Samstag, 25. Mai 2019

Kurzfristige Zunahme von Gewalt gegen Kinder und deren Ursachen

Kürzlich habe ich mich für einen Text, der wohl Ende des Jahres veröffentlicht werden wird, intensiv mit dem Thema Gewaltrückgang gegen Kinder befasst. Der stetige Gewaltrückgang ist nicht nur in Deutschland deutlich messbar (vor allem im langfristigen Trend seit den 1970er Jahren), sondern auch in anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Österreich, Großbritannien), sowie in den USA und Kanada.

Entsprechend verwundert hat mich ein SPIEGEL-Interview mit der Soziologin Christine Bergmann (vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen - kurz: KFN), die sagte:
Tatsächlich berichten auch mehr Schüler als früher über Prügel daheim“ (DER SPIEGEL, Nr. 21 vom 18.05.2019, „Gefühlte Unsicherheit“, S. 13). Ich habe mir die entsprechende Studie angesehen, auf die sich Frau Bergmann ganz offensichtlich bezogen hat:  Bergmann, M. C., Kliem, S., Krieg, Y. & Beckmann, L. (2019): Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2017. (KFN-Forschungsberichte No. 144). Hannover, KFN.

Tatsächlich wurde in dieser o.g. Befragung von fast 9.000 niedersächsischen Schülern und Schülerinnen im Jahr 2017 festgestellt, dass es eine signifikante Zunahme körperlicher (sowohl schwerer als auch leichter) Elterngewalt gab (im Vergleich zu den Voruntersuchungen aus den Jahren 2013 und 2015). Zwischen 2013 und 2015 wurde dagegen noch eine leichte Abnahme der Gewalt festgestellt (was dem allgemeinen Trend entsprach).

Mindestens einmal erlebte, schwere körperliche Elterngewalt vor dem 12. Lebensjahr stieg z.B. von 11,8 % (Befragung 2015) auf 14,8 % (Befragung 2017) (Bergmann et al. 2019, S. 126). Ebenfalls stieg der Anteil der Schüler, die berichteten, innerhalb der letzten 12 Monate mind. einmal schwere Elterngewalt erlitten zu haben von 4,4 % im Jahr 2015 auf 5,9% im Jahr 2017. Gewisse Schwankungen sind in Befragungen normal und zufällig, aber hier wurde ja eine signifikante Zunahme festgestellt. (Nebenbei bemerkt zeigen diese Zahlen, dass in Niedersachsen mehr schwere Gewalt ausgeübt wird, als im Bundesdurchschnitt, zumindest zeigt dies ein Datenvergleich bezogen auf die Studie von Hellmann (2014) und dabei der Blick auf die jüngste Altersgruppe)

Wie lässt sich dieser Anstieg innerhalb von zwei Jahren erklären? Dieser Frage wurde in der Studie nicht direkt nachgegangen, aber die Antwort darauf erschließt sich letztlich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus den Daten selbst.

Kinder mit Migrationshintergrund erleben deutlich häufiger körperliche Elterngewalt, als deutsche Kinder. Dies wurde in KFN-Studien immer wieder ermittelt, so auch in der Befragung aus dem Jahr 2017. So erlebten 9,9 % der deutschen Schüler in Niedersachsen mindestens einmal schwere körperliche Elterngewalt, Kinder mit Migrationshintergrund dagegen im Schnitt zu 25,9 % (Bergmann et al. 2019, S. 127).
In der Befragung 2017 gibt es einen deutlichen Unterschied bei der Stichprobe gegenüber der Befragung aus dem Jahr 2015: „Etwas mehr als ein Viertel der Neuntklässler/innen Niedersachsens (2017: 27.7 %) weist einen Migrationshintergrund auf; dieser Anteil ist statistisch signifikant höher als noch 2015 (24.0 %)"  (Bergmann et al. 2019, S. 24). Im Detail fällt auf, dass vor allem der Anteil an Schülern zugenommen hat, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion (SU) stammen, von 6,6 % (2015) auf 8,6 % (2017). Die nächst größere Steigerung gab es bei Schülern aus islamischen Ländern, von 1,9 % auf 2,5 % (Bergmann et al. 2019, S. 26).

Gerade für die Schüler, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, findet sich im Verhältnis zu der durchschnittlichen Gewaltrate von 25,9 % für Schüler mit Migrationshintergrund (wie oben gezeigt) eine überdurchschnittlich hohe Rate von 35,3 % von erlittener schwerer körperlichen Elterngewalt (Bergmann et al. 2017, S. 126). In der KFN-Studie aus dem Jahr 2015 lag die entsprechende Gewaltrate für Schüler aus der ehemaligen SU noch bei 26,8 % (Bergmann et al. 2017, S. 117), so dass hier nicht nur der Effekt bzgl. der anteilsmäßigen Zunahme an Schülern aus der SU eine Rolle spielt, sondern auch eine deutlich erhöhte Gewaltrate, die 2017 erfasst wurde. Für Schüler aus islamischen Ländern wurde die entsprechende Gewaltrate 2017 nicht ausgewiesen, 2015 lag sie noch bzgl. der schweren körperliche Elterngewalt bei 33 %.

Wenn der Anteil der Befragten aus diesen Regionen deutlich steigt, steigt logischerweise auch die Durchschnittsrate für Gewalt, die erfasst wird.

Allerdings: Auch bei den deutschen Schülern wurde eine erhöhte Gewaltrate festgestellt, sie stieg von 8 % (2015) auf 9,9 % (2017). Diese Steigerung ist erklärungsbedürftig, da sie dem Trend entgegenläuft. Da in Niedersachsen jedes Jahr diese Befragungen durchgeführt werden, wird sich bei der Befragung aus dem Jahr 2018 zeigen (die vermutlich 2020 veröffentlicht wird), ob 2017 nur ein „Ausreißer“ war und sich der Trend des Gewaltrückgangs fortsetzt.

Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass sich auch beim Thema Häusliche Gewalt zwischen Elternteilen ähnliche Daten finden lassen. Zwischen 2015 und 2017 gab es eine leichte Steigerung der beobachteten Gewalt zwischen Elternteilen von im Schnitt 4,6 % auf 5 %. Die deutschen Schüler beobachteten unterdurchschnittlich Gewalt zwischen Elternteilen (3,3 %), die Schüler mit Migrationshintergrund deutlich überdurchschnittlich (9,1 %) (Bergmann et al. 2019, S. 130). Auch bei diesem Gewaltfeld dürfte also eine Zunahme von Menschen mit Migrationshintergrund eine Steigerung der durchschnittlichen Gewaltrate verursachen.

Schlussfolgerung und Kommentar


Ursprünglich wollte ich für mich klären, wie Frau Bergmann zu der Aussage kommt, dass jüngst Gewalt gegen Kinder zugenommen hat. Dabei landete ich jetzt zwangsläufig beim Thema Migration.
Ein erhöhter Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund und/oder eine höhere Geburtenrate von Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet, dass sich in Deutschland statistisch die durchschnittliche Gewaltrate gegen Kinder erhöht, schlicht und einfach aus dem Grund, weil in Migrantenfamilien (vor allem aus Afrika, Asien, der ehemaligen SU und islamischen Ländern) deutlich mehr körperliche Übergriffe auf Kinder stattfinden und auch mehr häusliche Gewalt zwischen den Eltern passiert, als in deutschen Familien.

Mir ist bewusst, dass meine obigen Schlussfolgerungen Wind auf die Mühlen der Rechtspopulisten sind. Zudem habe ich leider in der Vergangenheit feststellen müssen, dass meine Besprechungen von Studien zum Ausmaß von Kindesmisshandlung in der Welt in rechten Kreisen und Internetangeboten besprochen und kommentiert wurde, mit dem Ziel, um pauschal gegen Geflüchtete zu hetzen. Dazu habe ich bereits einen Kommentar veröffentlicht, sowie in meinem Impressum eine Distanzierung vom Missbrauch der von mir gesammelten Daten für politische Zwecke beigefügt.

Ich habe entsprechend lange überlegt wie und ob ich diesen Beitrag schreiben soll. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ihn unbedingt schreiben und veröffentlichen muss, weil die Fakten stimmen und einfach auf den Tisch gehören. Den Rechtspopulisten und ihren Anhängern möchte ich sogleich entgegnen, dass es mir um die Sorge aller Kinder, aber eben auch speziell der Migranten-Kinder geht, die im Hier und Jetzt in unserem Land leben. Sie gehören bereits dazu und gehen hier zur Schule. Mir geht es nicht darum, dass diese Kinder (und ihre Familien) wieder gehen sollen und dies dann sogar noch mit der häuslichen Gewalt zu begründen. Wenn diese Kinder hier sind, dann müssen sie integriert werden. Zu dieser Integration gehört dazu, dass sie selbstverständlich ein Recht auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland haben! Dass fast jedes vierte Schulkind mit Migrationshintergrund (mindestens einmal) von schwerer körperlichen Elterngewalt betroffen ist (und wie wir oben gesehen haben bei manchen Gruppen sogar jedes dritte Kind betroffen ist), stimmt mich sehr sorgenvoll. Diese Informationen lösen bei mir keinen Hass auf Fremde oder Abwehrhaltungen aus, sondern das unbedingte Bedürfnis, hier zu helfen. Da die Aufgabe allerdings viel zu groß ist, muss hier die Politik etwas tun (natürlich parallel auch für die deutschen Schüler).

Ich selbst hatte bereits am 19.10.2015 an die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig geschrieben. In meinem Schreiben habe ich auf die Zahlen aus der UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 hingewiesen und die Länder in den Fokus gestellt, aus denen 2015 besonders viele Menschen zu uns geflüchtet sind.
Ich kommentierte die Zahlen in meinem Schreiben u.a. so:
Sofern Familien mit Kindern aus diesen Regionen zu uns kommen, ist damit zu rechnen, dass die Erziehungspraxis entsprechend dieser Zahlen gewaltbelastet ist. Ich möchte an Sie und Ihr Ministerium appellieren, sich diese Daten vor Augen zu führen und demokratische Wege zu finden, wie man mit diesem Problem zukünftig umgeht. Die möglichen Folgen von Kindesmisshandlung dürften Ihnen bekannt sein. Gerade diese Folgen dürften eine nachhaltige Integration hierzulande besonders erschweren. (...) Hier muss die Politik präventiv ansetzen und den Schutz der Kinder vor Augen haben.“
Von einer Sprecherin aus dem SPD-Parteivorstand bekam ich auch eine stellvertretende Antwort, aus der ich einen Teil zitiere: „Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen, die wir mit Interesse gelesen und zur Kenntnis genommen haben. Ihre Rückmeldung ist uns wichtig, wir werden Ihre Anregungen daher in zukünftige Diskussionen einbeziehen.“ Ob dies nur eine Standardantwort war oder ob dieser Punkt wirklich diskutiert wurde, ist mir natürlich nicht bekannt.

Donnerstag, 16. Mai 2019

Kindheit von Horst Seehofer


Ich habe lange überlegt, ob ich kurz etwas über die Kindheit von Horst Seehofer schreiben soll. Bei überdeutlich destruktiven politischen Akteuren wie z.B. George W. Bush und ähnlichen Politikern habe ich da keine Bedenken. Horst Seehofer liegt mir weder als Person, noch vom Politikstil und der Politikausrichtung. Aber er ist ein Demokrat und langjähriger Spitzenpolitiker, ich bin mir sicher, dass er auch Leistungen abgeliefert hat, die es zu würdigen gilt. Insofern geht es mir hier nicht darum, Horst Seehofer bloß zu stellen oder persönlich anzugreifen oder ihn als gänzlich irrationalen Politiker hinzustellen.

Ich blicke allerdings auf den Rechtsruck (so war jedenfalls mein Eindruck), den er als Person und mit seinen politischen Forderungen auf Grund der vielen Geflüchteten ab 2015 vollzogen hat. Und ich blicke auf den schwer zu ertragenden (und fast schon peinlichen) öffentlichen Streit und Schlagabtausch (der fast eine Regierungskrise produziert hat), den er sich mit Angela Merkel geliefert hat. Dass Angela Merkel sehr oft als "Mutti" bezeichnet wird, ist bekannt. Ich frage mich, ob manche Verhaltensweisen von Horst Seehofer aus den benannten Krisentagen eine ganz andere, tiefere Ursache (nämlich aus eigenen Kindheitstagen) hatten? Wie sehr spielte dabei eine Rolle, dass "Mutti" einfach weg sollte, dass "Mutti" gedemütigt werden sollte, dass Horst sich mächtiger fühlen wollte?

In der Süddeutschen Zeitung (Nr. 132) wurde am 12. Juni 2018 (online bereits einen Tag früher hier) der Artikel "Der Aufreger" (von Constanze von Bullion) veröffentlicht. Darin wird Horst Seehofer zitiert: "Ich hatte strenge Eltern (...). Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige und in der Schule auf die Pratzn. Die Mutter hat gesagt, wenn du nicht brav bist, liegt einer unterm Bett." (S. 3) Der Vater habe nicht viel gesprochen, Disziplin und Gehorsam seien die Werte gewesen, die im Elternhaus zählten. Die Mutter von Horst wird als dominante Person beschrieben, die die Wege ihres Sohnes lenkte. Die körperliche Gewalt scheint dabei also nur ein Faktor von vielen gewesen zu sein. Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige, dass macht ca. 52 körperliche Übergriffe pro Jahr (multipliziert mal wie viel Jahren?) + die Schläge in der Schule.
Ergänzend kommt noch hinzu, dass Horst als Kind gehänselt wurde, wie er selbst einmal sagte. (FAZ, 31.08.2017,  "Seehofer wurde als Kind gehänselt") Das sind kurze Einblicke in eine deutsche Nachkriegskindheit, die allerdings deutlich zeigen, dass Horst Seehofer sehr belastetet aufgewachsen ist.

Mittwoch, 15. Mai 2019

„Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“: Wechselwirkung zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Genen


Immer wieder taucht der Hinweis auf, dass doch unzählige Menschen, die schlimmste Erfahrungen als Kind machen mussten, später ein relativ unauffälliges Leben führen und niemals straffällig oder gewalttätig oder politisch extremistisch werden. Mit diesem Hinweis wird routinemäßig dem zentrierten Blick auf destruktive Kindheitserfahrungen von Gewalttätern, Terroristen und Diktatoren kritisch entgegnet. Diese Kritik ist so durchgängig, dass ich ihr in meinem Buch in einem eigenen Kapitel (»Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern« und »Nicht alle Nationen, deren Bevölkerung als Kind schwer belastet war und misshandelt wurde, führen Kriege«: Und warum diese Feststellungen keine Gründe dafür sind, Kindheitseinflüsse gering zu reden!) entgegnet bin. Diese Kritik ist eigentlich recht leicht zu entkräften. Vor allem geht es um erhöhte Wahrscheinlichkeiten für destruktives Agieren im Erwachsenenalter. Zum anderen müssen auch andere negative Folgen (z.B. psychische Krankheiten, Selbstschädigungen usw.) in den Blick genommen werden, so dass nicht – nur weil kein Täterverhalten nachweisbar ist - gesagt werden kann, dass die erlittenen Kindheitserfahrungen keine negativen Folgen haben. (Ich habe dazu auch in einem Blogbeitrag bereits einiges geschrieben)

Das Thema Gene habe ich dabei bisher nur angeschnitten. Leider bekam ich erst nach Fertigstellung meines Buches von der Neurobiologin und Psychologin Nicole Strüber das Buch „Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“ (2018, Klett-Cotta, Stuttgart) in die Hände.

Heute weiß man, dass es verschiedene Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt gibt. Gene beeinflussen, welche Auswirkungen Erfahrungen haben. Es gilt aber auch, dass Erfahrungen festlegen, welche Gene wirksam werden. Strüber beschreibt die sogenannte Hypothese der differentiellen Beeinflussbarkeit. „Hiernach werden Individuen abhängig von ihren Anlagen in einem unterschiedlichen Ausmaß von den Erfahrungen mit ihrer Umwelt beeinflusst – und zwar im Guten wie im Schlechten. Kinder mit einer besonders beeinflussbaren Veranlagung können mehr als andere von positiven Erfahrungen profitieren, leider aber auch mehr als andere unter einer negativen Umwelt“ (Strüber 2018, S. 34).
Beispielsweise kann das Gen für eine Bindungsstelle des Dopamins (laut Wikipedia ein wichtiger, überwiegend erregend wirkender Neurotransmitter des zentralen Nervensystems) in verschiedenen Varianten vorliegen und dadurch die Wirkung von Dopamin beeinflussen. Kinder mit einer sogenannten 7R-Variante reagieren empfindlicher auf ihre Umwelt und Erfahrungen, als Kinder mit einer 4R-Variante. „Haben Kinder mit der 7R-Variante eine eher unsensible Mutter, neigen sie sehr zu aggressivem Verhalten. Reagieren deren Mütter hingegen sehr feinfühlig auf ihr Kind, dann sind die 7R-Kinder ausgesprochen friedlich – friedlicher als die Kinder mit anderen Varianten. Bei den 4R-Kindern spielt Feinfühligkeit der Mutter keine so große Rolle“ (Strüber 2018, S. 65).

Das gleiche würde, so Strüber, für die Fremdbetreuung von Kindern gelten. Kinder mit der 7R-Variante reagieren mit besonderer Unaufmerksamkeit und impulsivem Verhalten auf lange Fremdbetreuung; umgekehrt sind diese Kinder bei keiner oder von kaum Fremdbetreuungen besonders aufmerksam und können sich selbst sehr gut regulieren.

An anderer Stelle schreibt die Autorin: „Das Auftreten von Resilienz wird gelegentlich als Argument dafür angeführt, dass sich der Mensch von schlimmen frühen Erfahrungen erholen kann, wenn er nur will. Frühe extrem negative Erfahrungen könnten keine späteren Verhaltensprobleme entschuldigen (»andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!«). Leider ist diese Schlussfolgerung ziemlich falsch, da sowohl die genetische Ausstattung als auch das Vorhandensein früher ausgleichender Erfahrungen (etwa eine positive Bindungsbeziehung zu einem Familienmitglied bei gleichzeitiger Misshandlung durch ein anderes) bestimmen, ob jemand resilient auf frühe negative Erfahrungen reagieren kann. Das ist per Willensentschluss kaum mehr zu beeinflussen“ (Strüber 2018, S. 34f). Ich möchte dem noch anfügen, dass trotzdem jeder Mensch eine Verantwortung trägt und u.a. durch Psychotherapien die negativen Folgen abmildern kann.

Wichtig ist unterm Strich zu verstehen, dass Menschen verschieden sind, auch was ihre genetische Ausstattung angeht. Bei dem Einen führen Misshandlungserfahrungen dazu, dass mit ungeheurer Wut und Hass nach außen reagiert wird, ein anderer Mensch lenkt diesen Hass eher nach innen und schädigt sich selbst, ein Dritter (z.B. mit der 4R-Variante und zusätzlich ausgleichenden Positiverfahrungen) kommt vielleicht einigermaßen gut durchs Leben, trotz Misshandlungserfahrungen. Es bleibt bei allen Gedankenbeispielen dabei, dass jemand, der durch Massenmord, Gewalttäterkarriere, Terror usw. auffällt, die Kindheitserfahrungen einen ganz wesentlichen Einfluss auf derart destruktives Verhalten genommen haben und es bleibt auch dabei, dass als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern und ähnlichen Akteuren werden.

Ich persönlich kann den Satz „Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern“ oder „Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“ nicht mehr hören. Diese Art von Reaktion verbaut einen wesentlichen Zugang zum Verständnis der tieferen Ursachen von Gewalt und menschlicher Destruktivität.