Mittwoch, 23. August 2023

Der Historiker David G. Marwell und die Kindheit von Josef Mengele

David G. Marwell ist amerikanischer Historiker und hat das Buch „Mengele. Biographie eines Massenmörders“ (2021, wbg Theiss, Kindle E-Book Version; original Titel aus 2020: „Mengele: Unmasking the "Angel of Death") geschrieben.

Für mich bot das Buch eine große Überraschung und lenkt mein Interesse auf den Autor an sich. 

Belastende Kindheitserfahrungen von Josef Mengele habe ich relativ ausführlich in meinem Buch besprochen. Meine beiden Quellen dafür waren: 

Knopp, G.  (1998): Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. C. Bertelsmann Verlag, München.

Völklein, U. (1999): Josef Mengele – Der Arzt von Auschwitz. Steidl Verlag, Göttingen.

Die Kindheitsbelastungen von Josef Mengele lassen sich diesen Quellen zufolge wie folgt zusammenfassen: im Alter von drei Jahren fast ertrunken, weil niemand auf ihn aufgepasst hatte (Rettung in letzter Sekunde); der Vater war chronisch abwesend, seine sehr dominante Mutter (die bei ihren Angestellten gefürchtet war) war ebenfalls häufig abwesend, Personal kümmerte sich um das Kind, Gefühlskälte in der Familie und Erziehung, häufige Streitigkeiten zwischen den Eltern, hohe Erwartungen und Gehorsamsforderungen, Vater war sehr dem Alkohol zugeneigt, beide Elternteile wendeten Körperstrafen gegen das Kind an (Fuchs 2019, S. 290-292).

Und jetzt die Überraschung: Von den genannten Belastungen findet man fast nichts in dem viel neueren Buch von David G. Marwell! Wie kann das sein?

Das erste Kapitel, in dem er auch den Blick auf Kindheit und Familie von Mengele richtet, fängt Marwell so an:
Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung“ (Marwell 2021, S. 18).

In diesen einleitenden Sätzen sind gleich zwei Ausblendungen enthalten, was Einfluss von Familie und Kindheit angeht. Insofern ahnte ich nach diesen Zeilen schon, wie es weitergehen würde…und zwar so:

Während Mengele seinen Vater später als `gutmütig und weichherzig` beschrieb, war seine Mutter `äußerst resolut und energisch`. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters“ (ebd., S. 19).

In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten“ (ebd., S. 19).

Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit“ (ebd., S. 19). Dem hängt der Autor noch an, dass laut einem Kindheitsfreund von Mengele die Atomsphäre in der Familie „konservativ, katholisch, konventionell“ gewesen wäre. 

Bei diesen spärlichen Ausführungen bzgl. der Innenansicht der Familie bleibt es im Grunde. Das Bild, das der Autor zeichnet, ist ziemlich deutlich: Es war halt eine ganz normale Familie, die sogar im Wohlstand lebte. In der Kindheit von Mengele findet der Autor keine Auffälligkeiten. 

Laut dem Quellenverzeichnis hat Marwell auch das von mir als Quelle verwendete Buch „Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker“ von Ulrich Völklein verwendet. Dem Buch von Völklein konnte ich u.a. entnehmen, dass beide Elternteile Körperstrafen gegen ihren Sohn Josef anwendeten, was eine massive und folgenreiche Belastung für ein Kind bedeutet. Kein Wort davon bei Marwell. 

Nun müssen wir auf zwei Dinge blicken: Marwell ist Amerikaner und wurde 1951 geboren. 

In den USA sind Körperstrafen gegen Kinder bis heute in keinem einzigen US-Staat verboten. In vielen Staaten ist sogar weiterhin das Schlagen von Kindern in der Schule erlaubt und wird auch praktiziert. Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet weiterhin das elterliche Recht, Kinder körperlich zu bestraften. Von seinem Geburtsjahr her, dürfte David G. Marwell mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch weit aus mehr von dieser Art Einstellungen bzgl. Körperstrafen geprägt worden sein, als dies heute der Fall ist. Wer in einer Kultur aufgewachsen und geprägt wurde, die kein Problem mit dem Schlagen von Kindern hat (und in der Folgen auch keine negativen Folgen für die Kinder sehen möchte), der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch blind gegenüber Kindheitsleid, wenn es um die Erforschung von historischen Akteuren geht. 

Insofern wird hier der Historiker David G. Marwell für mich quasi selbst zum Forschungsobjekt. Er ist darüber hinaus auch kein Einzelfall. In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst, in dem ich u.a. das häufige Wegsehen von Fachleuten bzgl. Kindheitsleid von historischen und politischen Persönlichkeiten besprochen habe. 
Dieses Wegsehen gilt übrigens auch für die für mich ergiebige Quelle "Völklein" (siehe oben). Immerhin hat er diverse Daten und Infos bzgl. der Kindheit von Mengele aufgeführt, die für mich hilfreich waren. Ganz und gar erstaunlich ist dagegen das Schlusswort des Biografen Ulrich Völklein (Historiker und Journalist) am Ende des Kapitels über die Kindheit und Jugend: „Josef Mengele erlebte zwar keine behütete und beschirmte Kindheit in der Geborgenheit seiner Familie, aber es war eine von wirtschaftlicher Not freie Jugendzeit in dem überschaubaren Beziehungsgeflecht einer kleinen Stadt in Schwaben. Nichts in seinen äußeren Lebensbedingungen kann als notwendige Voraussetzung seiner späteren Entwicklung gedeutet werden" (Völklein 1999, S. 52). 

Abschließend sei noch erwähnt, dass das Buch von Marwell für mich immerhin zwei neue Infos bzgl. der Kindheit von Josef Mengele gebracht hat. 

Josef scheint ein sehr kränkliches Kind gewesen zu sein und das hatte Folgen: 
Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte“ (Marwell 2021., S. 22). 

Außerdem scheint um die Geburt von Josef eine gewisse Aufregung in der Familie geherrscht zu haben. Denn das erste Kind der Familie war wenige Tage nach der Geburt gestorben (ebd., S. 19). Wie diese Tragödie die Familie geprägt hat, lässt sich nur erahnen. 

Kommen wir nochmals zurück zur Einleitung von Marwell: „Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte“, schreibt er. 

Wie ich auf Grundlage anderer Quellen (wie oben beschrieben) nachweisen konnte, war die Kindheit von Josef Mengele schwer belastet. Dies führt nicht automatisch dazu, dass jemand zum Täter und Massenmörder wird. Diese Kindheitserfahrungen bilden allerdings das Fundament für destruktives Agieren bzw. die belastenden Kindheitserfahrungen erklären, warum ein Mensch zum „Todesengel“ werden konnte. Die NS-Forschung legt sich selbst Steine in den Weg, wenn sie nicht endlich trauma-informiert wird! Vermutlich wird dies zukünftig - aus oben besagten Gründen - eher die jüngere Forschergeneration erfüllen.  


Mittwoch, 16. August 2023

Zwischenbilanz: Entwicklung meiner Arbeit, aber auch meiner Person

Es wird Zeit für einen Zwischenbericht zur Entwicklung meiner Arbeit, aber auch über meine persönliche Entwicklung. 

Ich erinnere mich heute zunächst zurück an das Jahr 2003. Damals war ich noch Student der Soziologie an der UNI Hamburg. Im Nebenfach Politologie hielt ich innerhalb eines Seminars über Kriegsursachen ein Referat über die Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Krieg. Geleitet wurde das Seminar von einer Dozentin, die auch aktives Mitglied der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) war. 

Geprägt war ich zu der Zeit ganz wesentlich von dem ca. Anfang 2002 veröffentlichen Buch „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen, aber auch von „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller. Ergänzend konnte ich zwei Semester lang einer großen Vorlesungsreihe am UKE von Peter Riedesser (früherer  Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie) über Kindheit folgen. Diese Vorlesungen, fast alle von Riedesser persönlich gehalten, haben mich damals schwer beeindruckt und auch bestätigt. Später fand ich einen eindrucksvollen Text (bzw. eine Rede) von Riedesser, aus dem ich auch heute noch oft zitiere. 

Schon damals erkannte ich für mich die absolut wertvollen Aussagen von Gruen und Miller, die gesellschaftliche destruktive Prozesse auf einer tieferen Ebene analysierten. Schon damals sah ich aber auch, wie beiden Arbeiten empirisches Material und handfeste Daten fehlten, weil sie sehr psychoanalytisch ausgerichtet waren. 

Meine damalige Hausarbeit (Titel: Der "Krieg" in den Kinderzimmern als Wurzel kriegerischer Gewalt) war ein erster Versuch, diese „Lücke“ zu schließen. Im Jahr 2003 war meine Herangehensweise provokant. Zudem musste ich auf die noch verhältnismäßig wenig Daten über das internationale Ausmaß von Gewalt gegen Kinder zurückgreifen (was heute ganz anders aussieht). 

Ich werde nie das Gefühl vergessen, als der Tag der Besprechung meiner Hausarbeit anstand. Die Rahmenbedingungen entsprachen auf eine Art dem Thema. Das Gebäude, in dem der Termin mit der Dozentin stattfand, war von innen her ein fast klassisches „Behördengebäude“: Optisch kalte und karge Räume und Gänge, große und lange Flure. Ich weiß nicht warum, aber als ich das Gebäude betrat, war kein einziger Mensch zu sehen, auch auf meinem Weg nach oben zum Raum der Dozentin nicht. Es war fast etwas unwirklich und ich rechnete damit, hinter der Tür mit der mir aufgezeigten Raumnummer niemanden anzutreffen. Nun, da saß sie nun, meine Dozentin und wir begannen damit, meine Hausarbeit zu besprechen. 

Mit Anfang 20 ist man noch nicht ganz reif und neigt auch zur Überschwänglichkeit. Ich betrat damals mit dem Gefühl diesen Raum, dass ich jetzt Meldung bei der „Feuerwehr“ abgeben werde. Die Dozentin repräsentierte für mich die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) und mir war bewusst, dass Kindheitserfahrungen in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ausrichtung dieser Einrichtung kein Thema war. Ich kam mit dem Gefühl, den „Schlüssel“ zu übergeben, der dann weitergereicht werden sollte. 

Nun, meine Erwartungen wurden enttäuscht. Auf den Inhalt ging die Dozentin kaum ein. Meinen Ausführungen lauschte sie zwar, gab aber am Ende bzgl. der Benotung den Kommentar, dass ich die einigermaßen gute Note vor allem auf Grund meiner Vielzahl an Quellenarbeit erhalten würde. 

Diese Hausarbeit war mein Startpunkt bzgl. der Erforschung der politischen Folgen von Kindheit. Seit ca. 2001 hatte ich mich zuvor intensiv mit dem Gesamtthemenkomplex Kindesmisshandlung und den individuellen Folgen befasst. Damals betrieb ich auch eine Homepage über das Thema, die ich dann später einstellte. Nun betrat ich zunehmend den politischen Raum. 

An der Tür der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) wurde ich nach meinem Empfinden abgewiesen. Später schickte ich noch – in meinem jungen Überschwang... - die überarbeitete und ausgeweitete Hausarbeit an diverse Mitglieder der AKUF. Reaktion bekam ich nur von einer einzigen Person, die im Jahr 2003 noch studentische Hilfskraft des oben besprochenen Seminars gewesen war und die meine Hausarbeit mit kontrolliert hatte. Wir verfielen in einen tagelangen Emailverkehr zu dem Thema. Im wesentliche kam heraus, dass das Thema Kindheitseinflüsse abgewehrt wurde. 

Diese Abwehr des Themas blieb jahrelang mein beständiger Begleiter. Oder besser gesagt: Die Nicht-Reaktion auf Anschreiben, Aussagen, Gespräche und Blogbeiträge. Dies änderte sich erstmals im Jahr 2012, als mein Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen“ am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität zu Köln veröffentlicht wurde. Prof. Dr. Thomas Jäger hatte nach einem kurzen Austausch mit mir Interesse für das Thema gezeigt und wollte dazu etwas von mir veröffentlichen. 

Irgendwann in den Jahren danach kam ein Vertreter der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e. V. auf mich zu und regte eine Zusammenarbeit an. Daraus entstanden dann erste Beiträge von mir im „Jahrbuch für psychohistorische Forschung“. Im Jahr 2018 schrieb ich mein Buch und konnte es durch die Vermittlung von Dr. Ludwig Janus 2019 im Mattes-Verlag veröffentlichen. Das Buch hat mir in der Folge viele Türen geöffnet. Es entstanden weitere einzelne Fachbeiträge von mir und seit dem Jahr 2021 wurde ich ergänzend zu einigen Fachvorträgen u.a. auch von renommierten Akteuren wie „Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin“, „Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin“ oder dem „Deutschen Präventionstag“ eingeladen. 

Beim Deutschen Präventionstag (dem größten europäischen Kongress zur Kriminalprävention) ist ergänzend auch ein großer Text von mir erschienen. Mehr fachlichen „Feueralarm“ kann ich im Grunde fast nicht mehr auslösen :-), was mich emotional enorm entlastet.  

Nebenbei verbreitete sich mein Buch immer weiter in Fachkreisen (mit so einigen Fachleuten hatte ich auch persönlich Kontakt und Austausch) und ist mittlerweile auch in so manchen Büchern zitiert worden. Auch renommierte Kriminologen wie Christian Pfeiffer und Dirk Baier haben mein Buch gelesen und darauf verwiesen (wobei Pfeiffer mein Buch als „wichtiges Buch“ bezeichnet hat, während Baier es halb würdigte und halb kritisierte). 

Warum schreibe ich dies alles?
Es ist zum einen ein großer Rückblick auf die vergangenen über 20 Jahre. Was aber viel wesentlicher ist, ist das ganz private und persönliche Gefühl von mir, das mit dieser Entwicklung einhergeht. Die beständige Bestätigung der Bedeutsamkeit meiner Erkenntnisse und auch die Anerkennung dieser Arbeit, dabei vor allem auch die Anerkennung, dass diese einen hohen Wahrheitsgehalt hat, haben mich nervlich wirklich extrem beruhigt. Ich fühle mich nicht länger als jemand, der einen Brand sieht, überall anruft und man lässt es halt brennen. Klar, auf gesellschaftlicher Ebene fehlt weiterhin viel an Bewusstsein. Dass die genannten Fachkreise meine Arbeit gesehen haben, gibt mir aber einfach ein gutes und auch beruhigendes Gefühl. 

Die Kehrseite des Ganzen: Meine Motivation ist etwas abgeflaut. Oder anders gesagt: Es „brennt“ auch weniger in mir, das „Feuer“ wurde quasi auch innerlich etwas gelöscht, was ich persönlich sehr gute finde. Nach den Coranajahren und dem für mich, als unternehmerisch tätigen Menschen, schwierigem Wirtschaftskrisen-Jahr 2022 (ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, der wiederum viel mit Kindheit in Russland zu tun hat; ich als Unternehmer also quasi – meinen psychohistorischen Erkenntnissen nach - auch ein Stück weit an den Folgen von Kindheit in anderen Ländern zu leiden hatte...) steht zudem auch die Frage im Raum: Wie viel Zeit möchte ich dem Thema noch zugestehen? Die Zeit, die ich dem Thema widme, ist - außer bzgl. dem Buch - unbezahlt und ehrenamtlich. Meine Antwort ist, dass ich deutlich weniger Zeit in das Thema stecken werde. 

Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich im Grunde kaum noch Entdeckerarbeit sehe. Alle für mich wesentliche Bereiche habe ich ergründet und bearbeitet. Wesentliche neue Infos und Erkenntnisse verbreite ich meist über Twitter, weil dies einfach viel schneller zu machen ist, als über einen Blogbeitrag und die Reichweite auch größer ist. Blogbeiträge kommen sicher noch, aber nicht mehr so häufig. 

Für meinen Blog sehe ich drei wesentliche Aufgaben vor mir:

1. Es muss dringend ein ausführlicher neuer und großer Beitrag über die Adverse Childhood Experiences Studien her. In Fachtexten, in meinen Vorträgen und innerhalb meines Twitter-Accounts ist die ACEs Forschung zentral. Im Blog habe ich das Thema dagegen bisher vernachlässigt. 

2. Nachdem die geplante Übersetzung meines Buchs ins Englische vorerst gescheitert ist, plane ich die Übersetzung zumindest eines großen Textes ins Englische. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass ich meine Erkenntnisse nur im deutschsprachigen Raum verbreite. 

3. Immer noch plane ich den Umzug des Blogs. Eine entsprechende Domain habe ich bereits reserviert. Der Blog soll optisch ansprechender und frischer werden. Viele Texte müssen zudem überarbeitet werden. Das wird sehr viel Zeit kosten und ist für mich nur Stück für Stück machbar (vermutlich innerhalb der nächsten drei Jahre). Am Ende soll dann quasi ein verschlankter Blog mit den zentralsten Beiträgen stehen, die dann für die „Ewigkeit“ im Netz allen zur Verfügung gestellt werden. Vermutlich werde ich auch einiges aus meinem Buch online stellen bzw. zusammenfassen. 

Und dann ist auch irgendwann auch mal gut. Immer wieder werde ich natürlich interessiert neue Infos sichten. Aber ich bin jetzt 46 Jahre alt und plane nicht, dass Thema derart intensiv bis ins Rentenalter zu bearbeiten. Letztendlich hängt es ja auch nicht mehr am Informationsstatus, sondern an dem Vermögen und Willen, die Dinge wahrzunehmen. Dafür braucht die Gesellschaft – die gesellschaftliche „Psyche“ - einfach ihre Zeit. Meine Texte werden diesen Prozess nicht beschleunigen, sondern nur ankitzeln. Es steht und fällt mit der Evolution von Kindheit (Verbesserung von Kindheitsbedingungen) und von persönlicher, wie auch kollektiver Aufarbeitung von erlebten Traumatisierungen. Dieser Prozess ist im Gang und er ist auch nicht zu stoppen. Evolution muss immer sehr langfristig gedacht werden. So ist es nun einmal in der Welt. 

Das lustige ist, dass sich, trotz der vielen gezeigten Entwicklungen, meine Grundaussagen seit dem Jahr 2003 im Grunde nie geändert haben. Damals zweifelte ich etwas an mir selbst, weil die Feedbacks so still, ausweichend oder kritisch waren. Durch meine vielen Datensammlungen habe ich diese Selbstzweifel längst überwunden. Im Kern bleibt die Grundaussage, dass eine friedlichere Kindheit eine friedlichere Gesellschaft/Welt zur Folge hat. Und natürlich gelten weiterhin die Sätze: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an!" und "Die Kindheit ist politisch!"

Für mich persönlich hat sich durch mein angearbeitetes "trauma-informiert-sein" allerdings der Blick auf meine Familiengeschichte, meine Verwandten, mein Umfeld, meine Alltagsbegegnungen und bzgl. dem täglichen Wahnsinn der Berichterstattungen über Geschehnisse in der Welt verändert. Viele Dinge sind für mich erklärbarer geworden. Privat sowie beruflich ist dies manches Mal auch nützlich für mich, weil man Warnzeichen bzgl. anderer Menschen und ggf. sich anbahnenden "dunklen Wolken" früher erkennt. 

Insgesamt bedauere ich etwas, dass ich schon mit Anfang 20 ein Stück weit Leichtigkeit im Leben verloren habe. Zu wissen, wie die Welt heute mit Kindern umgeht und wie unsere Vorfahren sogar noch weit schlimmer mit Kindern umgegangen sind, das hinterlässt auch Spuren. Realitäten auszublenden, kommt aber nicht für mich in Frage. Denn dies würde in der Folge auch bedeuten, Präventionsmöglichkeiten auszublenden.


Montag, 7. August 2023

Kindheit von Till Lindemann (Rammstein)

Jüngst haben diverse Frauen Vorwürfe gegen Till Lindemann von der Band Rammstein erhoben. Ich nahm dies zum Anlass, etwas über die Kindheit des Sängers zu recherchieren. Im Internet fand ich zunächst nicht viele Infos dazu. 

Ich fand nur zwei wichtige Details: Till, der damals Leistungsschwimmer war, hat seine Kindheit weitgehend im Sportinternat in der DDR verbracht (Könnau, S. (2023, 30. Mai): Rammstein-Frontsänger: Was Vater Werner über seinen Sohn Till Lindemann schrieb. Mitteldeutsche Zeitung.).
Damit einher ging eine räumliche Trennung von der Familie, aber vermutlich auch der auf Leistung bezogene Erziehungsrahmen, den die damalige DDR Leistungs-Sportlern aufdrückte. 

Seine Mutter Brigitte „Gitta“ Lindemann hat innerhalb eines Interview gesagt:  „Wir waren ja nicht immer sehr glücklich als Familie, weil es waren ja alles Individualisten und jeder meinte sein Anspruch realisierten zu müssen“ (SWR2 Tandem (2013, 21. August): Irgendein Mike Oldfield neuerdings, ca. Minute 3:18).

Ich habe mir dann das Buch „Mike Oldfield im Schaukelstuhl. Notizen eines Vatersvon Werner Lindemann (1988, Buchverlag Der Morgen, Berlin) besorgt. Der Vater von Till Lindemann berichtet darin über das Zusammenleben mit seinem Sohn, der als Neunzehnjähriger für eine kurze Zeit zu ihm aufs Land zog. Im Buch heißt sein Sohn „Timm“. 

Dass mit „Timm“ Till gemeint ist, hat der Sänger in einem späteren Nachwort zum Buch selbst ausgesagt: „Ich fand überhaupt nicht gut, dass mein Vater das einfach veröffentlicht hat, ohne mich zu fragen. Alle wussten, dass ich der Timm im Buch bin. Das waren mir zu viele Einblicke in mein Leben“ (Süddeutsche Zeitung (2020, 13. März): Vater und Sohn). 

In dem Buch fand ich ganz wesentliche Infos über die Kindheit von Till Lindemann. Sein Vater schreibt ganz zu Anfang statt einer Widmung: „Junge Bäume haben Mühe, hochzukommen im Schatten der alten“. Dieser Satz durchzieht auch das Buch, denn der Vater ringt stets mit sich, seinem Sohn und dem Vater-Sohn-Verhältnis. „Eine jähe Erkenntnis: Die Kluft zwischen Timm und mir ist breit und tief. Was weiß er über mich? – Was weiß ich über ihn? Der Junge hat in den vergangenen Jahren seltener an meinem Tisch gesessen, als der Vollmond am Himmel erschienen ist. In der Kinder- und Jugendsportschule war er beinahe jedes Wochenende gefordert: Schwimmtraining, Reisen, Wettkämpfe. Die gemeinsamen Tage in der Stadtwohnung könnte ich zählen; ich habe seit eh und je lieber hier draußen in unserem alten Bauernhaus zwischen den Weidenhügeln gesessen“ (Lindemann 1988, S. 10). 

Manchmal gibt es intensivere Begegnungen zwischen Vater und Sohn. Manchmal verläuft es auch so: „Timm hat wohl wieder seine Dunkelkammerzeit. Schweigend verlässt er das Haus, ohne Worte betritt er es. Keine Fragen, keine Antworten. Ein gefühlloser Schatten“ (S. 62). 

Der Vater scheint seinerseits auch sehr in sich zurückgezogen gewesen zu sein und wirkt melancholisch bis teils depressiv. An einer Stelle im Buch unterbricht er z.B. den Textfluss und schreibt einfach das Wort „Selbstmordeinsam“ dazwischen (S. 19). 

Tills Vater wurde im Zweiten Weltkrieg schwer belastet und musste als Jugendlicher kämpfen. Aufschlussreich ist, dass er seine Erinnerungen an seinen Sohn ständig mit Erinnerungen aus seinem frühen Leben unterbricht, die er auch oft mit „Erinnerung“ betitelt, um sie vom Rest des Textes abzugrenzen. Oft sind diese Erinnerungen geprägt von Berichten über belastende Erfahrungen. 

An einer Stelle erinnert er sich an das Jahr 1941, als er bei einem Großbauern in die Lehre ging. Der Bauer strafte ihn einmal mit einer Peitsche, weil er eingeschlafen war (S. 13). Auch erinnert er sich an konkrete Kriegserlebnisse, u.a. an verletzte Kameraden und der Gefahr, selbst getötet zu werden (S. 37f.). Auf der Flucht wird er von einem Panzer beschossen. „Mit jeder Granate fliegen zwei, drei Flüchtende in die Luft“ (S. 115). Oder er erinnert sich, wie ihn sowjetische Soldaten mit gezogener Pistole beklauen (S. 57f.). Dann ist er wieder im Hier und Jetzt mit Timm, um dann anzuschließen: „Aus dem Morgen, vom Dambecker See her, tief gestaffelt, ziehen Graugänse heran. Erinnerung überfällt mich: Flugzeuge – Sirenengeheul – pfeifende Bomben. Die grauen Keile – Wildgänse. Welch heiteres Geschwätz am Himmel“ (S. 58f.). Ich vermute allein auf Grund dieser Schilderungen bzgl. Flashbacks, dass Werner Lindemann an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat. Dies kann auch Folgen für Angehörige und insbesondere Kinder haben (Stichwort: transgenerationales Trauma). 

Manchmal besucht die Mutter aus der Stadt kommend Vater und Sohn. Einmal gibt es Streit und sie sagt zu ihrem Mann: „Der Junge ist so verrückt, weil wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben“. Der Vater: „Wie kümmern, wenn er jahrelang von früh bis spät, sieben Tage in der Woche im Schwimmbecken liegt?“. Die Mutter: „Wir hätten öfter mitfahren sollen“ (S. 65). 

Eine glückliche Familie scheint dies nicht gewesen zu sein, was ja auch die Mutter so ähnlich in dem Zitat oben ausgesagt hat. 

Werner Lindemann berichtet auch kurz über das eigene Erziehungsverhalten seinem Sohn gegenüber: es war offenbar auch geprägt von Gewalt. Der Vater hatte seinem Sohn alte Gedicht gezeigt. In einem Gedicht geht es um Fehlverhalten (meterlang die Tapete bemalt) von „Timm“ (der rechtfertigt sich damit, dass dies Arbeit gewesen wäre) und am Ende fragt der Vater sich „Bin ich berechtigt, Arbeit zu bestrafen? Timm liest die Gedichte und sagt lächelnd: `Du hast mir oft den Arsch versohlt`“ (S. 22). 

Dass der Vater zu Gewalt neigte, zeigt sich auch in einer weiteren Szene. Nach einem Streit mit seinem Sohn über Unordnung schreibt Werner: „Wo es an Argumenten fehlt, gebraucht man die Fäuste – ich hole aus, schlag zu. Timm wehrt sich. Ich stolpere, falle auf die Stufen des Hauseingangs. “ (S. 103). 

Vater und Sohn sprechen danach eine Zeit nicht miteinander. Seine Frau macht ihm später Vorwürfe wegen des körperlichen Übergriffs. Und er hält ein weiteres Streitgespräch mit ihr fest: „Kein Wunder bei unseren Scheißfamilienverhältnissen.“ Der Vater reagiert. „Ihr hättet ja alle mit nach hier ziehen können“. Die Mutter: „Du hättest dich ja öfter in der Stadt sehen lassen können“ (S. 105). 

Werner Lindemann und seine Frau sind noch ein Paar, leben aber wohl seit Jahren getrennt. 

Bereits bei der Geburt von „Timm“ war das Paar offensichtlich räumlich getrennt. Er habe in dem Haus der Familie als Untermieter zwei eigene Zimmer gehabt, schreibt Werner. „Als Timm geboren wurde, lebte jeder für sich“ (S. 143). 

Der Auszug seines Sohnes erfolgte heimlich und schweigend. Er ging einfach, ohne zu sagen wohin. Werner erfährt schließlich, wo sein Sohn jetzt wohnt und schließt sogleich damit, dass er in der Folge über eine Koppel läuft und die Umgebung auf sich wirken lässt. Er fügt direkt an: „Ein Augenblick, wo das Leben so vollendet scheint, dass ich sterben möchte“ (S. 186). Was für ein Ende für ein Buch über das eigene Vater-Sohn-Verhältnis...