Donnerstag, 29. April 2021

"Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe" / Anmerkungen über Kindheitshintergründe

In dem Band „Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe“ finden sich, wie der Titel schon sagt, 30 Lebensläufe von hochrangigen SS-Männern. Kürzlich hatte ich den Band bereits als eine Quelle für die Kindheit von Gestapochef Heinrich Müller verwendet. Die Beiträge ersetzen keine komplette Biografie, das gibt der kurze Rahmen nicht her, aber sie geben einen guten Überblick über die Akteure. Neben Heinrich Müller fand ich nur bei 2 weiteren SS-Männern, mit denen ich mich bisher nicht befasst hatte, Auffälligkeiten bzgl. deren Kindheit. Und zwar bei diesen beiden: 

Wilhelm Bittrich (hochrangiger SS-Kommandeur) wurde am 26.02.1894 geboren. Im März 1895 starb seine Mutter. Der Vater heiratete erneut. „Des jungen Wilhelm Kindheit war freudlos; es gab mehr Schläge als Brot. Er verließ das Elternhaus und wuchs bei einem Verwandten, einem tüchtigen Handwerksmeister, auf (…)“ (Mühleneisen, H. (2000): Wilhelm Bitterich. Ritterlicher Gegner und Rebell. In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 77.)

Bzgl. Erich von dem Bach-Zelewski (hochrangiger SS-Mann) fand ich in der verwendeten Quelle im Grunde fast nichts über seine Kindheit. Allerdings ist ein schweres Trauma belegt: Als er 10 Jahre alt war, starb sein Vater (Angerick, A. (2000): Erich von dem Bach-Zelewski. Himmlers Mann für alle Fälle. In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 28.) Ein Gutsbesitzer nahm sich seiner als Pflegesohn an. 

Einzelne andere Akteure, die in dem Band besprochen wurden, stammen aus Familien mit militärischer Tradition, aber daraus lässt sich nur vermuten, wie die Erziehung ausgesehen haben könnte. Hinweise geben die Biografen nicht. 

Was ich spannend fand waren die Berichte in dem Band über die Akteure, mit denen ich mich schon ausführlich befasst habe: Reinhard Heydrich, Werner Best, Adolf Eichmann, Heinrich Himmler, Rudolf Höss und Ernst Kaltenbrunner

In dem Beitrag über Reinhard Heydrich finden sich überhaupt keine Berichte über Belastungen in seiner Kindheit, entgegen dem, was ich für mein Buch recherchiert habe. Was allerdings neu für mich war ist, dass Heydrich während seiner Zeit beim Militär (ab dem 18. Lebensjahr) ein Außenseiter ohne Freunde war, der von Kammeraden gehänselt wurde (Sydnor, C. (2000): In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 210) Dies sind zwar keine Belastungen im Kindesalter, aber sie knüpfen nahtlos an all die Belastungen in seiner Kindheit und Jugend an, die ich recherchiert habe. 

Bzgl. Werner Best wird in dem Band (von Fritz Petrick) nur kurz der Tod des Vaters geschildert, aber nicht die Belastungen, die daraus folgten. (siehe meinen Beitrag im Blog über Werner Best

Der Beitrag über Adolf Eichmann (von Hans Safrian) hat mich insofern nicht verwundert, weil – wie so oft, wenn es um Eichmann geht – die autoritäre, strenge Erziehung in seinem Elternhaus ausgeklammert wurde. Was mich dann doch gewundert hat ist, dass der Autor den frühen Tod von Eichmanns Mutter nicht erwähnte. 

Bzgl. Heinrich Himmler erwähnt der Autor Johannes Tuchel immerhin mit einem Wort die autoritär-konservative Erziehung, die Heinrich erlebt hat. Leider bleibt es bei dieser Erwähnung ohne ergänzende Anmerkungen. (ausführliches über seine Kindheit in meinem Buch)

Der Beitrag von Gunnar Boehnert über Rudolf Höß ist da schon deutlicher: Die strenge Familie wird erwähnt, ebenso der Vater, der eiserne Disziplin forderte und kaum Gefühle gegenüber dem Sohn zeigte. Auch die Zeit als „Kindersoldat“ wird erwähnt (Höß ging bereits als 15-Jähriger zum Militär und kam bald darauf an die Front). Andere Belastungen wie z.B. der frühe Tod der Mutter bleiben unerwähnt.
Was ich aufschlussreich finde ist, dass gerade in diesem Beitrag, in dem doch im Grunde mit Deutlichkeit auf belastende Kindheitshintergründe eingegangen wird, der Autor sich den Raum dafür nimmt, sozialpsychologische Arbeiten zu besprechen (inkl. dem Milgram-Experiment) und er gleichzeitig keinen einzigen Wink in Richtung Kindheit von Höß gibt. Das ist etwas, was ich immer wieder bei meinen Recherchen fand. Die Biografen sehen belastende Kindheitshintergründe und schauen doch und trotzdem an ihnen vorbei. Das ist paradox, aber es ist leider auch Routine. 

Der Beitrag über Ernst Kaltenbrunner von Peter Black reiht sich dann wieder in Nichts-Sagen über die Kindheit ein: Weder der gewalttätige Vater, noch die 5-jährige Verschickung in eine Schülerpension (mit strenger Gastmutter) werden erwähnt. Beides scheint für den Autor also keine gewichtige Info zu sein. Aufschlussreich ist auch hier erneut, dass ich mich bei der Recherche über Kaltenbrunners Kindheit auf die Kaltenbrunner-Biografie geschrieben von Peter Black bezogen habe, der – wie oben erwähnt – auch Autor des Beitrags in dem Band über den SS-Mann Kaltenbrunner ist. 

Was der Band „Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe“ überdeutlich für mich zeigt ist, dass man nicht voreilige Aussagen treffen sollte, wenn es um Kindheitserfahrungen von NS-Tätern geht. Wenn man alle 30 Beiträge auswertet, würde man zu dem Schluss kommen, dass es bzgl. der Kindheiten der meisten Akteure fast keine Auffälligkeiten gibt. Gleichzeitig wird aber auch nicht nachgewiesen, dass diese Akteure liebevoll, unbelastet und gewaltfrei aufgewachsen sind. 

Der Band zeigt somit eindrucksvoll auf, dass belastende Kindheitserfahrungen für die Biografen und Historiker oft keine zentrale Rolle spielen. Entsprechend ziehen sie auch keine Verbindung zwischen diesen Kindheiten und dem mörderischen Verhalten der später Erwachsenen in Betracht. 

Meine Recherchen über NS-Täter haben dagegen gezeigt, dass man viele wertevolle Informationen über die Kindheitshintergründe finden kann, wenn man denn genau hinsieht, was die Biografen – oft  nebenbei oder nebensächlich erwähnt – berichten. 


Donnerstag, 22. April 2021

Kindheit von Heinrich Müller (Chef der Gestapo in der NS-Zeit)

Erneut habe ich mich mit einem hochrangigem NS-Täter befasst: Heinrich Müller, Chef der Gestapo. 

Ich fand nicht viel über seine Kindheit, aber was ich fand, spricht eine deutliche Sprache: 

Müller wurde am 28.04.1900 geboren. Sein Vater war früher Sanitätsfeldwebel und später Polizist, schreibt Seeger (2000, S. 346). Bornschein (2004, S. 17) schreibt, dass der Vater Gendarmerie- und Verwaltungsbeamter gewesen sei. Der Vater war also sowohl militärisch/polizeilich, als auch vom kaiserlichen Beamtentum geprägt. Man braucht nicht viel Fantasie dafür, um sich vorzustellen, dass dieser Vater auch in der Familie eine Autorität gewesen sein muss, der sicherlich Gehorsam gefordert hat. Dafür spricht, was die Biografen berichten: „Heinrich, das einzige Kind der Eheleute Müller, wuchs in einem katholischen Elternhaus auf und erfuhr eine strenge, seine Entwicklung prägend, Erziehung“ (Bornschein 2004, S. 17).
Als 17-Jähriger meldete er sich freiwillig beim Militär, um im Ersten Weltkrieg mitzukämpfen. Nach seiner Ausbildung in der Fliegerabteilung kam der ca. 18Jährige an die Front. Nach seiner Militärzeit schlug er eine Laufbahn bei der bayerischen Polizei ein. „Die Entscheidung, den Beruf eines Polizeibeamten zu ergreifen, ist ohne Zweifel auf seine soldatische Erziehung im Elternhaus, aber auch auf seine Militärausbildung und seine während des Ersten Weltkriegs gewonnen Erfahrungen und Eindrücke zurückzuführen“ (Bornschein 2004, S. 21). 

Was genau eine „soldatische Erziehung im Elternhaus“ bedeutet, führt Bornschein nicht aus. Ich halte es für absolut sicher, dass ein im Jahr 1900 geborenes Kind vielfachen Belastungen im Elternhaus ausgesetzt war, wenn solche Erziehungsrahmen belegt sind.  

Und Seeger schreibt: „Die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs prägten das spätere Leben Heinrich Müllers maßgeblich. Die Erziehung zum Gehorsam und zur Pflichterfüllung verinnerlichte er; sie wurden zum festen Bestandteil seines Charakters und seiner Weltanschauung“ (Seeger 2000, S. 347). Auch hier finden sich also deutliche Worte: „Erziehung zum Gehorsam“. 

Eine weitere Belastung kam hinzu: Heinrichs Schwester starb kurz nach der Geburt (Seeger 2000, S. 346). Er blieb daher Einzelkind. Seeger führt nicht aus, ob Heinrich den Tod seiner Schwester miterlebt hat oder ob sie vor seiner Geburt starb. Beides würde Prägungen bedeuten (ob nun durch das Miterleben des Todes oder durch entsprechend vorbelastete Elternteile; letzteres würde auch bei der 1. Variante gelten). Für mich klingt es eher so, dass die Schwester starb, als Heinrich schon auf der Welt war, weil der Biograf so begründet, warum Heinrich Einzelkind blieb (weitergedacht trauten sich die Eltern dann nicht, eine weitere Schwangerschaft zu riskieren). Dies bleibt aber meine persönliche Vermutung. 


Quellen: 

Bornschein, J. (2004): Gestapochef Heinrich Müller. Militzke Verlag, Leibzig. 

Seeger, A. (2000): Heinrich Müller. Der Gestapochef. In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 346-363.


Sonntag, 18. April 2021

"Generation Allah" von Ahmad Mansour - Seine eigene Kindheitsgeschichte als Fallbeispiel für Radikalisierungsprozesse

 "Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen" (2015: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Kindle E-Book Version) von Ahmad Mansour stand schon seit langer Zeit auf meiner Lesewunschliste. Jetzt endlich habe ich das Buch gelesen. 

Ich will hier keine komplette Rezension verfassen, sondern einige wesentliche Zeilen herausfischen und vor allem auch die Kindheitsbiografie des Autors selbst besprechen. Denn Mansour radikalisierte sich als junger Mensch islamistisch und wurde Teil der Muslimbruderschaft.

Seit Jahren arbeitet Mansour als Psychologe in der Extremismusprävention und hilft Menschen beim Ausstieg aus der radikalen Szene. Sein Buch ist also ein Mix aus Autobiografie (als greifbares Fallbeispiel, das ihn gleichzeitig zum Experten macht), psychologischem und pädagogischem Fachwissen und Praxisanleitung für Extremismusprävention. Ein wirklich gutes Buch!

Ich wusste bereits, dass der Autor als Kind belastet war und dass dies das Fundament für seine damalige Radikalisierung legte. Die vielen (schweren) Belastungen und Traumatisierungen, die er bzgl. seiner Kindheit schildert, haben mich allerdings doch ziemlich überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet. Wobei seine Kindheitsbiografie wohl auch stellvertretend für viele andere palästinensische Kinder steht, die in einer Krisenregion aufwachsen müssen. 

Seine Eltern und Großeltern waren schwer belastet, wahrscheinlich auch traumatisiert. Krieg, Leid und Flucht hatten ihr Leben geprägt. Dazu kamen weitere Belastungen, wie Zwangsheirat seiner Großmutter und ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. "Die Erwachsenen, deren eigenes Leben von so viel Entbehrungen geprägt war, haben zu dieser Zeit nicht viel Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern genommen. Kinder hatten nichts zu sagen. Sie störten. Und sie sollten möglichst schnell in der Lage sein zu arbeiten" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 532).

Eltern und Großeltern hätten zudem kein Interesse daran gehabt, dass die Kinder eigenständig denken. Dazu kam eine tiefe Tabuisierung von Sexualität. Das ganze noch gepaart mit starkem elterlichen Leistungsdruck und hohen Erwartungen. Ahmad wurde von seinen Großeltern, die sehr präsent in seiner Kindheit waren, nicht ernst genommen und sollte vor allem gehorchen. Aber: Es gab auch glückliche Momente mit ihnen, scheibt er. Inkl. liebevoller Pflege, wenn er mal krank war. "Vermutlich waren es diese positiven Erfahrungen, die mir später die Kraft gegeben haben - anders als vielen Jungen aus meinem Umfeld -, den radikalen Irrweg wieder zu verlassen" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 548).  Das ist in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt, den er erwähnt: Positive Ausgleicherfahrungen stärken die psychischen Abwehrkräfte. Ich würde noch ergänzen, dass auch seine offensichtlich hohe Intelligenz einen Beitrag leistete. 

Seine Großmutter habe ihn als Kind häufig mit Gruselgeschichten z.B. über Untote geängstigt. Dies hätte zum Sinn gehabt, Gehorsam zu erzeugen. Mansour erwähnt auch Bestrafungen, die die Großmutter ausübte, geht aber nicht in Detail. Vor allem sein Vater wird als Strafender erwähnt (aber Gewalt, so deutet es sich an, scheint auch allgemein Bestandteil seines Alltags gewesen zu sein):
"Feste Bestandteile der Erziehung waren zudem Strafe und Gewalt. Ich glaube nicht einmal, weil meine Eltern wirklich überzeugt davon waren, sondern aus Überforderung. (...) Mein Vater kam (...) nach oben und gab den Ärger, den Druck an mich weiter. Bis ich zehn oder elf war, habe ich fast täglich körperliche Gewalt erlebt" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 579). Auch die Lehrer in der Schule schlugen zu. Hinzu kam Mobbing durch Gleichaltrige. 

In der frühen Kindheit - er war ca. 1 Jahr alt - kam ein weiteres Trauma hinzu: Der Großvater mütterlicherseits wurde überfallen und angeschossen, er starb einige Monate später. Dies bedeutete für Ahmad eine lange Phase der mütterlichen Abwesenheit (sowohl physisch als auch emotional). 

Als 14-Jähriger erlebte er Bombenangriffe mit, nie wieder habe er in seinem Leben eine solche Angst verspürt. 

Ein Imam aus seiner Schule wurde dann auf Ahmad aufmerksam, der Imam wurde zur Vaterfigur für den Jungen und gab ihm Anerkennung. Und natürlich sollte und wollte Ahmad seinen Koranunterricht besuchen. Auch dort fühlte sich Ahmad aufgehoben und traf Gleichaltrige, die ihn anerkannten. Die Radikalisierung nahm ihren Lauf...

Nun fasst der Autor in einigen Zeilen ganz zentrale Erkenntnisse zusammen:
"Was ich erlebt habe, ist eine ganz typische Entwicklung, auf die ich auch in meiner Arbeit mit Jugendlichen immer wieder treffe. junge Menschen, denen es auf Grund ihrer Erziehung und des schulischen und sozialen Umfeldes nicht möglich war, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln, die unsicher sind, sich als ausgestoßen empfinden, sind dankbar und empfänglich, wenn sich plötzlich jemand für sie interessiert und ihre Bedürfnisse nach Anerkennung und Aufgehobensein erfüllt. Fatal ist, dass das, was eigentlich die Familie, die Schule und die Mehrheitsgesellschaft tun sollte, oftmals von den falschen Menschen übernommen wird, den Verführern. Denn in dem Moment, in dem den Jugendlichen dämmert, worauf sie sich eingelassen haben, ist es meist schon zu spät. Viel zu tief sind sie dann schon in ihr neues Umfeld verstrickt" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 590)

Noch etwas kam in seinem Fall hinzu: Er konnte nun in direkte Konfrontation mit seinen Eltern gehen, sich über sie stellen, sie belehren, ihnen sagen, sie seien keine richtigen Muslime usw. Die gleiche Dynamik passierte in der Schule, das neue Auftreten brachte dem gemobbten Kind Respekt.  

Das muss ein wirklich "gutes" Gefühl für den misshandelten und vernachlässigten Jungen gewesen sein. Und ist es nicht genau das, was wir so oft bei Islamisten sehen? Dieses Bedürfnis nach dem über den Anderen stehen, nach der einzigen, überlegenen Wahrheit? Die radikal ausgelegte Religion verleiht Sicherheit, Selbstbewusstsein, Orientierung und Größe. Die radikale Gruppe bietet Geborgenheit, Anerkennung und Familienersatz. Gleichzeitig bietet die Ideologie eine Opfererzählung und Opferinszenierung: Wir sind das Opfer von XY, dort sind also unsere Feinde, wir müssen uns wehren und behaupten

Dem fehlenden Urvertrauen, das durch ungünstige Bedingungen in der Kindheit bedingt ist, widmet der Autor ein eigenes Unterkapitel unter gleichnamigen Titel. Diese Prägungen machen Menschen empfänglich für radikale Verführer. 

Der Autor fasst wunderbar und eindringlich zusammen:
"Von der paradiesischen Verheißung bis zur rigorosen Härte korreliert das salafistische Gott-Phantom mit den Sehnsüchten und Nöten, die Resultate einer dysfunktionalen, oft traumatischen Erfahrung in der frühen Kindheit sind. Es ist ein großes kompensatorischen Angebot an die beschädigte Psyche."(Kapitel: Über-Ich, Position 1283).

Im Buchverlauf stellt der Autor - neben seinem eigenen - 3 weitere Fallbeispiele ausführlich vor. Auch hier finden sich diverse Problemlagen und Belastungen in Kindheit und Familie. Außerdem hat er eine sehr gute Zusammenfassung von Präventionsansätzen aufgestellt. Vor allem der Punkt "In Elternarbeit investieren" gefällt mir besonders gut!

Fazit: Das Buch eröffnet Innansichten bzgl. dem Weg in die Radikalisierung, mit Tiefgang. Die Erkenntnisse des Autors decken sich mit der Forschungslandschaft bzgl. der Ursachenketten von Extremismus. Dass Mansour zentriert auf Kindheit und Trauma den Blick richtet, hebt sein Buch allerdings besonders hervor! In vielen anderen Veröffentlichungen findet sich oftmals nicht eine solche Deutlichkeit (davon abgesehen, dass viele Bücher über Extremismus gar nicht auf Kindheitserfahrungen eingehen). 

Donnerstag, 15. April 2021

Kritik an der Sendung: "Der kleine Diktator - Wie der Vater den jungen Hitler prägte"

Der Titel der Sendung „FORUM“ ist recht eindrucksvoll: „Der kleine Diktator - Wie der Vater den jungen Hitler prägte“ (SWR2, 13.4.2021)

Gregor Papsch diskutiert in der Sendung mit Prof. Dr. Wolfram Pyta (Historiker), Prof. Dr. Roman Sandgruber (Historiker) und Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (Philosophin). Alle 3 geladenen Gäste haben jeweils ein Buch über Adolf Hitler geschrieben. Anlass für die Runde ist die neue Hitlerbiografie von Sandgruber unter dem Titel „Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde“, auf die ich hier im Blog auch schon hingewiesen habe.  

Die Sendung ist für mich ein ganz und gar klassischer Fall, allerdings mit Fortschrittstendenzen. Was meine ich damit? 

„Klassisch“ ist die Sendung dahingehend, dass die traumatischen Kindheitserfahrungen von Adolf Hitler keine zentrale Rolle einnehmen und das trotz des Titels der Sendung, die ja eigentlich einen Schwerpunkt auf das Vater-Sohn-Verhältnis legt. Der Titel der Sendung und der gezielte Blick auf den Vater ist im Prinzip schon ein Fortschritt, vor allem im Vergleich zu vielen anderen Beiträgen aus der Wissenschaft, die sich mit Hitlers Werdegang befassen. 

Ein deutlicher Fortschritt ist auch, dass Sandgruber auf den strengen und gewalttätigen Vater Hitlers und auch die vielen Todesfälle in der Familie hinweist. (Ich hatte in meinen Blogbeitrag über Sandgrubers Buch ja auch betont, dass endlich einmal ein Historiker ganz klar hervorhebt: Ja, dieser Mann ist als Kind schwer und oft geschlagen worden und es gibt derart viele Belege dafür, dass es da auch keine Zweifel gibt.) „Klassisch“ ist aber auch in dieser Sendung wiederum, dass diese Belastungen zwar erwähnt werden, sie aber nicht breiter aufgegriffen und diskutiert werden. Man wendet sich schnell wieder anderen Sach-Bereichen zu, die dann ausführlich besprochen werden. Es wird auch nicht ausgesprochen, dass Hitlers Kindheitserfahrungen traumatisch waren. Das Wort „Trauma“ fällt in der Runde nur einmal und zwar durch den Moderator. Er sagt: „Adolf Hitler hat alles getan, um seine Herkunft, die Geschichte seiner Eltern, seiner Großeltern und anderer Verwandtschaft zu verbergen oder umzuschreiben. Waren ihm sein Herkunft, die Provinzialität bis hin zu zur Sprache, peinlich, ist ihm ein Trauma geblieben?“ 

Warum wird diese Frage in Bezug auf die Verwandtschaft und deren Stellung in der Gesellschaft gestellt, aber nicht in Bezug auf das reale Grauen, dass Hitler als Kind erlitten hat? Am Ende der Sendung wird von Frau Zehnpfennig hervorgehoben, dass Einflüsse durch genetische Anlagen und Umwelt/Sozialisation immer spekulativ seien. Man solle sich daher mehr auf das Denken von Hitler konzentrieren, weil dies auch deutlich belegbar sei. Und Sandgruber betont in seinem Schlusswort:
Es sind noch viele viele offene Fragen, die für mich da sind, wo man also einerseits historisch, andererseits natürlich auch philosophisch erklären könnte.“ 

Das ist wahrscheinlich das ganze Grundproblem: In solchen Sendungen (wie auch in vielen anderen Medienbeiträgen oder Wissenschaftsveröffentlichungen) werden i.d.R. keine Traumaexperten, Kinderpsychologen oder Psychohistoriker eingeladen, sondern Historiker, Philosophen oder Politologen. Hitlers Kindheitserfahrungen kann man nur, wenn man sich mit der Materie auskennt, als traumatisch bezeichnen. Kein Kind könnte nicht-traumatisiert aus einer solchen Kindheitsgeschichte hervorgehen! Das hat nichts mit Spekulation zu tun, sondern mit den belegten Fakten über seine Kindheit und psychologischem Fachwissen + Forschungen zu den Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen.  

Der fehlende Wille, das fehlende Bewusstsein und die fehlende Zentriertheit in Öffentlichkeit, Wissenschaft und Medien auf Kindheitseinflüsse bzgl. gesellschaftlicher Phänomene ist für mich wiederum zentrale Antriebskraft, immer wieder etwas über diesen Bereich zu schreiben. Wenn es irgendwann ganz selbstverständlich sein sollte, dass Personen wie Hitler und auch gesellschaftliche Entwicklungen stets auch unter die Lupe der Traumaforschung kommen, dann kann ich in den "Ruhestand" gehen ;-). 

Dienstag, 13. April 2021

Neue Studie zeigt: IS-Terroristen sind extrem selten als Kind belastet. Warum dies nicht stimmen kann!

Überraschung: Ehemalige IS-TerroristInnen und IS-Anhänger gehören laut einer aktuellen Studie zu den Menschen, die in ihrer Kindheit weltweit verglichen am friedlichsten aufgewachsen sind! 

220 (davon 182 männlich) Überläufer, Rückkehrer und inhaftierte ISIS-Kader (Durchschnittsalter ca. 30) wurden zwischen 2015 und 2019 ausführlich befragt. Die große Mehrheit der Befragten hatten von Geburt an muslimische Hintergründe, nur 7,7 % der Befragten waren zum Islam konvertiert.

Diese Studie hat mich wirklich einige Nerven gekostet: 

Speckhard, A. & Ellenberg, M. D. (2020): ISIS in Their Own Words: Recruitment History, Motivations for Joining, Travel, Experiences in ISIS, and Disillusionment over Time – Analysis of 220 In-depth Interviews of ISIS Returnees, Defectors and Prisoners. Journal of Strategic Security, 13, no. 1: S. 82-127. DOI: https://doi.org/10.5038/1944-0472.13.1.1791

Im ersten Moment ließ die Studie mein Herz wirklich höherschlagen. Die Autorinnen weisen im Textverlauf darauf hin, dass sie 10 Fragen aus dem Adverse Childhood Experiences-Fragebogen verwendet haben. Hinzu kamen weitere Fragen zu Belastungen (z.B. Tod von Elternteilen, Familienkonflikte). Dies ist die erste mir bekannt Studie bzgl. islamistischen Terroristen, die systematisch die Adverse Childhood Experiences abgefragt hat. Ich wäre vor Spannung fast vom Hocker gefallen, als ich dies las. Allerdings wäre ich auch beinahe fast ein zweites Mal vom Hocker gefallen, nämlich als ich die Ergebnisse sah. Die Ergebnisse kann ich hier nochmals zusammenfassen: 

IS-TerroristInnen und IS-Anhänger gehören – dieser Studie nach - zu den Menschen, die in ihrer Kindheit weltweit verglichen am friedlichsten aufgewachsen sind. Herzlichen Glückwunsch, als Kind weitgehend unbelastete Menschen sind es also, die der Welt den Terror und all die Grausamkeiten beschwert haben, die wir während der Hochphase der IS-Herrschaft gesehen haben. 

Mir war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmen kann! 

Ich bewege mich jetzt auf einem schmalen Grat. Ich bin kein institutionell eingebundener Wissenschaftler und muss daher nicht „neutralisiert“ um den Brei herumreden. Aber, ich habe sehr hohe Ansprüche an meine Arbeit und Recherchen, die möglichst wissenschaftlichen Kriterien standhalten sollen. Wer meine Arbeit kennt und verfolgt, könnte jetzt schnell zu dem Schluss kommen, dass ich solche Ergebnisse wie aus dieser Studie einfach nicht anerkennen WILL, weil sie nicht der Richtung entsprechen, die ich stets finde, bespreche und verbreite. Diese Schlussfolgerung wäre naheliegend, zugegeben. Ich meine allerdings, dass ich ziemlich gute Argumente dafür habe, warum die Ergebnisse bezogen auf die Kindheitserfahrungen der Terroristen und Terroristinnen nicht stimmen können. Diese werde ich gleich vortragen. 


Hier zunächst die Ergebnisse. Jeweils in Klammern habe ich die ACE-Werte für die erwachsene Durchschnittsbevölkerung der USA (Studie: Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 States) und für Deutschland (Studie: Prävalenz und Folgen belastender Kindheitserlebnisse in der deutschen Bevölkerung) und ergänzend die Ergebnisse einer Studie von jungen Erwachsenen (meist Studierende) im Irak (Adverse childhood experiences and their relationship to gender and depression among young adults in Iraq: a cross-sectional study) aufgeführt. Warum, werde ich gleich erläutern. 


ACE-Werte der IS-Akteure:

Emotionale Misshandlung: 0 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen

(USA: 34,42 % Männer/Frauen; Deutschland: 12,5 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 6,27 % Männer/Frauen)


Körperliche Misshandlung: 1,7 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen

(USA: 17,94 % Männer/Frauen; Deutschland: 9,1 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 17,21 % Männer/Frauen)


Sexuelle Misshandlung: 0 % IS-Männer, 2,6 % IS-Frauen

 (USA: 11,6% Männer/Frauen; Deutschland: 4,3 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 7,52 % Männer/Frauen) 


Emotionale Vernachlässigung: 1,7 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: keine Angaben; Deutschland: 13,4 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 19,2 % Männer/Frauen)


Körperliche Vernachlässigung: 0 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: keine Angaben; Deutschland: 4,3 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 19,8 % Männer/Frauen)


Miterleben von Häuslicher Gewalt: 1,7 % IS-Männer, 5,3 % IS-Frauen 

(USA: 17,51 % Männer/Frauen; Deutschland: 9,8 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 16,54 % Männer/Frauen)


Suchtmittelmissbrauch in der Familie: 1,7 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen 

(USA: 27,56 % Männer/Frauen; Deutschland: 16,7 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 3,24 % Männer/Frauen)


Psychisch kranke Familienmitglieder: 2,2 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: 16,53 % Männer/Frauen; Deutschland: 10,6 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 8,23 % Männer/Frauen)


Trennung oder Scheidung der Eltern: 8,8 % IS-Männer, 21 % IS-Frauen 

(USA: 27,63 % Männer/Frauen; Deutschland: 19,4 % Männer/Frauen; Irak: keine Angaben)


Inhaftierte Familienmitglieder: 1,1 % IS-Männer, 5,2 % IS-Frauen 

(USA: 7,9 % Männer/Frauen; Deutschland: 3,5 % Männer/Frauen; Irak: keine Angaben)


Wir sehen eindrucksvoll, dass die IS-TerroristenInnen in ganz wesentlichen Punkten weit unter den Durchschnittswerten der Bevölkerungen in den USA, Deutschland (wobei Deutschland bzgl. der ACE-Verteilung gerade auch bei den Gewaltbereichen schon zu den weltweit verglichen am besten dastehend Ländern gehört und somit hier ein Vergleich zu seinem Land aufgeführt ist, in dem Kinder weltweit verglichen sehr sicher aufwachsen) und dem Irak liegen. Für die Studie im Irak wurden zudem junge Erwachsene befragt, die meist Studierende waren. Diese Bevölkerungsgruppe ist vermutlich deutlich weniger belastet, als z.B. die einfach, ländliche Bevölkerung ohne große Bildungshintergründe im Irak (darauf deuten ergänzend auch Ergebnisse aus den MICS-Studien von UNICEF hin, die ein sehr hohes Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder im Irak fanden: 63 % aller Kinder im Irak erleben demnach innerhalb von 4 Wochen körperliche Gewalt im Elternhaus; besonders schwere körperliche Gewalt erleben ca. 27 % aller irakischen Kinder). Trotzdem liegen die ACE-Werte der IS-Leute deutlich darunter. Dies kann alleine statistisch und von der Wahrscheinlichkeit her nicht sein! 

Was mich besonders stört ist, dass die Autorinnen keine Hinweise in diese Richtung geben. Sie stellen ihre Ergebnisse bzgl. der ACEs nicht in Frage und sie setzen sie auch nicht ins Verhältnis zur Allgemeinbevölkerung. 

Besonders auffällig ist auch, dass die männlichen IS-Leute deutlich weniger Belastungen angeben (in 7 von 10 ACE-Bereichen), als die weiblichen. Die meisten Studien über Kindesmisshandlung belegen z.B., dass Jungen häufiger körperlich misshandelt werden, als Mädchen. Bei den IS-Leuten gaben 1,7 % der Männer und 7,9 % der Frauen an, als Kind körperlich misshandelt worden zu sein. Diese Zahlen sind sowohl im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, wie auch bzgl. der Verteilung dieser Belastung bei den Geschlechtern absolut unwahrscheinlich. Es liegt also die Vermutung nahe, dass sich gerade die IS-Männer bzgl. kindlicher Belastungen besonders ausgeschwiegen haben. 

Der Blick auf die Methodik der Studie zeigt allerdings schnell die Schwächen auf, die meiner Auffassung nach mit dazu führen, dass hier falsche Ergebnisse zu Tage kommen. 

In der Einführung schreiben die Autorinnen zunächst: „All three groups of ISIS insiders (prisoners, defectors, and returnees) are often reluctant and fearful about giving interviews“ (S. 83). Was es sehr schwer machen würde, diese Leute zu erreichen. Trotzdem haben die Autorinnen 220 Befragte in ihrem Sample. Dies wird sie viel Mühe und Zeit gekostet haben. Trotzdem möchte ich den zitierten Satz aufgreifen. Diese IS-Leute waren zeitlich noch nah an ihren Erlebnissen während der Terrorherrschaft des IS dran und natürlich spielte Angst eine Rolle im Hintergrund und auch noch in ihrem aktuellen Leben. Was auch der nachfolgend zitierte Satz deutlich macht: „All of the interviews touched on highly traumatic material and often required psychological expertise to support the individual to continue speaking about painful events that were difficult to discuss“ (S. 85). Die Autorinnen betonen gleich im Anschluss an diesen Satz, dass sie beide sehr qualifiziert für diese Befragungen seien, sowohl was Erfahrung mit der Befragung von Terroristen (inkl.  der Arbeit mir Übersetzern) angeht, als auch bezogen auf ihre psychologische Qualifikation. Insofern seien die Interviews auch relativ reibungslos verlaufen und die Befragten hätten sich geöffnet.

Ich habe da meine Zweifel. Und zwar auf Grund der nachfolgend erläuterten Rahmenbedingungen:

Die Interviews wurden in der Türkei, Irak, Syrien, auf dem Balkan, in Europa und Zentralasien durchgeführt. Die Befragten stammen aus 35 verschiedenen Ländern und repräsentieren 41 verschiedene ethnische Hintergründe. Die Interviews wurden i.d.R. in Gefängnissen, Lagern, Verhörräumen oder Büros geführt. In mehr als der Hälfte der Fälle musste ein Übersetzer dabei sein. Die Interviews wurden auf Video oder per Audio aufgenommen. Die Interviews dauert im Schnitt 1,5 Stunden. In manchen Fällen wurden die Interviews gestört, weil Leute in den Raum kamen. In Gefängnissen und Lagern wären i.d.R. Wärter im Raum verblieben. Überläufer hätten sehr um ihre Sicherheit gefürchtet und suchten einen sehr privaten Rahmen für das Interview, was wiederum mehr Unsicherheit für die Interviewer bedeutete. Die Interviews begannen stets mit Fragen über die Kindheit.

Alle diese Sachverhalte machen es für mich mehr als nachvollziehbar, warum diese Leute – so meine These - ihre Kindheit beschönigt bzw. belastende Ergebnisse nicht angegeben haben.

Schon den Durchschnittsbürger kostet es viel Überwindung, offen seine Kindheitserfahrungen darzulegen. Hier haben wir es mit Tätern und Täterinnen zu tun, die oft noch in einem für sie unsicheren Rahmen festsaßen (ob nun z.B. im Gefängnis oder als versteckter Überläufer). Dazu kam, dass das Gesagte aufgezeichnet wurde. Dazu kam, dass oft Dritte anwesend waren (Übersetzer, Wächter, Sonstige). Dazu kam, dass viele dieser Leute an sich durch ihre IS-Zeit traumatisiert waren, was die Autorinnen im Verlauf der Studie aufzeigen. Dazu kam, dass noch kein langer zeitlicher Abstand zwischen der Mitgliedschaft im IS und dem Interview da war. Dazu kam, dass die Mehrheit der Befragten Männer waren. Männer, die sich einer mittelalterlichen Ideologie wie der des IS angeschlossen hatten. Zu dieser Ideologie gehörte die systematische und starke Entwertung von Frauen und die Überhöhung alles männlichen. Anne Speckhard und Molly D. Ellenberg (die Autorinnen und Feldforscherinnen der Studie) sind beides westliche Frauen. Warum sollten diese IS-Männer gerade gegenüber diesen beiden Frauen ihre intimsten und größten Schwächen, ihre geheimen Kindheitstraumata offenbaren? Warum?
Nóch dazu, wo alles aufgezeichnet wurde, noch dazu, wo oft Dritte im Raum waren. Noch dazu, obwohl ihr eigenes Schicksal oft noch gar nicht geklärt und gesichert war und sie nicht wissen konnten, wie diese Daten verwendet werden. Zu all dem wurden die Interviews auch noch mit den Fragen zur Kindheit begonnen. Besser wäre es gewesen, diese Fragen im Schlussteil des Interviews unterzubringen, nachdem die Interviewten etwas erschöpft sind und weniger nachdenken und – ganz wichtig – nachdem sie vielleicht etwas Vertrauen gewinnen konnten. 

Bzgl. der ACE-Werte wäre es wohl deutlich sinnvoller gewesen, diese per Fragebogen abzufragen, nicht durch persönliche Interviews. In den persönlichen Interviews hätte man dann noch die Chance gehabt, um die IS-Leute nach Episoden aus ihrer Kindheit und Erfahrungen mit ihren Eltern zu befragen, um das Bild zu ergänzen bzw. abzugleichen. Vom Gefühl her würde ich sagen, dass ein sicherer Rahmen auch eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen wäre, dass die Wahrheit über die Kindheit berichtet wird. In einem Gefängnis in einem nicht wirklich demokratischen Land, würde ich keine absoluten Wahrheiten von Befragten erwarten, zumal, wenn es um die größten Schwächen geht. 

Insofern fasse ich zusammen: Ich bin wirklich enttäuscht von dieser Studie. Aber: Ich habe die Hoffnung, dass die Forschenden zukünftig weitere ACE-Befragungen von Extremisten und Terroristen durchführen. Sie sollten sich aber vorher mit den ganzen Problemlagen solcher Befragungen befassen. Meine eigenen Recherchen haben auch immer wieder gezeigt, dass solche Leute ihre Kindheit gar nicht "anfassen" wollen oder sie einfach mit Sätzen wie „war alles normal“ „keine schlechten Kindheitserfahrungen“ (z.B. Anders Breivik) usw. abtun, obwohl ihre Kindheiten unfassbar traumatisch waren. 

Bevor man versucht, traumatische Kindheitserfahrungen abzufragen, muss man darum wissen, wie ungemein schwer es vielen als Kind traumatisierten Menschen fällt, über ihre Erlebnisse zu sprechen, Man muss zudem um Spaltungsprozesse wissen (viele Menschen können sich wirklich nicht an ihre schrecklichen Kindheitserfahrungen erinnern). Und muss im Hinterkopf haben, dass gerade grausame Täter (insbesondere die männlichen Exemplare) nach außen Stärke und absolute Macht demonstrieren wollen. „Schwächen“ abzufragen, gestaltet sich naturgemäß in solchen Fällen als äußerst schwierig. Hier wäre eine methodische Lösung u.a. die, dass man ergänzend und zum Abgleich Verwandte und Freunde über die Kindheiten dieser Leute befragt (ggf. auch Gerichtsakten einsieht), was natürlich den Aufwand deutlich erhöht hätte. 

Abschließend sei auf das Kapitel „11. Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“ in meinem Buch verwiesen, in dem ich mich ausführlich mit diesen Problemlagen befasst habe. 


Samstag, 10. April 2021

Studie über Einflussfaktoren für islamistische Radikalisierung

Für folgende Studie wurden 33 (davon 2 weiblich) in Deutschland straffällig gewordene Islamisten auf Grundlage von Gerichtsakten und ergänzend 4 Interviews mit Personen aus dem Sample analysiert: 

Srowig, F., Roth, V., Böckler, N. & Zick, A. (2017): Junge Menschen und die erste Generation des islamistischen Terrorismus in Deutschland: Ein Blick auf Propagandisten, Reisende und Attentäter. In: Böckler, N. & Hoffmann, J.: Radikalisierung und extremistische Gewalt: Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main, S. 101-117.


Das Autorenteam fasst zusammen: 

Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden. Die Konflikte lassen sich wie folgt aufschlüsseln: 

- Kritische Lebensereignisse, wie die Erkrankung oder der Verlust einer nahestehenden Person bzw. vergleichbare Krisensituationen

- Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus

- Gewalterfahrungen als Täter

- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol“ (S. 105)

Leider wurde nicht die genaue prozentuale Verteilung dieser Belastungsfaktoren aufgestellt. Fest steht, dass die genannten Belastungsfaktoren zentrale Gemeinsamkeiten der Islamisten sind. Ich möchte ergänzend erwähnen, dass ein exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum laut Forschungslage vor allem von Menschen praktiziert wird, die ein hohes Maß an kindlichen Belastungen (Adverse Childhood Experiences) erlitten haben. Zusammen mit dem Punkt „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ sowie auch dem Verlust von Bezugspersonen zeigt diese Studie also eindeutig auf den Einfluss von Kindheitserfahrungen bzgl. Radikalisierungsprozessen. 

Im Anhang (S. 108-114) werden 3 Fallbeispiele vorgestellt, die ich kurz zusammenfasse: 

Frank: 

Frank wuchs mit 4 Stiefgeschwistern auf, die aus verschiedenen Beziehungen der Mutter stammen. Dies alleine deutet bereits auf eine von Beziehungsbrüchen geprägte Familiensituation hin. Die Kinder wurden oft alleine gelassen, weil die Mutter arbeiten musste. Frank hat in seinem Leben wenig Zuneigung erlebt und verfügt über ein geringes Selbstbewusstsein. Die Beziehungen im familiären Umfeld waren „durchgehend von Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen geprägt. Auch mit zunehmendem Alter versucht Frank nahezu alle inner- wie außerfamiliären Auseinandersetzungen mit Gewalt zu lösen (…)“ (S. 108). Ein Lebensgefährte der Mutter war aktiver Salafist. Dieser brachte Frank mit dem radikal ausgelegten Islam in Berührung. Frank konvertierte daraufhin in kurzer Zeit zum Islam. Auf Grund von Konflikten zog Frank zunächst zu seiner Stiefschwester. Auch hier kam es zu Konflikten, so dass er schließlich in eine Wohngruppe für Jugendliche unterkam. Auch die Wohngruppe musste er auf Grund seiner radikalen Einstellungen wieder verlassen und kam in einer anderen Gruppe unter. 

Rakim: 

Rakim kam als jüngstes von insgesamt 7 Kindern dieser türkischen Einwandererfamilie zur Welt. Die vielen Kinder werden vermutlich dazu geführt haben, dass die Eltern kaum Zeit und Aufmerksamkeit für Rakim hatten. In der Grundschulzeit fühlte sich Rakim durch Gleichaltrige ausgeschlossen. Während seiner Jugend oder Kindheit wurde beim Vater Krebs diagnostiziert. Der Vater starb schließlich, als Rakim 17 Jahre alt war, was für Rakim eine tiefe Lebenskrise bedeutete. 

Hassan: 

Die einzigen Infos über seine Kindheit sind die, dass er der jüngste Sohn eines deutsch-türkischen Ehepaares ist und nie schulische Probleme hatte. Insofern bleiben hier Fragezeichen bzgl. Belastungen. 


Samstag, 3. April 2021

"Listening to Killers" von James Garbarino

Das Buch „Listening to Killers. Lessons Learned from My 20 Years as a Psychological Expert Witness in Murder Cases“ von James Garbarino (2015, erschienen in University of California Press, Oakland) erinnert mich stark an die Arbeiten von James Gilligan und Jonathan H. Pincus. Garbarino hat wie Gilligon und Pincus langjährige Erfahrungen in der Arbeit mit und der Befragung von Mördern. Nach eigenen Angaben hat er mit über 50 Mördern gearbeitet (S. 22). Für viele weitere Mörder bekam er Einsicht in die Akten.

Seine Schlussfolgerungen gleichen ebenfalls denen von Gilligan und Pincus, was sich in einem Zitat eindrucksvoll zuspitzt: „Many of the killers I interview come from families so terrible that to call them `dysfunctional` would be a gross understatement“ (S. 110).

Viele der Mörder, mit denen der Autor gesprochen hat, seien emotional geschädigt. Und dies wäre nicht so, weil sie so geboren worden wären. „They are the way they are because of what they experienced as children and adolescents. Few of them would have walked the path in life that they have walked if they had been born into and grown up in stable, positive, loving, functional family. (…) Listening to these killers, I hear stories of physical, psychological, and sexual abuse (…). I hear stories of profound emotional deprivation, devasting rejection, and catastrophic abandonment. I hear stories of trauma, often with lifelong effects“ (S. 114f.) 

Fälle wie der von „Duke“ sind noch die harmloseren: Sein Vater verließ ihn in früher Kindheit. Seine Mutter war für ihn emotional nicht erreichbar. Seine Mutter wurde als Kind von ihrem Halbbruder vergewaltigt und neigte als Erwachsene sehr dem Alkohol zu, um ihr Trauma zu deckeln. Bis zum Alter von 10 Jahren schlief Duke im Bett seiner Mutter und wurde von Zeit zu Zeit auf das Sofa ausquartiert, wenn sie Männer empfing, um Sex mit ihnen zu haben. Manchmal nahm sie auch Geld für Sex. Dukes Schwester versucht sich einmal, das Leben zu nehmen; überall sei Blut gewesen. Seine älteste Schwester wurde ermordet, als Duke 7 Jahre alt war. Seine Mutter trichterte ihm danach ein, mit niemandem über den Mord zu sprechen. Er selbst blendete seine Gefühle aus und meint im Rückblick, dass er ihren Tod nicht wirklich registriert hätte. (S. 106) Duke brach später in das Haus einer älteren Frau ein, um Geld für seinen Sohn zu beschaffen. Die Frau hatte ihn überrascht. Er tötete sie daraufhin äußerst brutal auf eine Weise, die sonst nur so vorkommt, wenn Täter und Opfer in einer Beziehung zueinander stehen, was hier aber nicht der Fall war.

Die Kindheit von „Malcolm Jones“ gleicht einem reinen Alptraum. Er war das Opfer von langjährigen, schweren körperlichen, sexuellen und psychischen Misshandlungen. Zigaretten wurden auf ihm ausgedrückt. Er wurde wiederholt vergewaltigt. „He was treated like a piece of garbage“ (S. 58). Niemand war da, um ihm als Kind zu helfen. Als er 6 Jahre alt war, wurde er Zeuge eines Mordes in seinem Zuhause. Der Täter: sein Stiefvater. Garbarion fügt an: „Is it any wonder that Malcolm haunts me? He should haunt us all. Our society failed to protect him as a child and now there is hell to pay“ (S. 59).

Einen Fall fand ich besonders interessant, weil er – wie so viele andere Fälle auch – deutlich macht, wie schwer es manchmal ist, die ganze Wahrheit über die Kindheitshintergründe herauszubekommen. „Jane“ (eine Mörderin) und ihre gesamte Familie waren in die Gang-Kultur in L.A. involviert. Das alleine lässt erahnen, dass sie als Kind und Jugendliche vielfältigen Belastungen ausgesetzt war. Jane drohte vor Gericht die Todesstrafe. Garbarino hatte von ihrem Anwalt erfahren, dass sie als Kind über einen langen Zeitraum von ihrem Onkel mütterlicherseits sexuell missbraucht wurde. Jane wollte nicht, dass dies vor Gericht besprochen wird, weil auch ihre Mutter anwesend sein würde. Garbarino überredete sie, es doch zu tun; auch für ihre Tochter, die eine Mutter brauchen würde, die am Leben ist (auch wenn sie im Gefängnis sitzt). Sie war einverstanden. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Vermutlich gab der Bericht über die Übergriffe des Onkels den Ausschlag dafür.
Wäre die Situation eine andere gewesen und wäre es nicht um Leben und Tod gegangen (Todesstrafe drohte), vermutlich hätten die Beteiligten nichts von den Übergriffen erfahren bzw. diese wäre nicht in die Akten gekommen. Wie viele Täter verschweigen vor Gericht, was ihnen wirklich alles in der Kindheit widerfahren ist?

Eine Stelle im Buch hat mich an den Bericht von Jens Söring erinnert. Garbarino hatte einen Vortrag unter dem Titel „Untreated Traumatized Children and the Scary Men They Become“ über Gefängnisinsassen gehalten. Kerry May Cook, der über 20 Jahre im Gefängnis gesessen hatte, obwohl er die Tat nicht begangen hatte, kam danach auf ihn zu. Cook sagte: „Man, I spent twenty years with these guys and what you said is exactly what I observed“ (S. 56). 

Neben den Kindheitshintergründen befasst sich der Autor auch mit anderen Analyseebenen, die allerdings wiederum in die Sozialisation mit hineinspielen. Dazu gehört vor allem die Umgebung und Kultur, in der diese Mörder aufgewachsen sind. Viele wuchsen in einer Umgebung auf, die er als „War Zone“ bezeichnet. Sprich Gewalt oder das Beobachten von Gewalt gehörte für viele Mörder zu ihrem Alltag, zusätzlich zu dem Leid, dass sie in ihren Familien erlitten hatten.

Interessant fand ich auch, dass Garbarino wiederholt betont, dass manche Mörder wie Kinder im Gewand eines Erwachsenen erschienen. Oder besser gesagt: Dass das traumatisierte Kind in ihnen auch zum Ausdruck kam. So hatte sich z.B. ein Mörder den „Pink Panther“ auf seine Brust tätowieren lassen, sein Lieblings Stofftier aus seiner Kindheit (S. 48).
Oder der Fall „Danny“, ein derart bedrohlicher Mann, dass er vor Gericht von 6 Wachleuten begleitet wurde, weil man davon ausging, er könne gewalttätig werden. Garbarino fragte ihn, was er über sich erzählen könne, dass andere Leute sehr überraschen würde. Seine Antwort: „I cry myself to sleep at night“ (S. 1). Garbarino kommentiert: „Afterwards, I check out his story: he does. Inside this big, scary, dangerous man is a frightened and hurt little child“ (S. 1). 

Nachtrag: In einem Interview hat Garbarino berichtet, dass er Mördern i.d.R. ein Set von 10 Fragen zur Kindheit und traumatischen Erfahrungen vorlegt (bekannt unter "Adverse Childhood Experiences"-Fragebogen). Die Mörder berichten über ein extrem hohes Ausmaß an Belastungen (ACEs), das weit über dem der Allgemeinbevölkerung liegt: "When I ask these questions of guys in these murder cases, it's rare that you get anybody less than eight, (...) And it's very common to get nine or ten." (Weller 2015: 5 surprising lessons a psychologist learned from interviewing killers)