälle“ häufen, wie hier gezeigt. Noch mehr Gewicht bekommen die Einzelfälle, wenn die Studienlage bzgl. größerer Befragungsrunden oder Auswertungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt, auch das konnte hier gezeigt werden. 

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass destruktive Kindheitshintergründe bei islamistischen Extremisten/Terroristen ganz offensichtlich eine ähnliche große Rolle spielen, wie beim Rechtsextremismus  (siehe dazu auch: Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien)Die innerpsychischen Dynamiken scheinen „verwandt“ zu sein. Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen (oder auch sozialpsychologische Hilfen für Kinder, die bereits solche Erfahrungen gemacht haben) sind demnach zentral, um auch dem islamistischen Extremismus und Terror zu entgegen. 

Anhang: Hatten Terroristen die vergleichsweise friedlichsten Kindheiten? Zwei Studien und meine Kritik dazu

Erwähnt werden muss auch eine Studie von Speckhard & Ellenberg (2020), die aufzeigte, dass IS-Terroristen die weltweit verglichen friedlichsten Kindheiten überhaupt hatten. Vor allem die männlichen Befragten zeigten bei allen möglichen Misshandlungswerten in der Kindheit Werte auf, die zwischen 0 und 1,7% lagen! Selbst in Schweden, das statistisch nachweisbar weltweit führend ist, wenn es um eine gewaltfreie Kindheit geht, findet man in der Allgemeinbevölkerung keine solch niedrigen Misshandlungsraten. Die Studie und ihre Methodik habe ich hier im Blog ausführlich kritisiert und möchte dies nicht wiederholen. Ich halte es für einen Fehler der Autorinnen, dass sie diese Studie nicht selbstkritisch hinterfragt haben. Wer sich mit Daten über und dem Thema Kindesmisshandlung an sich auskennt, kann solche Ergebnisse nur anzweifeln. 

Ähnlich kritisch sehe ich die Studie von Clemmow et al. (2020), die 125 “Lone-Actor“ Terroristen (verschiedene Extremismusrichtungen) und 2.108 Befragte aus der Allgemeinbevölkerung bzgl. verschiedenster Bereiche verglichen haben. Auch belastende Kindheitserfahrungen wurden verglichen. Die Allgemeinbevölkerung war deutlich belasteter in der Kindheit als die Terroristen! 

Schaut man auf die Methodik, wird allerdings schnell klar, wodurch die großen Unterschiede kamen: Die Leute aus der Allgemeinbevölkerung wurden ausführlich und direkt befragt, bzgl. der Terroristen gab es keine Befragungen, man sammelte öffentlich zugängliche Datenquellen wie z.B. Gerichtsberichte oder Medienberichte. Bei einem so sensiblen Bereich wie Kindesmisshandlung ist es nur logisch, dass hier unterschiedliche Ergebnisse zu Tage treten! Auch diese Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen.

Beide Studien zeigen auf, dass bzgl. des Themas belastende Kindheitserfahrungen ein geschulter Blick wichtig ist, um Ergebnisse auch richtig darstellen und einordnen zu können. (siehe ergänzend und zur Info auch meinen Text: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung)

 


Quellenverzeichnis

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Kindheit in Gaza und der nie enden wollende Krieg und Terror

(aktualisiert: 12.01.2024)


Erinnert dieser Blogtitel jemanden an etwas? Ja richtig, ich habe den Titel an meinen Blogbeitrag "Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror" aus dem Jahr 2021 angelehnt. Ich halte es für keinen Zufall, dass die Krisenregionen dieser Welt stets auch ein alptraumhaftes Bild bzgl. der Situation von Kindern aufweisen. 

Kinder werden in Gaza und auch den anderen Gebieten der Palästinenser in der Region extrem häufig belastet und traumatisiert. Wer meine Arbeit kennt, der weiß, worauf ich hinaus will: Denn die Kindheit ist politisch! 

Das bedeutet, dass belastenden Kindheitserfahrungen politisch höchst destruktive Wirkungen haben können. Dazu gehört u.a. auch eine besondere Anfälligkeit für Extremismus, Radikalisierung und Terror (vor allem auch für Jungen/Männern), aber auch Folgen bzgl. der Organisation und politischen Führung eines ganzen Landes. 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich über die palästinensischen Gebiete etwas schreibe (siehe hier: "Gewalt gegen Kinder in Israel und Palästina. Ein Zusammenhang zur irrationalen politischen Gewalt?"). Dies möchte ich heute mit einigen Daten auffrischen. 

In einer großen UNICEF-Studie wurden viele Länder bzgl. der Situation von Kindern miteinander verglichen. Die Studie zeigte, dass in den palästinensischen Gebieten die besonders sensible Gruppe der ein Jahr alten Kinder zu über 85% innerhalb von vier Wochen körperliche und/oder psychische Gewalt durch Erziehungspersonen erleben, der höchste Wert der Vergleichsauswertung (UNICEF - United Nations Children’s Fund 2017, S. 27).

Der aktuellste MICS-Report von UNICEF zeigt für die palästinensischen Gebiete (Auswertung bzgl. 16.387 Kindern zwischen einem und vierzehn Jahren), dass innerhalb von vier Wochen 87,5% aller Kinder psychische Gewalt, 69,15% körperliche Gewalt und 20,1% besonders schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen erleben. Rein gewaltfreie Methoden der Disziplinierung innerhalb der Familie erleben nur 7,4% aller Kinder (Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF 2021, S. 230).

Der spezielle MICS-Report "Palestinian Camps and Gatherings in Lebanon" von UNICEF ist hier ebenfalls von Interesse. Die palästinensischen Flüchtlingskinder im Libanon erleben ähnlich hohe Raten von Gewalt wie im vorherigen MICS-Report gezeigt. 
Auszugsweise möchte ich den Blick auf die sensible Altersgruppe der zwei bis vier Jahre alten Kinder lenken. Innerhalb von vier Wochen erleben 85,6 % dieser Kinder psychische Gewalt, 76,6% körperliche Gewalt und 20,4% besonders schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen. Rein gewaltfreie Methoden der Disziplinierung innerhalb der Familie erleben nur 6,6% aller Kinder dieser sensiblen Altersgruppe (Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF 2012, S. 126).

Interessant ist auch der Vergleich zwischen der Westbank und Gaza. In der Westbank erleben demnach 20,6% der Jungen und 13,7% der Mädchen (im Alter zwischen null und elf Jahren) innerhalb eines Jahres schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen. In Gaza sind die Gewaltraten deutlich höher: Dort erleben 33,4% der Jungen und 24,7% der Mädchen schwere körperliche Gewalt (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 29).

Auch die Gesetzeslage in der Region ist sehr rückständig, in den meisten gesellschaftlichen Bereichen sind Körperstrafen gegen Kinder erlaubt. Prohibition of corporal punishment “is still to be achieved in the home, alternative care settings, day care, some schools and possibly some penal institutions and as a sentence for crime” (End Corporal Punishment 2021).

Im Jahr 2021 wurden Daten von 772 schwangeren palästinensischen Flüchtlingsfrauen, die in fünf Geburtskliniken in Jordanien behandelt wurden, ausgewertet. 88% der Befragten erlebten mindestens eine Form von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences - ACEs). 26% erlebten vier oder mehr Formen von ACEs (Horino et al. 2023). Mehrere ACEs-Werte standen der Studie nach in einem Zusammenhang mit Fettleibigkeit, psychischen Erkrankungen und Rauchen.

Auch wenn zumindest in den meisten dortigen Schulen Körperstrafen gegen Schüler verboten sind, heißt dies nicht, dass die Lehrkräfte sich alle daran halten. Beispielsweise erlebten 10 % der Mädchen und 41% der Jungen (Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren) im Gaza-Streifen innerhalb eines Jahres körperliche Gewalt durch eine Lehrkraft. Ergänzend erlebten 10% der Mädchen und 24% der Jungen psychische Gewalt durch eine Lehrkraft (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 18).
Hinzurechnen muss man die Kinder, die Zeugen dieser Gewalt durch Lehrkräfte werden. Auch Zeugenschaft kann schädigende Folgen haben und vermittelt auch ein Gefühl, in der Schule keinen sicheren Ort zu haben. 

Die Schule ist in Gaza zudem ein Ort, an dem eine ideologische Indoktrination stattfindet; organisiert von der Terrorgruppe Hamas, die dort alle Lehrerverbände und Gewerkschaften kontrolliert. "Terroranschläge werden im Unterricht als notwendiges Mittel im gewaltsamen Kampf für die Befreiung Palästinas thematisiert. (...) Das Bus-Attentat von 1978 unter der Leitung von Dalal al-Mughrabi (Kommandantin einer Gruppe von Fatah-Terroristen), bei dem 38 Zivilisten ums Leben kamen, wird in der fünften Klasse behandelt. Dabei dient Mughrabi als nachahmenswertes Vorbild. Dies sind nur einige Beispiele einer Reihe von ähnlichen Fundstellen in aktuellen Schulbuchausgaben" (Goldstein 2021). 
Gewalt und Hass kennen diese Schüler und Schülerinnen schon reichlich aus ihrem Leben und aus eigener Erfahrung. Der Hamas-Lehrplan gibt diesen so geprägten (oft traumatisierten) Kindern ein Ziel vor, auf das sie ihren Hass kanalisieren können (anstatt die eigenen Eltern, Lehrer und Nachbarn anzuklagen). 
Tausende Jugendliche werden zusätzlich militärisch in "Sommercamps" von der Hamas ausgebildet. Zum Training gehöre der Umgang mit Granaten, Sprengsätzen und Sturmgewehren (Rössler 2015). Der emotionalen "Aufrüstung" (durch belastende Erfahrungen) folgt also eine handfeste, militärische Aufrüstung, woraus nichts Gutes entstehen kann. Die ideologische Indoktrination stellt eindeutig eine besondere Form von Kindesmissbrauch dar. 
Teils gibt es auch Einzelberichte über massive Traumatisierungen von Kindern in Ausbildungslagern der Hamas. Yaron Abraham, "a former Hamas terrorist-in-training told an Israeli news station of his brutal upbringing — including watching other children being beheaded and being forced to lie in graves to practice being a martyr — as he was indoctrinated by Hamas in Gaza during his childhood" (Pearce 2023)Die Ausbildung dort würde die Kinder auf den Tod im Kampf vorbereiten. 

Einen sicheren Ort finden die Kinder (zwölf bis siebzehn Jahre alt) auch draußen auf den Straßen oftmals nicht. 10% der Mädchen und 52% der Jungen erleben innerhalb eines Jahres auf den Straßen von Gaza Gewalt durch Andere (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 17).

Und wo wir gerade beim Thema Zeugenschaft waren: 26% der Frauen in Gaza, die verheiratet sind oder jemals verheiratet waren, erlebten innerhalb eines Jahres körperliche Gewalt durch ihren Ehemann, 11% erlebten im gleichen Zeitraum sexuelle Gewalt und 64% psychische Gewalt. Aber auch Ehemänner erleben – nach Angaben der Frauen - Gewalt durch ihre Ehefrauen: 37% der Männer in Gaza erlebten innerhalb eines Jahres psychische Gewalt und 14% körperliche Gewalt (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 20, 33). Sofern Kinder im Haushalt diese Gewalt mitbekommen, stellt dies eine enorme Belastung auch für die Kinder dar.

Was in den vielen Statistiken (obigen Angaben sind nur einige Auszüge) des Palestinian Central Bureau of Statistics (2019) auffällt ist, dass die Menschen im Gaza-Streifen durchweg in allen Gewaltbereichen häufiger betroffen sind, als die Menschen in der Westbank. Wenn es um Gewalt gegen Kinder geht, fällt zudem auf, dass Jungen i.d.R. häufiger Gewalt erleben, als Mädchen (dies gilt auch für die Westbank). Beide Sachverhalte könnten eine Rolle bei der Analyse von Gewalt in der Region spielen, auch was Unterschiede zwischen z.B. politischer Gewalt in Gaza und der Westbank angeht. 

Dazu kommen die Erlebnisse von Gewalt, Krieg und Terror außerhalb der Familie.
So fand man nach einer Befragung von 607 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Gaza-Streifen heraus, dass 97,2% der Befragten bis zum Jahr 2006 mindestens sechs traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit kriegerischen Ereignissen gemacht hatten and 100% der Befragten hatten mindesten 21 solch traumatische Erlebnisse bis zum Jahr 2021 erlebt (Mohamed et al. 2023). Entsprechend hoch waren auch die Anzeichen für eine Posttraumatische Belastungsstörung. 

Im Jahr 2013 wurden 1029 Schulkinder im Alter zwischen elf und siebzehn Jahren im Gazastreifen befragt. Jedes Kind hatte mindestens ein traumatisches Erlebnis in Zusammenhang mit kriegerischen Ereignissen gemacht. 88,3% hatten direkte traumatische Erfahrungen, 83,7% wurden Zeugen von traumatischen Erfahrungen anderer Menschen und 88.2% wurden Zeugen von Zerstörungen durch den Krieg. 54% der befragten Schüler trafen die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung (El-Khodary 2020). 

Im Jahr 2010 wurden 449 Kinder im Gaza-Streifen befragt. Die Kinder hatten im Durchschnitt ca. 3,6 unterschiedliche traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit Krieg gemacht. 12.4% trafen deutlich die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung, ca. ein Drittel trafen teilweise die Kriterien einer Posttraumatische Belastungsstörung, 20,5% hatten Angststörungen und 22,3% zeigten Depressionen (Azis et al. 2015).

Armut, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und weitere Problemlagen in dieser Region sind hinreichend bekannt und nicht minder folgenreich. 

Solche Gesellschaften sind tief traumatisierte Gesellschaften. Trotzdem wird nicht die Mehrheit der Menschen dort zu Terroristen (tatsächlich dürften die meisten negativen Folgen im körperlichen und psychischen Gesundheitsbereich auszumachen sein), aber die Wahrscheinlichkeiten dafür steigen. Diese "Trauma-Täter" sind es dann, die grauenvolle Taten begehen. 

Ihre Taten werden nur auf Basis eines abgespaltenen, entfremdeten Selbst möglich (Gruen 2002). Mitgefühl ist dann nicht mehr möglich. Ohne das Fühlen sind Menschen zu allen erdenklichen Taten fähig. Es sind keine „Barbaren“ oder „menschlichen Tiere“ (wie wir so oft in den Medien lesen konnten), die Israel mit Folter, Tod und Grauen überzogen haben. Es sind Menschen mit einer Trauma-Geschichte; Menschen, die ihre menschlichen Gefühle verloren haben und in absoluten Hass abgeglitten sind. Und ja, es sind Täter, die trotzdem voll für ihre Taten verantwortlich sind. Ihre Traumageschichte entschuldigt nichts!
Und ja, solche „Trauma-Täter“ müssen gestoppt werden, denn ihre Entwicklung ist abgeschlossen und unter den Umständen vor Ort wohl nicht mehr rückgängig zu machen bzw. bzgl. Hassgefühlen abzumildern.

Ich plädiere an dieser Stelle eindringlich dafür, die von Israel gefangen genommen Hamas-Terroristen später ausführlich bzgl. traumatischen Erfahrungen (vor allem auch in der Kindheit) zu befragen. Die Ergebnisse werden sicher aufschlussreich sein, auch bzgl. der langfristigen Prävention. 

Fataler Weise überzieht das israelische Militär in seiner aktuellen Reaktion und Terrorabwehr neben Hamas-Terroristen auch die Bevölkerung in Gaza, dabei vor allem auch die Kinder, mit neuen schweren Traumaerfahrungen. Gepaart mit den Gewalterfahrungen in den Familien, Schule und Nachbarschaft entsteht heute in Gaza die neue Trauma-Generation, die morgen eine traumatisierte Gesellschaft bilden und gestalten wird. Der Kreislauf schließt sich erneut... 

Die kriegerischen Ereignisse vor Ort füllen aktuell den Nährboden für Terrorismus und Hass enorm auf.

Von manchen Experten hörte ich sagen, dass die Mentalität vor Ort eine andere sei und die radikalisierten Kreise keine harte Reaktion mit Schwäche gleichsetzen würden. Das mag so sein oder auch nicht. Bzgl. der sachlichen Traumanalyse bleiben alle politischen Überlegungen an dieser Stelle irrelevant. Denn Menschen sind überall gleich, wenn es um mögliche Traumafolgen geht. Eine „harte Reaktion“ bedingt vielfache neue Traumatisierungen und schürt die Gefühlskälte und den Hass, denen es langfristig ja eigentlich zu entgegen gilt. Dies bleibt, wie auch immer man die politische Lage vor Ort einordnen mag, eine Tatsache. 

Die neuen Kriegstraumatisierungen werden zudem auch transgenerational weitergegeben. Kriegstraumatisierte Menschen haben keine guten Ausgangsbedingungen dafür, besonders gute, herzliche und fürsorgliche Eltern zu werden. "Blitzableiter" werden in vielen Fällen erneut die Kinder sein. 

Abschließend noch der Hinweis auf den Fall "Sa'ed“ (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte). Sein Fall zeigt genau diese Kombination von Belastungen bzw. kumulierte Trauma-Erfahrungen (Familie, Umfeld + Kriegserlebnisse) auf, die schließlich in die Radikalisierung führten. Seinen Fall habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen. 

Dieser Text steht außerdem in einer Linie mit dem Text "Kindheit und islamistischer Extremismus/Terrorismus - eine Übersicht", den ich zeitgleich veröffentliche. 


Quellen:

Azis, A., Thabet, M. & Vostanis, P. (2015). Impact of Trauma on Palestinian Children’s and the Role of Coping StrategiesBritish Journal of Medicine & Medical Research, 5(3), S. 330-340.

El-Khodary, B., Samara, M. & Askew, C. (2020). Traumatic Events and PTSD Among Palestinian Children and Adolescents: The Effect of Demographic and Socioeconomic Factors. Front Psychiatry. 11(4). doi: 10.3389/fpsyt.2020.00004 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7137754/

End Corporal Punishment (2021). Corporal punishment of children in the State of Palestine. http://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/StateOfPalestine.pdf

Goldstein, T. (2021, 02. Mai). Palästinensische Schüler lernen Hass und Gewalt – mit deutschen Geldern. Welt-Online. 

Gruen, A. (2002). Der Fremde in uns. Deutscher Taschenbuchverlag, München.

Horino, M., Abu-Rmeileh, N.M.E.,  Yang, W., Albaik, S., Al-Kathib & Seita, A. (2023). Exploring the link between adverse childhood experiences and mental and physical health conditions in pregnant Palestine refugee women in Jordan. Public Health, Volume 220, S. 179-186. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0033350623001531?via%3Dihub

Mohamed, A. S. A., El-Asam, A. & Khadaroo, A. (2023). Impact of chronic war trauma exposure on PTSD diagnosis from 2006 -2021: a longitudinal study in Palestine. Middle East Current Psychiatry, 30(14), S. 1-8. https://mecp.springeropen.com/articles/10.1186/s43045-023-00286-5

Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF (2012). Final Report of the Multiple Indicator Cluster Survey in the Palestinian camps and gatherings in Lebanon in 2011. Ramallah – Palestine.

Palestinian Central Bureau of Statistics (2019). Preliminary Results of the Violence Survey in the Palestinian Society 2019. Ramallah – Palestine. https://palestine.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/violence_survey_preliminary_results_2019.pdf

Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF (2021). Palestinian Multiple Indicator Cluster Survey 2019-2020, Survey Findings Report. Ramallah, Palestine.

Pearce, T. (2023, 10. Nov.). Man Raised By Hamas Tells Horrifying Story Of Their Brutal Indoctrination. Daily Wire. https://www.dailywire.com/news/man-raised-by-hamas-tells-horrifying-story-of-their-brutal-indoctrination 

Rössler, H.C. (2015, 01. Feb). GAZA - Tausende Jugendliche trainieren für den Krieg. FAZ.net. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/gaza-streifen-tausende-trainieren-fuer-den-krieg-13399720.html

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2017). A familiar face: violence in the lives of children and adolescents. New York.



Freitag, 20. Oktober 2023

Kindheit von Joe Biden

Über die Kindheit von US-Präsident Joe Biden fand ich den verwendeten Quellen nicht all zu viele Informationen, die es hier hervorzuheben gilt. 

Ich bin ja bekanntlich jemand, der eher auf belastende Kindheitserfahrungen fokussiert ist, gerade auch bei politischen Führern. Joe Biden sticht allerdings als Person und Präsident nicht gerade durch eine derartige Destruktivität hervor, wie sie einige seiner Vorgänger gezeigt haben. Insofern hatte ich persönlich auch nicht damit gerechnet, eine hoch traumatische und gewaltbelastete Kindheit bei ihm zu finden, wie ich sie z.B. bei Donald Trump oder George W. Bush fand. 

Joe Biden wurde 1942 in den USA geboren. Beide Sachverhalte (Sitten der damaligen Zeit und hohe Gewaltbelastungen – auch heute noch - vieler amerikanischer Kinder) erhöhen i.d.R. allein statistisch die Wahrscheinlichkeit für Belastungen in der Kindheit. Darunter zähle ich u.a. die Wahrscheinlichkeit, von den eigenen Eltern Prügelstrafen verabreicht bekommen zu haben. Nun, wir werden sogleich sehen, was ich fand. 

Einige Belastungen fielen mir in der Tat ins Auge. Biden war sein Leben lang Abstinenzler. „Er erklärt das damit, dass es in seiner Familie zu viele Alkoholiker gegeben habe. Als Heranwachsender teilte er sich ein Zimmer mit dem Bruder seiner Mutter und erinnert sich daran, dass er und seine Geschwister `schon als Kind bemerkten, dass Onkel Boo-Boo ein bisschen zu viel trank`“ (Osnos 2020, S. 45).

Die bedeutsamste Kindheitserfahrung Joe Bidens war die, mit einem Stottern aufzuwachsen“ (Osnos 2020, S. 56). O-Ton „Ich kann mich derart lebhaft an die quälende Angst, die Scham, die ohnmächtige Wut erinnern, dass es sich anfühlt, als hätte ich es vor wenigen Augenblicken erlebt“ (Osnos 2020, S. 56.) Andere Kinder betrachteten ihn als zurückgeblieben und betitelten ihn mit Spitznamen. 

Einmal machte sich sogar eine Lehrerin (eine Nonne) vor der Klasse über sein Stottern lustig. Joe verließ wütend den Unterricht und ging einfach nach Hause. Dort empfing ihn bereits seine Mutter, die durch die Schule von seinem Weglaufen informiert worden war. Sie fuhr mit ihrem Sohn zur Schule und stellte die Lehrerin zur Rede. Als diese den Sachverhalt zugab, sagte die Mutter: „If you ever speak to my son like that again, I´ll come back and rip that bonnet off your head. Do you understand me?” (Witcover 2010, S. 20). Danach schickte sie ihren Sohn wieder zurück in seine Schulklasse. Eine eindrucksvolle Bestätigung von dem familiären Zusammenhalt und den moralischen Prinzipien in der Familie Biden. Joe lernte schließlich im Laufe der Zeit, sein Stottern unter Kontrolle zu bekommen. 

Die Geschwisterkinder der Familie Biden waren sehr eng miteinander verbunden, klärten Konflikte untereinander und passten aufeinander auf (Witcover 2010, S. 15f.). Auch insgesamt entstand bei mir beim Lesen der Quellen der Eindruck, dass diese Familie zusammenhielt und sich gerne mit anderen Menschen austauschte und in Verbindung stand. 

Valerie Biden Owens, die jüngere Schwester von Joe Biden, sagte über die gemeinsamen Eltern:
Each had a backbone of steel. They were principled people. My parents tried to teach about basic decency and basic justice, and sometimes we got it and sometimes we didn`t. My parents never hit us” (Witcover 2010, S. 16). 

Dies ist die für mich größte Überraschung bzgl. der Kindheit von Joe Biden: Seine Eltern wendeten überhaupt keine Körperstrafen gegen die Kinder an. Damit gehörten die Biden-Kinder zu einer wirklich sehr kleinen Minderheit ihrer Generation in den USA, die Zuhause gewaltfrei aufwachsen durfte! 

Quellen:

Osnos, E. (2020). Joe Biden. Ein Porträt. Suhrkamp, Berlin.

Witcover, J. (2010). Joe Biden. A Life of Trial and Redemption. Harper Collins, New York.


Freitag, 8. September 2023

Kindheiten von jungen Frauen aus jihadistischen bzw. salafistischen Gruppen

Nina Käsehage ist in einem aktuellen Beitrag erneut auf die destruktiven Kindheiten von Mädchen und jungen Frauen (Alter 15 bis 21 Jahre), die Mitglieder von jihadistsichen bzw. salafistischen Gruppen in Deutschland sind, eingegangen:

Käsehage, N. (2023). Jihadistische Sozialisationsprozesse junger Mädchen aus gewaltaffinen Milieus. In: Langer, J., Zschach, M., Schott, M. & Weigelt, I. (Hrsg.). Jugend und islamistischer Extremismus: Pädagogik im Spannungsfeld von Radikalisierung und Distanzierung
Verlag Barbara Budrich, Opladen - Berlin - Toronto. Kindle E-Book Version. S. 147- 164. 

Ich hatte bereits in einem Blogbeitrag eine andere Arbeit von Käsehage besprochen, innerhalb der es um 50 junge Frauen aus Europa ging. Ob diese 20 Fälle aus Deutschland auch in dem Sample aus Europa enthalten waren, erschließt sich nicht (ist aber zu vermuten, da sie 2024 das Buch "Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung" herausbringen wird, in dem es um befragte Frauen aus Europa gehen wird).
In beiden Texten werden jedenfalls die gleichen Ergebnisse aufgezeigt: Die Kindheiten dieser Frauen waren vielfach belastet. „Sämtliche Gesprächspartnerinnen wiesen unterschiedliche Missbrauchsformen in ihrer Kindheit und Jugend auf. Vielfach erlebten die Respondentinnen eine Kombination von sexueller und psychischer Gewalt“ (Käsehage 2023, S. 155.). 

Käsehage unterlegt diese Ausführungen mit Fallbeispielen, die teils unfassbar heftige Gewalterfahrungen wie häufige Vergewaltigungen durch den eigenen Onkel oder den eigenen Vater enthalten. 

Eine Befragte, die seit ihrem 10. Lebensjahr von ihrem Vater vergewaltigt worden ist, rechtfertigt die Gewalt des IS und scheint mit der Macht identifiziert zu sein. Die Gewalt durch den Vater habe ihr außerdem gezeigt, was Allahas Plan sei und „ (…) es hat mir sehr früh gezeigt, dass die Menschen schlecht sind und rechtgeleitet werden müssen“ (ebd. S. 156).

Käsehage kommentiert den Fall weiter so:
Die Konstruktion eines religiösen Narratives, in dem der erlebte Schmerz Teil eines göttlichen Plans gewesen sei, um sie auf den ihr vorbestimmten  (religiösen) Weg vorzubereiten, helfen der Jihadistin, dem widerfahrenen  Leid einen ‚Sinn‘ zu geben. Andernfalls wäre sie vermutlich an diesen Erfahrungen zerbrochen. Die eigene Zugehörigkeit zur ‚auserwählten‘ Gruppe der  Kämpfer:innen, zu der sie ihre jihadistische Bezugsgruppe zählte, verlieh der Respondentin das Bewusstsein, „kein Opfer“ (…) mehr zu sein (…). Diesen Wunsch äußerten sämtliche Befragten“ (ebd. S. 156)

Das sind im Grunde ganz ähnliche Argumentations- und Verdrehungsmechanismen, wie ich sie so oder so ähnlich auch oft bzgl. Rechtsextremisten gelesen habe! 

Auch folgende Zusammenfassung von Käsehage kann man so ähnlich auch bzgl. Untersuchungen von Rechtsextremisten finden: „Die frühen Traumatisierungen, denen die Befragten durch den körperlichen und seelischen Missbrauch im familiären Umfeld  ausgesetzt waren, scheinen ihr Interesse an einer Kanalisierung der bislang  unterdrückten Wut und Ohnmacht, die sich im Zuge der Gewalterfahrungen in ihnen aufgestaut hatte, über die jihadistische Bezugsgruppe und deren Ideale zu erklären“ (ebd., S. 158). 

Auch die Probleme bzgl. der eigenen Person und Selbstwahrnehmung finden sich so ähnlich immer wieder auch bei Rechtsextremisten. Die Mehrheit der Befragten bei Käsehage hatten z.B. starke Selbstwertprobleme und eine große Sehnsucht nach Stärke und Führung durch Männer. 15 Befragte verwendeten die Begriffe „wertlos“ und „klein“ in Bezug auf die eigene Person (ebd., S. 152). Bei den Rechtsextremisten, die ja mehrheitlich Männer sind, findet sich die Sehnsucht nach Stärke, Führung und Halt dann eher im Ausdruck einer „überstarken“ traditionellen Männlichkeit und durch eigenes Gewaltverhalten in der Gruppe. 

Schlussendlich kann man der Autorin nur zu dieser Arbeit gratulieren! Sie schreibt und argumentiert trauma-informiert (was man leider nicht über viele Forschende aus dem Extremismusbereich sagen kann) und legt den Fokus letztendlich auf Prozesse, die weniger mit Ideologie zu tun haben, sondern mehr mit der besonderen Attraktivität (Halt, Sicherheit, Schwarz-Weiß-Denken, klare Feindbilder, Identitätsstiftung, Ausleben von Wutgefühlen, Ausstieg aus der Opferrolle usw.) von extremen Ideologien für einst als Kind schwer belastete Menschen. 


Mittwoch, 23. August 2023

Der Historiker David G. Marwell und die Kindheit von Josef Mengele

David G. Marwell ist amerikanischer Historiker und hat das Buch „Mengele. Biographie eines Massenmörders“ (2021, wbg Theiss, Kindle E-Book Version; original Titel aus 2020: „Mengele: Unmasking the "Angel of Death") geschrieben.

Für mich bot das Buch eine große Überraschung und lenkt mein Interesse auf den Autor an sich. 

Belastende Kindheitserfahrungen von Josef Mengele habe ich relativ ausführlich in meinem Buch besprochen. Meine beiden Quellen dafür waren: 

Knopp, G.  (1998): Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. C. Bertelsmann Verlag, München.

Völklein, U. (1999): Josef Mengele – Der Arzt von Auschwitz. Steidl Verlag, Göttingen.

Die Kindheitsbelastungen von Josef Mengele lassen sich diesen Quellen zufolge wie folgt zusammenfassen: im Alter von drei Jahren fast ertrunken, weil niemand auf ihn aufgepasst hatte (Rettung in letzter Sekunde); der Vater war chronisch abwesend, seine sehr dominante Mutter (die bei ihren Angestellten gefürchtet war) war ebenfalls häufig abwesend, Personal kümmerte sich um das Kind, Gefühlskälte in der Familie und Erziehung, häufige Streitigkeiten zwischen den Eltern, hohe Erwartungen und Gehorsamsforderungen, Vater war sehr dem Alkohol zugeneigt, beide Elternteile wendeten Körperstrafen gegen das Kind an (Fuchs 2019, S. 290-292).

Und jetzt die Überraschung: Von den genannten Belastungen findet man fast nichts in dem viel neueren Buch von David G. Marwell! Wie kann das sein?

Das erste Kapitel, in dem er auch den Blick auf Kindheit und Familie von Mengele richtet, fängt Marwell so an:
Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung“ (Marwell 2021, S. 18).

In diesen einleitenden Sätzen sind gleich zwei Ausblendungen enthalten, was Einfluss von Familie und Kindheit angeht. Insofern ahnte ich nach diesen Zeilen schon, wie es weitergehen würde…und zwar so:

Während Mengele seinen Vater später als `gutmütig und weichherzig` beschrieb, war seine Mutter `äußerst resolut und energisch`. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters“ (ebd., S. 19).

In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten“ (ebd., S. 19).

Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit“ (ebd., S. 19). Dem hängt der Autor noch an, dass laut einem Kindheitsfreund von Mengele die Atomsphäre in der Familie „konservativ, katholisch, konventionell“ gewesen wäre. 

Bei diesen spärlichen Ausführungen bzgl. der Innenansicht der Familie bleibt es im Grunde. Das Bild, das der Autor zeichnet, ist ziemlich deutlich: Es war halt eine ganz normale Familie, die sogar im Wohlstand lebte. In der Kindheit von Mengele findet der Autor keine Auffälligkeiten. 

Laut dem Quellenverzeichnis hat Marwell auch das von mir als Quelle verwendete Buch „Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker“ von Ulrich Völklein verwendet. Dem Buch von Völklein konnte ich u.a. entnehmen, dass beide Elternteile Körperstrafen gegen ihren Sohn Josef anwendeten, was eine massive und folgenreiche Belastung für ein Kind bedeutet. Kein Wort davon bei Marwell. 

Nun müssen wir auf zwei Dinge blicken: Marwell ist Amerikaner und wurde 1951 geboren. 

In den USA sind Körperstrafen gegen Kinder bis heute in keinem einzigen US-Staat verboten. In vielen Staaten ist sogar weiterhin das Schlagen von Kindern in der Schule erlaubt und wird auch praktiziert. Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet weiterhin das elterliche Recht, Kinder körperlich zu bestraften. Von seinem Geburtsjahr her, dürfte David G. Marwell mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch weit aus mehr von dieser Art Einstellungen bzgl. Körperstrafen geprägt worden sein, als dies heute der Fall ist. Wer in einer Kultur aufgewachsen und geprägt wurde, die kein Problem mit dem Schlagen von Kindern hat (und in der Folgen auch keine negativen Folgen für die Kinder sehen möchte), der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch blind gegenüber Kindheitsleid, wenn es um die Erforschung von historischen Akteuren geht. 

Insofern wird hier der Historiker David G. Marwell für mich quasi selbst zum Forschungsobjekt. Er ist darüber hinaus auch kein Einzelfall. In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst, in dem ich u.a. das häufige Wegsehen von Fachleuten bzgl. Kindheitsleid von historischen und politischen Persönlichkeiten besprochen habe. 
Dieses Wegsehen gilt übrigens auch für die für mich ergiebige Quelle "Völklein" (siehe oben). Immerhin hat er diverse Daten und Infos bzgl. der Kindheit von Mengele aufgeführt, die für mich hilfreich waren. Ganz und gar erstaunlich ist dagegen das Schlusswort des Biografen Ulrich Völklein (Historiker und Journalist) am Ende des Kapitels über die Kindheit und Jugend: „Josef Mengele erlebte zwar keine behütete und beschirmte Kindheit in der Geborgenheit seiner Familie, aber es war eine von wirtschaftlicher Not freie Jugendzeit in dem überschaubaren Beziehungsgeflecht einer kleinen Stadt in Schwaben. Nichts in seinen äußeren Lebensbedingungen kann als notwendige Voraussetzung seiner späteren Entwicklung gedeutet werden" (Völklein 1999, S. 52). 

Abschließend sei noch erwähnt, dass das Buch von Marwell für mich immerhin zwei neue Infos bzgl. der Kindheit von Josef Mengele gebracht hat. 

Josef scheint ein sehr kränkliches Kind gewesen zu sein und das hatte Folgen: 
Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte“ (Marwell 2021., S. 22). 

Außerdem scheint um die Geburt von Josef eine gewisse Aufregung in der Familie geherrscht zu haben. Denn das erste Kind der Familie war wenige Tage nach der Geburt gestorben (ebd., S. 19). Wie diese Tragödie die Familie geprägt hat, lässt sich nur erahnen. 

Kommen wir nochmals zurück zur Einleitung von Marwell: „Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte“, schreibt er. 

Wie ich auf Grundlage anderer Quellen (wie oben beschrieben) nachweisen konnte, war die Kindheit von Josef Mengele schwer belastet. Dies führt nicht automatisch dazu, dass jemand zum Täter und Massenmörder wird. Diese Kindheitserfahrungen bilden allerdings das Fundament für destruktives Agieren bzw. die belastenden Kindheitserfahrungen erklären, warum ein Mensch zum „Todesengel“ werden konnte. Die NS-Forschung legt sich selbst Steine in den Weg, wenn sie nicht endlich trauma-informiert wird! Vermutlich wird dies zukünftig - aus oben besagten Gründen - eher die jüngere Forschergeneration erfüllen.