Donnerstag, 29. Oktober 2020

"Familienkrieg" - Kindheit und Familie des Neonazis Simon

Bereits vor 18 Jahren habe ich die Doku „Familienkrieg“ von Reinhard Schneider aus dem Jahr 2002 im Fernsehen gesehen und nie vergessen. Seit einigen Monaten ist die Doku nun auch online zu sehen:

Teil 1: Mein Sohn, der Nazi

Teil 2: Entzugserscheinungen

Teil 3: HassLiebe

Dazu gibt es auch noch das Hör-Feature „Mein Sohn der Nazi - Szenen einer Familie aus Niederbayern

(Aus all den oben genannten Quellen beziehe ich meine unten aufgestellten Informationen.) 

Für mich ist die heutige Sicht allerdings eine etwas andere, eine komplexere als vor 18 Jahren. Damals hatte ich zwar sehr wohl den Zusammenhang zwischen der destruktiven Kindheit und Familie von Simon und seinem Weg zum Nazi erkannt (es wäre auch erstaunlich, wenn Zuschauer dies nicht erkennen würden), aber ich hatte noch kein Schema bzgl. der verschiedenen Belastungsfaktoren im Hinterkopf. Heute, 18 Jahre später, habe ich sehr viel mehr Belastungsfaktoren im Fall Simon erkannt, als damals. Es ist schockierend, was dieses Kind alles erlitten hat. 

Simons Vater, ein Seemann, war Alkoholiker. Simons Mutter war bei Simons Geburt nur 19 Jahre alt. Die Mutter wurde von ihrem Mann systematisch schwer gedemütigt, terrorisiert und herabgesetzt, auch schon während der Schwangerschaft. Ihr Mann drohte ihr auch Gewalt an. Als sie mit Simon schwanger war, bekam sie Selbstmordgedanken. Später sagte sie dies auch ihrem Kind Simon: „Ich wollte mich umbringen, als Du in meinem Bauch warst“, berichtet Simons spätere Freundin.  Auch eine Abtreibung stand kurz im Raum. Simon war alles andere als ein Wunschkind. Gezeugt wurde er, in dem sein Vater die Mutter vergewaltigte. Dies habe Simons Mutter ihrem Sohn später auch immer wieder vorgehalten. Die Geburt von Simon war schwierig, das Kind kam zu früh und musste zudem mit der Saugglocke geholt werden. Die finanzielle Lage der Familie war nach Simons Geburt angespannt, der alkoholabhängige Vater oft abwesend. Die Mutter hatte oft nicht genug zu essen und verlor an Gewicht.

Simon fühlt sich grundsätzlich von seiner Mutter abgelehnt. Seine Mutter und sein Vater hätten außerdem seinen jüngeren Bruder bevorzugt. Simon wurde nicht getauft und wurde in seinem katholisch-konservativen Umfeld ausgegrenzt. An sich hatte Simon in seiner frühen Kindheit keinen Kontakt zu anderen Kindern, er hatte nur seinen Hund.

Seine Mutter war Krankschwester und dadurch beruflich (auch im Schichtdienst) sehr ausgelastet. Ihr Sohn warf ihr später vor, dass sie nie da war, wenn sie gebraucht wurde. Sie wendete außerdem auch häufig körperliche Gewalt gegen Simon an, auch Simons Vater schlug seinen Sohn. Der Vater verließ schließlich die Familie, der genaue Zeitpunkt wird nicht klar. Vermisst wurde er nicht. Er starb an Krebs, als Simon noch ein Jugendlicher war. Der Sohn erfuhr nachträglich vom Tod des Vaters und konnte nicht an der Beerdigung teilnehmen. Simons Mutter bedauert dies, weil sie es ihrem Sohn gewünscht hätte, auf das Grab des Vaters spucken zu können, als eine Art Abschluss. Simon selbst meint, dass er gerne auf das offene Grab „gepisst“ hätte. Nur die politisch rechte Einstellung des Vaters wäre in Ordnung gewesen. Ansonsten scheint er ihn einfach nur gehasst zu haben. 

Simons neuer Stiefvater ist ein LKW-Fahrer und meist nur am Wochenende zu Hause. In der textlichen Beschreibung des Hör-Feature wird geschrieben, dass dieser Stiefvater, ein ehemaliger Boxer, Simon eines Tages brutal zusammenschlug und Simon ihn danach anzeigte. Aber auch Simon hätte gedroht, den Stiefvater und die Mutter umzubringen.

Als Jugendlicher wurde Simon zunächst linker Punk und lehnte das politische System in Deutschland ab. Durch Bekanntschaften kam er später mit der rechten Szene in Kontakt und wandelte sich schnell zum Neonazi. Die Kommunikation mit seiner Mutter endet stets im Streit, gegenseitigen Vorwürfen und Beleidigungen. Wobei die Mutter stets sehr kalt wirkt, stichelt und ihren Sohn extrem provoziert. In dieser Familie gab es keine Liebe, sondern immer nur Krieg, das ist der Schlussstrich, den man unter die Doku „Familienkrieg“ ziehen kann. 

Die Destruktivität geht aber noch über die rechte Gesinnung von Simon hinaus. Simon verliebte sich in eine drogenabhängige Frau, die er später heiratete. Die Beziehung der beiden ist von extremer Destruktivität geprägt. Sie wurde außerdem schwanger und verlor das Kind. Außerdem findet Simon keine Arbeit und driftet durch den Tag. 

Die Belastungen in Kindheit und Jugend von Simon sind unfassbar komplex. Im Jahr 2002 konnte ich diese ganzen Belastungen noch nicht deutlich erfassen und sortieren. Würde man für Simon einmal den ACE score erfassen bzw. einen ACE-Fragebogen für ihn ausfüllen, würde er zu einer kleinen Gruppe von besonders stark als Kind belasteten und traumatisierten Menschen gehören. Der ACE-Fragebogen reicht aber in seinem Fall noch nicht einmal aus. Die Belastungen für den Fötus und während der Geburt würden nicht erfasst. Ebenso wenig wie der Sachverhalt, dass er durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Da seine Mutter von ihrem Mann nicht geschlagen, sondern verbal terrorisiert wurde, würde auch dies wohl nicht erfasst werden. Die Ausgrenzung durch Gleichaltrige käme ebenfalls nicht in die Auswertung. Die Bevorzugung des Bruders wäre kein Thema usw. 

Fragebögen können nur das erfassen und messen, wofür sie gedacht sind. Das Leben eines Kindes ist immer komplexer, als das, was Fragebögen abbilden können. Die Doku „Familienkrieg“ und das dazugehörige Hör-Feature geben uns einen sehr breiten und tiefen Blick in die Abgründe einer Familie, aus der ein gewaltbereiter Neo-Nazi hervorging. Wer wundert sich ernsthaft, dass dieser Junge zu dem werden konnte, wer er ist? Heute wissen wir dank vieler Forschungsarbeiten, dass destruktive Kindheiten bei Rechtsextremisten/rechten Gewalttätern keine Ausnahmen sind, sondern die Regel. 

Der „Familienkrieg“ zeigt aber noch mehr auf. Simons Vater hatte selbst eine sehr unglückliche Kindheit, war also auch Opfer. Die Kindheit von Simons Mutter war kein Thema, ich vermute auch in ihrer Kindheit schwere Belastungen. Sie wirkt auf mich wie eine sehr traumatisierte Person. Auf jeden Fall war sie Opfer ihres Mannes. Aber sie war nicht nur Opfer, sondern auch massive Täterin gegenüber ihrem Sohn. Traumatische Belastungen können an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn dieser Teufelskreis nicht – bestenfalls durch Therapien und Unterstützung – unterbrochen werden kann. Sollte Simon mit seiner drogenabhängigen Frau (die ebenfalls sehr traumatische, eigene Kindheitshintergründe angedeutet hat) doch noch Kinder bekommen haben, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch diese Kinder schwer belastet werden. Der ganze Fall zeigt auch auf die „Geschichte der Kindheit“, auf letztlich jahrhundertelange Folgewirkungen von Traumatisierungen und desaströsem Umgang mit Kindern. 


Dienstag, 27. Oktober 2020

Belastende Kindheitserfahrungen und Extremismus in den USA - Neue Studie

Simi und Kollegen hatten bereits im Jahr 2016 eine eindrucksvolle Studie (Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach) veröffentlicht, für die 44 ehemalige Rechtsextremisten bzgl. Kindheitserfahrungen befragt wurden. 

Nun haben die Forschenden noch einmal nachgelegt und Befragungen von 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads) durchgeführt:

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni) 

Die Befragungen wurde als sogenannte ACE-Studie durchgeführt. Die Studie ist somit direkt mit Ergebnisse von allgemeinen ACE-Studien vergleichbar. Die Extremisten sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich belasteter bzw. ihre ACE-Werte gleichen eher denen von "Hochrisikogruppen", was das Autorenteam auch kommentiert und ausführt. 


Ergebnisse (Misshandlungsformen vor dem 18. Lebensjahr gegen die Befragten durch Elternteile/Erziehungsberechtigte):

48 % wurden körperlich misshandelt

46 % wurden emotional vernachlässigt

46 % wurden emotional misshandelt

23 % wurden sexuell missbraucht

15 % wurden körperlich vernachlässigt

Insgesamt 65 % der Befragten berichteten über eine oder mehr Erfahrungen von Misshandlungen wie oben aufgeführt. 

Ergebnisse für weitere Belastungen in den Familien: 

68 % berichteten davon, von Elternteilen verlassen worden zu sein

66 % berichteten von elterlichem Suchtmittelmissbrauch

47 % wurden Zeugen häuslicher Gewalt

47 % berichteten von psychischen Erkrankungen von Elternteilen/Erziehungsberechtigten

32 % berichteten, dass Elternteile inhaftiert wurden


Verteilung der Belastungen bzw. ACE-Werte:

0 ACE Wert = 10 %

1 ACE Wert = 9 %

2 ACE Werte = 10 %

3 ACE Werte = 9 %

4 ACE Werte = 15 %

5 ACE Werte = 10 %

6 ACE Werte = 10 %

7 ACE Werte = 11 %

8 ACE Werte = 11 %

9 ACE Werte = 5 %

10 ACE Werte = 0 %


Freitag, 9. Oktober 2020

"Sogwirkungen" von Missachtung- und Gewalterfahrungen im Elternhaus


Seit über 18 Jahren befasse ich mich mit den Folgen von Destruktivität und Gewalt gegenüber Kindern. Im folgenden Text möchte ich einige Gedanken (die sich aus meinen persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie meiner vielseitigen Literaturrecherche ergeben haben) darüber zusammenfassen, was destruktive Kindheitserfahrungen im Elternhaus alles anstoßen können. 

Dass Gewalt-, Missbrauchs- und Demütigungserfahrungen im Elternhaus viele schädliche Folgen für Kinder und auch die später Erwachsenen haben können, steht mittlerweile aus wissenschaftlicher Sicht außer Zweifel. Je früher, je massiver und je vielfältiger die destruktiven Erfahrungen in der Kindheit sind, desto schwerwiegender sind die Folgen. Und auch die Nähe zum Täter beeinflusst die Folgen stark, weshalb Destruktivität im Elternhaus besonders schädlich wirkt. 

Bei der Betrachtung der Folgeschäden wird meines Erachtens nach allerdings oftmals etwas ausgeblendet, wofür es mir schwerfällt, einen passenden Namen zu finden. Der beste bildliche Vergleich ist der einer Sogwirkung. Dazu gleich mehr. 

Bei der Erforschung der Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen wird oft geschaut, was „vorne“ alles rein ging und was „hinten“ herauskommt. Die sogenannten ACE-Studien haben bisher am breitesten ausgeleuchtet, was alles „vorne“ rein ging (u.a. körperliche, sexuelle + emotionale Misshandlung, Miterleben von Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch in der Familie und psychisch kranke Familienmitglieder) und was „hinten“ rauskam (u.a. diverse Krankheitsbilder, psychische Störungen, Suchtmittelgebrauch, Arbeitslosigkeit, früher Tod, Suizid, Gewaltverhalten).

Dabei fehlen allerdings ein paar Puzzleteile, die aber auch schwer messbar sind. Die oben gennannten möglichen Folgen und die erwähnten destruktiven Kindheitserfahrungen stehen zweifellos in einem deutlichen Zusammenhang. Aber noch etwas wirkt hinein, noch etwas wirkt sich aus. Etwas, dass ich wie gesagt als Sogwirkung bezeichne. 

Ich gebe einige Beispiele: 

Wenn Eltern sich systematisch destruktiv gegen ihr Kind verhalten, so hat dies nicht nur direkte Folgen auf die betroffenen Kinder, sondern nach meinem Eindruck auch auf das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es stimmt zwar auch, dass sich nicht selten Geschwister untereinander solidarisieren und sich einen kleinen Schutzraum schaffen, der gegen destruktive Eltern steht. Aber nicht selten ist ebenso (oder auch gleichzeitig), dass das schlechte Vorbild der Eltern bedingt, dass sich auch Geschwister gegenseitig verletzen, ihre Beziehung von einer Hass-Liebe geprägt ist usw. 

Nicht nur einmal ist mir aufgefallen, dass die später Erwachsenen, die aus Misshandlungsfamilien oder grob formuliert „destruktiven Familien“ stammen, kein oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben. Konstruktive Streitkultur wurde nicht gelernt, gegenseitige Verletzungen der Geschwister untereinander wurden nicht vergessen und ein Wiedersehen mit den Geschwistern droht auch jedes Mal unerträgliche Erinnerungen an die eigene Kindheit wieder hoch kommen zu lassen. Vielleicht ist auch ein Geschwisterkind schlechter von den Eltern behandelt worden, als das andere. Was Neid und Missgunst nach sich zieht. Die Folge aus all dem  ist, dass solch geprägte Menschen auch weniger durchs Leben „getragen“ werden. Geschwister, die sich gut verstehen, „tragen“ sich gegenseitig, bieten emotionale Nähe, Sicherheit und Wohlbefinden und in der Folge auch eine gesündere Psyche. Wenn diese Bindung bedingt durch elterliche Destruktivität gestört oder gar zerstört wurde, dann belastetet auch dies und trägt mit einen Teil zu beobachtbaren schädlichen Folgen im Erwachsenenalter bei. Die beobachtbaren Folgeschäden sind dann also nicht nur eine direkte Folge elterlicher Destruktivität, sondern auch indirekte Folge durch die negativen Prägungen auf Geschwisterebene. Oder anders gesagt: Elterliche Destruktivität kann eine Sogwirkung entfalten; sie stößt an und bedingt weitere negative Dynamiken, die alle Beteiligten sogartig erfasst und immer weiter nach unten reißt. 

Anderes Beispiel: Wenn sich z.B. im Kindergarten oder in der Grundschule zwischen Eltern herumspricht, dass es bei einem Elternteil eines bestimmten Kindes Kinderschutzmaßnahmen/-interventionen gab, dann hat dies u.U. direkte Folgen, die dem betroffenen Kind gar nicht klar sein werden. Das Kind will vielleicht ein anderes Kind zu sich nach Hause einladen oder es lädt zum Geburtstag ein. Nur: Es kommt keiner! Die Eltern der anderen Kinder werden direkte oder indirekte Wege finden, ihr Kind davon zu überzeugen, dass es sich andere Freunde suchen soll. Nicht weil das andere Kind ein Problem ist, sondern weil sie Sorge bezogen auf einen Elternteil oder die Eltern des anderen Kindes haben und ihr eigenes Kind schützen wollen. In der Folge verzweifelt das betroffene Kind und sein Selbstwertgefühl wird erschüttert. Das Kind wird – wie im Beispiel davor – nicht von seinem Umfeld „getragen“, es erlebt weniger oder kaum emotional befriedigende Freundschaften mit anderen Kindern. Es findet dadurch auch kein oder weniger Ausgleich zu den destruktiven Erfahrungen im Elternhaus statt, obwohl diese Ausgleichserfahrungen so unbedingt nötig wären. Das Ausgegrenzt-werden war ursprünglich Folge des destruktiven Verhaltens der eigenen Eltern. Aber das Ausgegrenzt-werden an sich hat wiederum ganz eigene schädliche Folgen für das betroffenen Kind. Auch hier gilt wieder: Elterliche Destruktivität entfaltet eine ganz eigene Sogwirkung nach unten. 

Ähnliches Beispiel wie das zuvor: Erlebte elterliche Destruktivität oder gar traumatische Erfahrungen haben natürlich auch akute Folgen für die betroffenen Kinder. Wenn diese Folgen sich so ausdrücken, dass die entsprechenden Kinder verhaltensauffällig werden, dann kann ihr negatives Verhalten wiederum Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Wenn es nette und konstruktive Kinder in der Schule gibt, dann werden sich viele Kinder nicht unbedingt das verhaltensauffällige Kind als besten Freund aussuchen. Die eigene dunkle Ausstrahlung oder Verhaltensauffälligkeit führt zur Vereinsamung des Kindes, was wiederum noch mehr Verhaltensauffälligkeiten nach sich zieht. Die destruktiven Eltern gaben den Anstoß, das Kind wird in den dunklen Strudel hineingezogen. Auch hier gilt wieder: Das Kind macht weniger oder kaum tragende, positive Erfahrungen, sondern lernt ganz im Gegenteil, dass die Welt nicht nur aus destruktiven Eltern besteht, sondern auch das Umfeld gefühlt „feindselig“ ist. Wer ausgegrenzt wird, der erlebt dies als Angriff auf seine Person und fühlt sich feindselig behandelt. Zu Recht. Damit meine ich nicht, dass das Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes real feindselig sein muss. Das betroffene Kind wird vielleicht akzeptiert und auch wahrgenommen. Aber was hilft dies, wenn keine Kinder zum Spielen vorbeikommen und wenn man keinen besten Freund findet? Das Kind fühlt sich dann im „Feindesland“. Alles ist grau, das Leben wird zur Qual. 

Erneut ähnliches Beispiel: Ein stark vernachlässigtes Kind, das in Kindergarten und Schule gut integriert ist und keine Verhaltensprobleme zeigt, nähert sich einem anderen Kind an, baut eine Freundschaft auf und besucht dieses Kind auch. Das andere Kind lebt in einer sehr herzlichen Familie, die tiefe Bindungen hat. Nun kann dies eine Chance für das vernachlässigte Kind sein, positive Ausgleichserfahrungen zu machen. Aber was ist, wenn sich die „Täterintrojekte“ melden? Wenn eine Stimme innerlich ruft: „Du hast es nicht verdient, diese nette Familie zu kennen und zu besuchen. Du bist schlecht und Dreck! Keiner wird Dich mögen!“ (Botschaften also, die ursprünglich in ähnlicher Weise durch destruktive Elternteile in das Kind eingepflanzt wurden)  Oder anders gedacht: Was ist, wenn diese nette Familie zu einer extremen Verunsicherung des vernachlässigten Kindes führt? Denn dieses Kind erlebt quasi bei seinem Besuch live, was es selbst nicht hat und wie sehr es im Grunde Zuhause leidet. Unerträglich! Dieses Kind inszeniert in der Folge plötzlich Streit. Es verhält sich schlecht. Es macht sich unbeliebt. Schließlich wird es von dem einladenden Kind gemieden und verliert den Kontakt. Das vernachlässigte Kind kann jetzt wieder innerlich überleben, weil es nicht mehr sehen muss, was es selbst so gerne hätte. Die Folge: Weniger Sozialkontakt, schlimmstenfalls Vereinsamung mit wiederum ganz eigenen Folgen. Der Sog der destruktiven Eltern wirkt auch hier. 

Noch ein Beispiel: Die oben gemachten Überlegungen führen zu einer weiteren Überlegung. Wenn diese Dinge so passieren, hat dies u.U. zur Folge, dass entsprechende Kinder eher „Ihresgleichen“ suchen. Kinder mit destruktiven Eltern finden sich dann gegenseitig. Sie erkennen sich. Sie verbindet auch etwas. Allerdings kann es, wenn es schlecht läuft, auch dazu führen, dass sie ihre schlechten Seiten gegenseitig verstärken. Sie haben Zuhause keinen konstruktiven, liebevollen Umgang erlebt. Sie haben eine andere innere Moral entwickelt. Sie pflegen jetzt gegenseitig ihre destruktiven Seiten. Sie planen jetzt vielleicht Intrigen gegen ein anderes Kind. Oder sie planen, einen Lehrer fertig zu machen. Wenn diese Kinder Jugendliche werden, sind es genau diese unguten Verbindungen, die zu destruktiven Gruppenbildungen führen: Delinquente Jugendgangs, extremistische Gruppen usw. Wie gesagt, man „erkennt sich“ gegenseitig. Traumatisierte Menschen können einander irgendwie anziehen, das gilt auch für Ehepaare.

Wobei wir beim nächsten Thema wären: Destruktive Kindheitserfahrungen können manches Mal ungute Lebensentscheidungen nach sich ziehen. Man(n) will Soldat werden, um sich stark und zugehörig zu fühlen und seine Kindheit abzuschütteln. In der Folge erlebt man(n) traumatisierende Einsätze und wird psychisch immer weiter beschädigt. Oder man findet einen Ehepartner, der ebenfalls in der Kindheit traumatisiert wurde. Beide Partner verletzten sich vielfach gegenseitig und arbeiten gemeinsam an der Zerstörungen ihrer beider Leben und ihres Glücks. Der Sog, der ursprünglich von den Eltern erzeugt wurde, wird immer größer und zieht weitere belastende Erfahrungen nach sich. Dies könnte man in etliche Richtungen weiterspinnen. Etwa dahingehend, dass als Kind schwer verletzte Menschen später oft kein gutes Gefühl für potentiell bedrohliche Situationen oder bedrohliche Menschen haben. Oder ein innerlicher Druck zwingt sie gar auf eine Weise, sich in riskante Situationen zu begeben. In der Folge erleben sie dann schwere Verletzungen. 

Es gibt im Extrem in der Tat Biografien, wo sich eine schwere Belastung an die nächste reiht. Am Anfang war die elterliche Misshandlung. Wenn man sich dann die Lebensgeschichte dieser Menschen genau anschaut, dann gab es stets nur Schatten, nie Licht. Dann gab es nur Unglück, nie Glück. Dann gab es keinen Schutz, nur Verletzungen. Socher Art Biografien kann man sich gar nicht ausdenken, sie sind unfassbar. 

Mit diesem Beitrag, den man sicher noch weiter ausfeilen könnte, möchte ich unterstreichen, dass elterliche Destruktivität nicht alleine für die beobachtbaren negativen Folgen im Erwachsenenalter (wie z.B. psychische Störungen, massive Gesundheitsprobleme, usw.) verantwortlich sein muss. Die elterliche Destruktivität an sich stößt derart viel an oder bewirkt einen derartigen Sog, dass sich diverse weitere belastenden Erfahrungen daraus ergeben, dass Menschen weniger durchs Leben „getragen“ werden und sie folglich auch psychisch weiter beschädigt werden. Den Grundanstoß gab in der Tat das destruktive Elternhaus! Daraus folgt der Schluss, dass eine Prävention von Leid im Elternhaus der Schlüssel auch von Prävention weiterer belastender Erfahrungen sein kann. Kumulierte Belastungserfahrungen erhöhen massiv den möglichen schädlichen (psychischen) Output.  Leider zeigt uns die Realität, dass im Elternhaus belastetet Kinder oft genau das erleben: Mehrfachbelastungen, die sich gegenseitig verstärken oder auch die nächste Belastung nach sich ziehen. Insofern muss die Präventionsarbeit auch einen geschulten Blick auf diese potenziellen Sogwirkungen haben, die im Elternhaus schlecht behandelte Kinder nicht selten erleben.