Dienstag, 30. Juli 2019

Die Kindheit von Donald Trump


Auch bei Donald Trump finden sich deutliche destruktive Kindheitshintergründe. Das dürfte viele Leser und Leserinnen hier kaum überraschen. Vielleicht hat sich manch einer eher gewundert, warum ich bisher weder im Blog, noch in meinem Buch die Kindheit von Donald Trump besprochen habe.
Erstens: Ich dachte mir, dass jemand wie Trump sich und sein Verhalten letztlich von selbst erklärt. Warum sollte ich mir also die Mühe machen?
Zweitens: Ich war es so was von leid (was wahrscheinlich sein politischer Vorteil ist, weil viele Leute einfach nicht mehr aushalten, was er so macht und sagt…), mich mit Trump zu befassen! Da aber bald der nächste Präsidentschaftswahlkampf ansteht, komme ich an ihm jetzt wohl kaum vorbei.
Drittens: In meinem Hinterkopf hatte ich irgendwie fantasiert, dass es jemand wie Trump doch narzisstisch sehr kränken müsste, wenn ich alle möglichen politischen Führer (und speziell auch in meinem Buch amerikanische Präsidenten) bespreche und nun gerade IHN auslasse. Nun, dies war meine gehässige Fantasie ;-), real wird er sich natürlich eh nicht mit dem befassen, was ich hier schreibe.

Wer sich mit dem Werden von Donald Trump befasst, der kommt nicht an seinen Vater, Fred Trump, vorbei. Fred Trump war „ein pingeliger, förmlicher Mann, der auch zu Hause ein Jackett und eine Krawatte trug. Er war oft mürrisch und fühlte sich in Gesellschaft unwohl“ (Kranish & Fisher 2016, S. 60). Kranish & Fisher berichten zudem von pedantischem Verhalten des Multimillionärs. Fred Trump habe z.B. bei seinen Bauprojekten unbenutzte Nägel eingesammelt und sie den Zimmerleuten gebracht. D`Antonio schreibt, dass Fred Trump es nicht ertragen konnte, wenn auch nur ein einziger Cent verschwendet wurde (D`Antonio 2016, S. 108).
 „Fred Trump kompensierte seine Mängel im zwischenmenschlichen Kontakt durch extrem harte Arbeit. Er verbrachte selten einen Tag, ohne in irgendeiner Form geschäftlich tätig zu sein, und er arbeitete auch zu Hause, am Telefon, so gut wie jeden Abend. Ein Sohn oder eine Tochter, der oder die sich ein wenig Zeit mit ihm wünschte, begleitete ihn bei einem Wochenendausflug ins Büro oder bei einem Besuch von Baustellen. (…) Unterwegs bekamen sie dann Vorträge über die Bedeutung von Ehrgeiz, Disziplin und harter Arbeit zu hören. (…) Nach dem Familienkodex waren unflätige Wörter und kleine Snacks zwischendurch tabu, darüber hinaus verlangte er Gehorsam und Loyalität. Verstöße jeglicher Art wurden jeden Abend bei Freds Heimkehr gemeldet, und er verhängte dann die entsprechende Strafe“ (D`Antonio 2016, S. 79f). Der Biograf Michael D`Antonio beschreibt das Aufwachsen der Trump-Kinder als ungewöhnliche Kombination aus strenger Disziplin, Luxus und Überlegenheitsgefühl, auf das alle Kinder unterschiedlich reagierten.
Fred war, ebenso wie seine Frau, ein strenger Erzieher: „Fred und Mary führten ein strenges Regiment, sie verbaten ihren Kindern, sich gegenseitig mit Spitznamen anzureden, Lippenstift zu tragen oder länger als ausgemacht aufzubleiben. Jeden Abend erkundigten die Trumps sich bei ihren Kindern nach ihren Hausaufgaben und verlangten, dass sie ihren Haushaltspflichten nachkamen. Genau wie in der Schule rebellierte Donald gegen die Regeln und stritt sich deswegen mit seinem Vater. Trotzdem sagte Fred seinem Sohn stets, er sei ein `König` und müsse ein `Killer` werden in allem, was er tue“ (Kranish & Fisher 2016, S. 60).

An anderer Stelle gibt D`Antonio einen Einblick in das, was man wohl unter Strafen im Hause Trump u.a. verstand: nämlich auch körperliche Gewalt. Der ältere Bruder von Donald, Freddy, hatte Schwierigkeiten, die Ansprüche seines Vaters zu erfüllen. „Donald wünschte sich, dass Freddy sich etwas mehr Mühe gegeben hätte (…). Außerdem wurde von einem männlichen Trump erwartet, hart zu sein, selbst im Umgang untereinander; aber als der Vater Freddy eine Ohrfeige verpasste, war der so verletzt, dass er körperlich zu schrumpfen schien. Es war schwer zu ertragen, das mit anzusehen. Donald zog seine Lehren aus dem, was er beobachtete, und beschloss, sich gegen jeden zu wehren, der ihn herausforderte – auch gegen seinen Vater. Viele Jahre später sagte er einmal: `Ich habe mich immer gewehrt. Mein Vater war ein richtig harter Knochen.`“ (D`Antonio 2016, S. 108f). Freddy Trump wurde übrigens zum Alkoholiker und starb 1981 im Alter von 41 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht (Welt – Online 2017).
Auch in einer anderen Quelle wird belegt, dass Fred Trump seine Kinder schlug: "When Fred came home at night, Mary gave him a report on who had done what to whom during the day, and he would mete out the consequences. Depending on the seriousness of what had occured, malefactors might be grounded for a few days; according to the children`s friends, occasionally wrongdoers were also paddled with a wooden spoon" (Blair 2000, S. 228). Hier wird auch deutlich, dass die Mutter Strafen an den Vater delegierte!

Über die Mutter, Mary Anne MacLeod, von Donald Trump wird öffentlich meist weniger berichtet, als über den Vater. Sie wurde 1912 in Schottland als letztes von 10 Kindern geboren. Ihr Vater war Fischer. „Ihre Kindheit und Jugend waren von Isolation, Entbehrungen und Düsterkeit geprägt“ (Kruse 2017). Außerdem sei sie in krasser Armut aufgewachsen. 1930 wanderte sie in die USA aus und lernte dort Fred Trump kennen.
1948 bekam sie ihr fünftes und letztes Kind. Die Geburt war schwierig. Schwerwiegende Blutungen und Infektionen machten eine Reihe von Operationen nötig. „Es war nicht sicher, ob Mary Trump überleben würde. An diesem Wendepunkt war Donald Trump zwei Jahre alt und musste den Beinahetod seiner Mutter miterleben. Wie mag ihn das geprägt haben?“ (Kruse 2017).
D`Antonio beschreibt Mary Trump wie folgt: „Sie war auf ihre stillere Art ebenso hart, stur und ehrgeizig wie ihr Mann. (…) Sie liebte außerdem jene Art von Überfluss, wie er von der britischen Monarchie repräsentiert wurde“ (D`Antonio 2016, S. 75).
In dem Artikel „Was für einen Sohn habe ich erschaffen?“ wurde zentral dem Einfluss von Mary Trump auf das Werden von Donald Trump nachgegangen. Der Autor schreibt zusammenfassend, dass die Mutter von Donald „geisterhaft abwesend“ erscheint und die Beziehung zwischen Mutter und Sohn offensichtlich von Distanz geprägt war (Kruse 2017).

Ein weiteres Ereignis in der Kindheit von Donald Trump ist von zentraler Bedeutung! Gegen Ende der siebten Klasse, Donald war damals 13 Jahre alt, entdeckte Fred Trump, dass sein Sohn mit seinem besten Freund heimlich Ausflüge nach New York gemacht hatte. Fred war sehr wütend (ergänzend kamen wohl auch vorherige Probleme mit Disziplin in der Schule dazu) und beschloss, seinen Sohn auf ein Militärinternat zu schicken. Donald konnte sich nur am Telefon von seinem besten Freund, der ziemlich vor den Kopf gestoßen war, verabschieden (Kranish & Fisher 2016, S. 61f).
Die Devise im Internat war, die Zöglinge erst zu brechen und hinterher wiederaufzubauen. Körperliche Brutalität und verbaler Missbrauch wurden toleriert und gefördert. Neulinge mussten Aufnahmerituale über sich ergehen lassen, wozu z.B. Prügel mit Besenstielen durch ältere Schüler und der Zwang, in dampfgefüllten Duschen bis zur Ohnmacht zu stehen, gehörten. Geschlafen wurde in Baracken, jeden Morgen wurden die Schüler mit Trompetenlauten geweckt (Kranish & Fisher 2016, S. 62-65). D`Antonio schreibt, dass die Schüler dort einer „Kultur“, der „Herrschaft, Gewalt und Subversionen von Autoritäten“ ausgesetzt wurden (D`Antonio 2016, S. 83).

Donalds Erzieher in diesem Militärinternat war Theodore Dobias (genannt auch Doby), ein Kriegsveteran der US Army. Dobias war ein ruppiger Mann und er schlug die Schüler mit der offenen Hand, wenn sie nicht gehorchten. „Zwei Nachmittage pro Woche stellte er einen Boxring auf und befahl Kadetten mit schlechten Noten und denen, die Probleme mit der Disziplin hatten, gegeneinander zu kämpfen, ob sie wollten oder nicht. `Er konnte ein verdammtes Arschloch sein`, erinnerte sich Trump einmal. `Richtig fertigmachen konnte der einen. Man musste lernen zu überleben.` Doby anzustarren oder nur den leichtesten Sarkasmus anzudeuten, so Trump, veranlasste den Drill Sergeant, `auf mich loszugehen, dass man gar nicht wusste, wie einem geschieht`. Ob seine Schüler nun die Söhne von Klempnern oder von Millionären waren, das war Dobias egal.“ (Kranish & Fisher 2016, S. 63). „Damals prügelte man einen noch grün und blau. (…) Er vermöbelte uns gnadenlos.“, sagte Donald Trump später mit Blick auf diese Zeit im Internat (D`Antonio 2016, S. 84). Es macht sehr hellhörig, dass gerade dieser brutale Ausbilder und Erzieher später über das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Donald und Fred sagte: „Der Vater behandelte den Jungen wirklich streng. (…) Er war sehr deutsch. (…) er war sehr hart“ (D`Antonio 2016, S. 85).
Donald passte sich allerdings schnell an und entwickelte den Ehrgeiz, der Beste im Internat zu sein. Er fing an, Wettbewerbe und Auszeichnungen zu lieben. Als Oberstufenschüler befahl Donald seinerseits Gewalt gegen einen Kadetten oder ging auch selbst auf einen Schüler los, nachdem dieser ihn provoziert und geschlagen hatte. Er versuchte damals, den entsprechenden Schüler aus dem ersten Stock zu schmeißen, was nur durch die Intervention zweier Kadetten verhindert werden konnte (Kranish & Fisher 2016, S. 66f).

Nicht jeder, der eine solche Kindheit und Jugend erlitten hat, wird zu einer Persönlichkeit wie Donald Trump (aber manche werden in anderen Bereich auffällig, siehe z.B. das Leben seines älteren Bruders Freddy). Aber: Persönlichkeiten wie Donald Trump haben auffällig häufig eine solche oder ähnliche destruktive Kindheit und Jugend erlitten. Und: Hätte Donald Trump eine fürsorgliche, liebevolle und gewaltfreie Kindheit und Jugend erlebt, dann wäre aus ihm niemals ein rechtspopulistischer Hassredner und Menschenfeind geworden, davon bin ich überzeugt. Entschuldigen tut dies alles nichts! Aber es erklärt einiges und zeigt auf, wie sich menschliche Destruktivität von Grund auf verhindern lässt.

Siehe ergänzend unbedingt: "Too Much and Never Enough": Die Kindheit von Donald Trump!!


Siehe bei Interesse ergänzend auch das psychologische Profil von Donald Trump: The Mind of Donald Trump (extern)



Verwendete Quellen:

Blair, Gwenda (2000): The Trumps: Three Generations of Builders and a President. Simon & Schuster, New York. Kindle E-Book Edition.

D'Antonio, M. (2016): Die Wahrheit über Donald Trump. Econ Verlag, Berlin.

Kranish, M. & Fisher, M. (2016): Die Wahrheit über Trump: Die Biografie des 45. Präsidenten. Plassen Verlag, Kulmbach.

Kruse, M. (2017, 21. Nov.): „Was für einen Sohn habe ich erschaffen?“ Welt-Online.

Dienstag, 23. Juli 2019

ACE-Studien in den USA / DIE Grafik

Aktualisiert am 13.09.2019


In meinem Buch habe ich auf Seite 25 ein Diagramm von dem Onlineauftritt der Centers for Disease and Prevention (CDC) eingefügt. Leider ist dieses Diagramm nach der Neugestaltung der entsprechenden Homepage seit ca. März 2019 nicht mehr online. Ich habe das CDC kürzlich angeschrieben und darum gebeten, dieses wichtige Diagramm an anderer Stelle erneut zu veröffentlichen. Leider bekam ich keine positive Antwort. Allerdings wurde sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Veröffentlichungen und Grafiken des CDC Arbeiten des U.S. Governments und für die Öffentlichkeit gedacht sind und somit keinem Copyright unterliegen (allerdings auf die Quelle hingewiesen werden muss).
Ich werde also hiermit diese bedeutende Grafik hier in meinem Blog veröffentlichen. (Außerdem habe ich noch einen Screenshot von der damaligen Homepage (inkl. der Grafik), den ich bei Bedarf gerne rausgebe.)
Der Grafik liegen Daten von groß angelegten Befragungen in den USA zu Grunde. Acht unterschiedliche Belastungsfaktoren in der Kindheit (ACE-Werte) wurden abgefragt: Körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlung, Miterleben von häuslicher Gewalt, Verlust mindestens eines Elternteils, Gefängnisaufenthalt eines Familienmitgliedes, Alkohol- oder Drogensucht eines Familienmitgliedes und psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes. Man fand mehr als 40 verschiedene negative Effekte von belastenden Kindheitserfahrungen. Für diese 40 negativen Effekte wurde das unten zu sehende Diagramm mit der durchschnittlichen Effektstärke erstellt, das für sich spricht. Erfasste negative Gesundheitsprobleme waren u.a. Rauchen, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Hepatitis, sexuell übertragbare Krankheiten, Herzerkrankungen, Diabetes, Alkoholsucht, Drogenkonsum, psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen und Suizidversuche. Außerdem zeigten sich negative Effekte bzgl. des beruflichen Werdegangs und Bildungswegs.


Hinweis: Die Grafik ist hier im Beitrag etwas undeutlich. Wenn man draufklickt, erhält man ein besseres Bild!


Ergänzend möchte ich auf folgende Datenauswertung hinweisen:
Merrick, M.T., Ford, D.C., Ports, K. A., Guinn, A. S. (2018): Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 States. JAMA Pediatrics, 172(11), S. 1038-1044.
ACE-Daten von insgesamt 214.157 befragten Frauen und Männern in den USA konnten ausgewertet werden. Dies ist somit die bisher größte Datensammlung von belastenden Kindheitserfahrungen in den USA überhaupt!!

Siehe ergänzend auch: Diagramme der menschlichen Destruktivität (hier im Blog)

Online gibt es noch eine Quelle, die die o.g. Grafik abgebildet hat:
"Adverse Childhood Experiences and the Effects on Pediatric Health Outcomes"
(von Angela Mattke im Rahmen von The Bright Side 2018 – A Women’s and Children’s Health Symposium, 21.09.2018)


Montag, 22. Juli 2019

Der Beginn der Kinderschutzbewegung um 1900 als Folge der Evolution von Kindheit?


Mir stellte sich die Frage, wie historisch ein Bewusstsein und ein Wille dafür aufkam, dass Kinder vor (elterlicher + schulischer) Gewalt zu schützen sind. Die Antwort auf diese Frage ist komplex. An anderer Stelle werde ich darauf zurückkommen. Zunächst macht es Sinn, sich einmal die Kindheitsbiografien von wichtigen Akteuren, die historisch den Kinderschutz vorantrieben, anzuschauen.

Beginnen wir mit Eglantyne Jebb (1876-1928), der Gründerin von Save The Children. Jebb gilt außerdem als Wegbereiterin der UN-Kinderrechtskonvention. Eglantyne wuchs mit fünf Geschwistern in wohlhabenden Verhältnissen auf und gehörte zur Upper-Class in Großbritannien. Ihr Vater galt als sanfter Intellektueller, „sensitive as a woman“, wie seine älteste Tochter einmal sagte (Mulley  2015. 9). Er wird außerdem als sympathischer Landbesitzer beschrieben; die Ehe der Jebb-Eltern sei sehr liebevoll gewesen (Mulley  2015, S. 10+11). Beide Elternteile waren hingebungsvolle Eltern, die Freude an ihrer Elternschaft hatten (Mulley  2015, S. 11). Eglantynes Vater, Arthur, „was also an affectionate father, reading aloud to the children and listining with delight to their own stories“ (Mulley  2015, S. 14).
Die Kinder scheinen zudem viele Freiheiten beim Spielen bekommen zu haben. Reiten auf Ponys, Bäume, die in den Erinnerungen zu Schlössern wurden, dunkle Wälder, überall wurde gespielt. Die Biografin schreibt zusammenfassend: „The three youngest children were particularly close, enjoying a childhood almost too good to be true" (Mulley  2015, S. 17).
Bezugspersonen waren außer den Eltern auch Kindermädchen und vor allem eine sehr aufgeweckte Tante, die mit in dem Anwesen wohnte. Eglantynes Mutter „was a loving and involved mother, but she was not expected to care for the children alone, and a succession of nurses and gouvernesses filed through The Lyth“ (Mulley  2015, S. 23). Die Mutter war aber auch Vorbild für die Kinder. Einmal traf sie auf einen Jungen, der weinte und vollkommen frustriert über eine 6-Tage-Arbeitswoche war. Daraufhin begann ihr soziales Engagement. Das Glück endete später abrupt, als Arthur starb.  Eglantyne muss zu dieser Zeit ca. 18 Jahre alt gewesen sein.

Die politisch interessierte, diskussionsfreudige und sozial engagierte Atmosphäre bei den Jebbs war sicher prägend. Die Biografin schreibt zum Abschluss des Kapitels über Kindheit und Jugend von Eglantyne Jebb: „It was a legacy that all the children would benefit from, alone with their mothers`s efficient example of practical social work and their aunt`s intelligent questioning of the world around them. Brought up in a house where a human sympathy, if not radical politics, was the dominant perspectice, it is perhaps not suprising that all of the Jebb children later sought their own ways to contribute to enhancing more equitable social relations, but none more effectively than Eglantyne“ (Mulley  2015, S. 27).


Eine weitere bedeutende Frau habe ich für diesen Beitrag ausgewählt: Ellen Key (1849-1926).
Sie gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der Reformpädagogik, sprach sich öffentlich gegen das Schlagen von Kindern aus und wurde weltweit durch ihren im Jahr 1900 veröffentlichten Bestseller „Das Jahrhundert des Kindes“ bekannt.
Die Schwedin Ellen wuchs in wohlhabenden Verhältnissen als ältestes von insgesamt sechs Geschwistern auf. „Die familiäre Atmosphäre soll eine Mischung aus solider Geborgenheit und aufgeklärter Intellektualität gewesen sein. Das Elternhaus war liberal gesinnt; die Keys beschäftigten sich mit den politischen und gesellschaftlichen Zeitabläufen ebenso wie mit der damals aktuellen nationalen und internationalen Literatur“ (Mann 2004, S. 9). Ellen fiel bereits früh durch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl auf. Vor allem ihr Vater war eine wichtige Identifikationsfigur in ihrem Leben. Das Mädchen besuchte nie eine Schule, sondern wurde von verschiedenen Hauslehrerinnen unterrichtet. Die Biografin merkt dazu an: „Außerdem mag der Umstand, dass Ellen Key niemals den egalisierenden Schulzwang am eigenen Leib erleben musste, mit dazu beigetragen haben, aus ihr später eine relativ unabhängige und fortschrittlich denkende Frau werden zu lassen“ (Mann 2004, S. 11).
Über die konkrete Erziehung und den Umgang der Eltern mit den Kindern erfährt man relativ wenig in der verwendeten Quelle. Auffällig fand ich, dass Ellen oft und gerne den Erwachsenen bei Ihren Gesprächen zuhörte und dafür unter den Tisch kroch und so tat, als ob sie spielte. Noch etwas fand ich aufschlussreich: „Die intellektuellen Interessen Ellen Keys führten dazu, dass das Mädchen bezüglich praktischer Tätigkeiten im Haushalt mehr oder minder ungeübt war und blieb. Trotz mancher dadurch auftretender Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter tolerierte man offenbar die Entwicklung der jungen Ellen Key und honorierte schließlich ihr Bedürfnis, still und zurückgezogen lesen zu wollen, mit einem eigenen Zimmer, das dem Mädchen ab dem 12. Lebensjahr zur Verfügung stand. Noch als Erwachsene hat sich Elle Key immer wieder in dieses Zimmer ihres Elternhauses zurückgezogen und es als ihren Schutzraum betrachtet“ (Mann 2004, S. 11).
Bedenken wir an dieser Stelle noch einmal, dass Ellen im Jahr 1849 geboren wurde. Damals gehörte auch in Schweden die autoritäre Erziehung zur Routine. Ellen durfte aber unterm Tisch spielen, während die Erwachsenen sich unterhielten. Man unterwarf sie offensichtlich auch nicht und zwang sie, gegen ihren Willen, zur Hausarbeit. Sie durfte ungehorsam sein. Mehr noch, man ging auf sie und ihre besonderen Bedürfnisse ein und akzeptierte ihren Hang zum intensiven Lesen. Dies gibt uns einen deutlichen Einblick in die Familie und ihre Werte. Offensichtlich wurde in dieser Familie auf Kinder eingegangen und es scheint keine übermäßige Strenge geherrscht zu haben.
Bedeutsam ist darüber hinaus sicher auch noch ein tragischer Unfall. Zwei von Ellens Cousinen ertranken beim Baden. Die damals 17-Jährige Ellen war die einzige Überlebende bei diesem Unglück (Mann 2004, S. 12). Jeglicher religiöse Glaube war nach diesem Ereignis endgültig bei ihr - die schon früh an einem Christen-Gott gezweifelt hatte - abgetan. Wie sie dies Ereignis verarbeitete und ob und wie sie aufgefangen wurde, erschließt sich in der Quelle nicht.


Die Kindheit eines weiteren, wichtigen Akteures muss besprochen werden: Henry Bergh (1813-1888). Bergh war Gründungsmitglied und Vizepräsident der New York Society for the Prevention of Cruelty to Children (NYSPCC), der ersten Kinderschutzorganisation der Welt. Einige Jahre zuvor hatte Bergh, der auch eine Zeit lang Diplomat war, die erste Tierschutzorganisation in den USA gegründet. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er auf den Fall Marry Ellen aufmerksam. Marry Ellen wurde damals schwer von ihrer Stiefmutter misshandelt und vernachlässigt. Die Polizei und auch die Behörden hatten jede Unterstützung von Mary Ellen abgelehnt, weil es keine gesetzliche Handhabe gab. Hilfe kam erst durch Tierschützer Henry Bergh, der in der Folge die Gründung der NYSPCC vorantrieb. „I regard a helpless child in the same light as a dumb animal. Both are God´s creatures. Neighter can protect themselves. My duty is imperative to aid them“, sagte Bergh einst (Furstinger 2016, S. 126). Was war das für ein Mensch, der Mitleid mit geschunden Tieren und Kindern hatte und sich engagierte? Und vor allem: Wie sah seine eigene Kindheit aus?

Auch Henry Bergh wurde – wie Jebb und Key - in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater, Christian, war ein erfolgreicher und bekannter Schiffsbauer in New York. Er hatte den Ruf, der „ehrlichste Mann“ der Stadt zu sein (Furstinger 2016, S. 6; Übersetzung: Sven Fuchs.). U.a. beschäftigte er ehemalige Sklaven und bezahlte ihnen den gleichen Lohn wie den Weißen. Henrys Mutter hatte offensichtlich ebenfalls eine hohe Moral. Beispielsweise fand Henry in seiner Kindheit einst ein Geldstück auf der Straße. Seine Mutter ermahnte ihn, das Geld zurückzulegen, für den Fall, dass der Besitzer zurückkommen würde. „From his Mother, he would learn kindness and honesty“ (Furstinger 2016, S. 7). Die Schiffswerft wurde für Henry und seine Geschwister, so die Biografin, zum großen Spielplatz. Was für ein Abendteuer! Über den konkreten Erziehungsstil der Eltern erfährt man in der verwendeten Quelle nichts. Allerdings lässt sich – wie oben gezeigt - wohl deutlich ableiten, dass seine Eltern sehr menschenfreundlich waren. Zu diesem Bild passt, wie Henry Bergh später als Erwachsener agierte.


Fazit

Alle drei untersuchten Akteure kamen aus wohlhabenden Verhältnissen. Das halte ich für keinen Zufall. Erstens brauchte es für ihre später wohltätige Arbeit entsprechende Ressourcen (und sicher auch Bildung). Zweitens: Im 19. Jahrhundert war das Leben für viele Kinder schwer und leidvoll. Wenn sie denn überhaupt überlebten, denn die Kindersterblichkeit war damals auch noch in den USA, Großbritannien und in Schweden sehr hoch. Der Wohlstand hatte bei allen drei Akteuren ganz sicher auch protektive Effekte. Auffällig ist auch, dass neben einer wohlwollenden und als Vorbild fungierenden Mutter, auch ein wohlwollender und als Vorbild fungierender Vater stand. Das war im 19. Jahrhundert sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Gerade Väter waren in dieser Zeit oftmals autoritäre und traditionelle, patriarchale Männer.
Ich glaube nicht, dass mit Blick auf unsere heutige Zeit die These aufgestellt werden kann, dass Menschen, die sich für Tierschutz und Kinderschutz stark engagieren, meist eine behütete Kindheit und nette Eltern hatten. Ganz im Gegenteil ist meine persönliche Erfahrung die, dass in Kinderschutzvereinen und ähnlichen Institutionen Menschen mit einer belasteten Kindheit gar nicht so selten sind.
Mir geht es hier aber auch nicht um das Heute, sondern um Anfänge eines organisierten Kinderschutzes um die Jahrhundertwende. Damals wurde die Mehrheit aller Kinder geschlagen und gedemütigt. Und: Kaum jemand störte sich daran. Um aus diesem verdrehten und destruktivem Mehrheitsdenken und Handeln herauszutreten und eine andere Richtung einzuschlagen, brauchte es mehr. Nämlich eine eigens erlebte, positivere Kindheit und – in der Folge - einen Zugang zu eigenen Emotionen und die Fähigkeit zu Mitgefühl. Die aufkommende Kinderschutzbewegung wäre demnach auch ein Produkt der Evolution von Kindheit, in diesem Fall in den Familien Jebb, Key und Bergh.



Verwendete Quellen:

Furstinger, N. (2016): Mercy: The Incredible Story of Henry Bergh, Founder of the ASPCA and Friend to Animals. Houghton Mifflin Harcourt, Boston / New York.

Mann, K. (2004): Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus. Primus Verlag, Darmstadt.

Mulley, C. (2015): The Woman Who Saved the Children: A Biography Of Eglantyne Jebb: Founder Of Save The Children. Oneworld, London.

Freitag, 5. Juli 2019

Züchtigungsverbot in Frankreich: Rechte Politiker sind für Körperstrafen gegen Kinder


Der französische Senat stimmte jetzt nach der Nationalversammlung einem entsprechenden Gesetz zu, dass jegliche Körperstrafen gegen Kinder in der Familie untersagt. Ich hatte bereits Ende 2018 in dem Beitrag Wie peinlich! Frankreich verbietet elterliche Gewalt gegen Kinder! über diese Entwicklung berichtet.

"Zuletzt hatten nur noch die Abgeordneten um Marine Le Pen das Recht der Eltern verteidigt, ihre Kinder mit einem Klaps auf den Po („la fessée“) oder einer Ohrfeige zu maßregeln. Die Abgeordnete Emmanuelle Ménard von Le Pens Partei RN beschwerte sich, der Staat mische sich in familiäre Angelegenheiten ein." (FAZ, 04.07.2019, "Frankreich schafft Züchtigungsrecht von Eltern ab")

Es ist sicher kein Zufall, dass rechte Politiker auffällig häufig für das Schlagen von Kindern sind (siehe dazu auch Rechte Politiker, rechte Wähler und Kindheit). Rechtsextreme Einstellungen, wie auch rechtsextreme Gewalttaten stehen nachweisbar in einem starken Zusammenhang zu eigens erlittener Gewalt und/oder autoritären Erziehungsmaßnahmen, sowie fehlender elterlicher Zuwendung. Dass sich diese Erkenntnisse wohl auch auf rechte Politiker übertragen lassen, zeigen die o.g. Entwicklungen.
Wer sich als Erwachsener nicht von diesem elterlichen "Gewaltsystem" innerlich und emotional befreien konnte und mit dem Aggressor identifiziert bleibt, ist mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit auch für das Schlagen von Kindern. Mich wundert es entsprechend überhaupt nicht, dass die RN-Abgeordneten so agierten wie gezeigt.


In Deutschland wurden im Jahr 2000 durch das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung jegliche Körperstrafen gegen Kinder in der Familie verboten. Damals gegen den Willen von CDU/CSU! Dass die Konservativen dagegen stimmten, ist sicher auch kein Zufall.

Wäre es nach den GRÜNEN gegangen, wäre jegliche körperliche Gewalt gegen Kinder schon Anfang der 1990er Jahre verboten worden. Siehe dazu: Gesetzentwurf der Abgeordneten Frau Schoppe und der Fraktion DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Prävention von Gewalt gegen Kinder (Drucksache 11/7135, 15.05.1990)

und

Gesetzentwurf des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Entwurf eines Gesetzes zur gewaltfreien Erziehung von Kindern (Züchtigungsverbotsgesetz) (Drucksache 12/5359, 30. 06. 1993)


Manche Gegenargumente von CDU/CSU sind auch heute noch erschreckend aufschlussreich. Zwei Beispiele:

Gesetz zur Änderung des § 1631 BGB (Mißhandlungsverbotsgesetz) (G-SIG: 12020619, Bundesratsitzung 15.10.1993.
Bayerischer Staatssekretär Johann Böhm (CSU): Bilden wir Beispiele! Soll es wirklich kriminelles Unrecht sein, wenn eine Mutter ihrem Kind in einer zugespitzten Konfliktsituation eine Ohrfeige gibt? Wie ist es mit dem vielzitierten Klaps, der schon wehtut? Darf der Staat solche Maßnahmen wirklich als Missbrauch des Erziehungsrechtes definieren und – mehr noch – mit dem Verdikt der Strafbarkeit versehen? Ich meine entschieden: nein! Der Entwurf überschreitet hier die Grenze des Vertretbaren.“ (Seite 455)

oder

Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 BGB (Mißhandlungsverbotsgesetz) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
„Aber, wir dürfen dabei auch nicht über das Ziel hinausschießen. Sicherlich geht es nicht in allen Familien vorbildlich und gesittet zu. Andererseits ist auch nicht jede Familie oder die Familie schlechthin eine gewalttätige Institution, aus der man das Kind befreien muß. Ja, wenn Sie die einschlägige Literatur aus einschlägigen Kreisen über den Gewaltbegriff und über die strukturelle Gewalt, die ja schon in den 70er Jahren angesprochen worden ist und an die ich mich noch sehr gut erinnern kann, studieren, dann stellen Sie selbstverständlich fest, daß da die Familie als verlängertes Herrschaftsinstrument eines repressiven Staates etc. und als ähnlicher Quatsch bezeichnet worden ist. Deshalb lehnen wir ganz klar Forderungen nach einem Verbot jeglicher Strafen ab. (…) Wir sind dagegen, jegliche Strafe zu verbieten. Dann wäre ja auch das Fernsehverbot beispielsweise eine Strafe, die verboten werden müßte. Meine Damen und Herren, auch ich bin Vater von zwei Kindern. Deswegen weiß ich, daß man mit Lob, mit Vorbild besser erzieht als mit Bestrafung. Aber aus meiner Erfahrung weiß ich auch, daß man bei einer Erziehung nicht ohne jegliche Sanktionen auskommen kann, wenn man seinen Erziehungsauftrag ernst nimmt. Den SPD-Entwurf, der ein völliges Verbot von Gewalt als Erziehungsmittel vorsieht — die anderen Entwürfe stehen ihm da nicht nach —, lehnen wir aus dem Grund ab, den ich schon vorher erwähnt habe: weil wir zum einen die Ausuferung des Gewaltbegriffes in den 70er Jahren erlebt haben und mittlerweile auch in der Rechtsprechung einen sehr weit gefaßten Gewaltbegriff vorfinden. (…) Bislang war die körperliche Mißhandlung im familiären Bereich durch das in der Rechtsprechung weitgehend anerkannte elterliche Züchtigungsrecht ausnahmsweise gerechtfertigt. Dieser Rechtfertigungsgrund soll nun abgeschafft werden. Meine Damen und Herren, damit ist aber jede körperliche Einwirkung, die von § 223 StGB erfaßt wird, rechtswidrig, also in letzter Konsequenz auch die leichte Ohrfeige oder der so oft zitierte Klaps. Ich habe meine Zweifel, ob ein solches Verhalten in jedem Falle einen Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts darstellt, der ein generelles Verbot rechtfertigen würde. Außerdem fehlt wohl bei der großen Mehrheit der Bevölkerung jedes Verständnis dafür. Wir schaffen damit eine Kriminalisierung elterlichen Erziehungsverhaltens.“ (Position: 19025 + 19026)




Donnerstag, 4. Juli 2019

Schweizer Studie über biografische Hintergründe von Rechtsextremisten


Insgesamt 26 Schweizer Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer, Altersdurchschnitt = 19 Jahre), die eine politisch rechtsextreme Einstellung haben und zu gewalttätigen Handlungen neigen, wurden zum Klima innerhalb der Familie, zum Umgang mit Konflikten, Erziehungsstil und der Qualität der innerfamiliären Beziehungen befragt. Die Studie wurde im Jahr 2007 abgeschlossen:  Fachstelle für Rassismusbekämpfung (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Bern. 

Zusammenfassend schreiben die Autoren:
Die Jugendlichen und ihre Familien sind keine «Modernisierungsverlierer». Sie sind weder Opfer von ökonomischem noch von gesellschaftlichem Wandel. In den 26 untersuchten Beispielen lässt sich ein grosses Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und -welten nachweisen. Die Jugendlichen und ihre Familien gelten als gut integriert. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Elternkonflikten eine wichtige Rolle. Überrascht hat die Forschenden die hohe Anzahl Jugendlicher, die in Jugendhilfemassnahmen leben.
Für die Entwicklung von rassistischen Einstellungen und Handlungsanlagen bei Jugendlichen spielen die Familien, das soziale Umfeld sowie ihre Kultur und Geschichte eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Kontakt zu rechten Szenen auf Zufälligkeiten und Gelegenheitsstrukturen beruht, ist die für die Jugendlichen damit verbundene Bedeutung keinesfalls zufällig, sondern biografisch bedingt.“ (S. 6)

Leider wurden in der Studie keine Zahlen vorgestellt (Anteil von Jugendlichen, die Gewalt erlebt haben, Anteil von Jugendlichen, die Jugendhilfemaßnahmen erlebt haben usw.) Trotzdem sind die Auswertungen ziemlich deutlich. Verschiedene Belastungen während der Kindheit und Jugend bestimmen durchgehend das Bild.

Drei unterschiedliche familiäre Muster und biografische Verlaufsformen wurden ausgemacht, die rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten begünstigen, die ich nachfolgend vorstelle.

– Abgrenzung durch Überanpassung – Radikalisierung der Werte und Normen des Herkunftsmilieus

Diese biografische Verlaufsform zeichnet sich dadurch aus, dass politisch rechte Einstellungen und Handlungsfelder bereits bei den Eltern beziehungsweise bei nahen Bezugspersonen (Grosseltern, vor allem Grossväter) des Jugendlichen/ jungen Erwachsenen vorhanden sind. Angst vor Überfremdung, nationale Grenzziehung, Zuschreibungen kultureller Eigenheiten und Abwertungen sind politisch diskutierte Themen innerhalb der Familie. Die junge Generation nimmt diese Argumentation auf und geht einen Schritt weiter.“ (S. 8+9)
Gewalterfahrungen und/oder autoritäre Erziehung wird bei dieser Verlaufsform nur angedeutet bzw. nicht durchgängig nachgewiesen: „Kritik an den Eltern, den Erziehungsformen und der familiären Lebensweise wird in den Interviews nicht oder kaum thematisiert. Vielmehr werden strenge und autoritäre Erziehungsstile positiv bewertet, zum Teil wird eine zu liberale Erziehung der Eltern kritisiert.“ (S. 11) Allerdings wird die Familie in den Erzählungen der Jugendlichen in vielen Fällen ausgeschlossen oder kurz idealisiert. Auffällig war den Autoren zu Folge auch, dass diese Jugendlichen Kontakt der Forschenden zu den Eltern lediglich in einem Fall gewährten. "Die Perspektive der Eltern hätte möglicherweise ihr idealisiertes Bild an einzelnen Stellen brüchiger
gemacht." (S. 11)

– Gewalt, Missachtung und Suche nach Anerkennung

Den Jugendlichen dieser zweiten Verlaufsform gemeinsam ist die Erfahrung von unkontrollierter Gewalt innerhalb der Familie. Die gewalttätigen und für die Jugendlichen oft nicht voraussehbaren Reaktionen auf ihre Person, vor allem durch den Vater, kennzeichnen die gegenseitigen Beziehungen dieses familiären Musters. Die Erfahrung des «Nicht-Eingreifens» der Mutter und des sozialen Umfeldes verstärken die Ohnmachtserfahrungen des betroffenen Jugendlichen. (…) Macht, Selbstbemächtigung und die Suche nach Anerkennung bilden in dieser Verlaufsform zentrale Momente der Zugehörigkeit zur rechten Gruppe. (…) In den gewalttätigen Auseinandersetzungen wird die am eigenen Leib erfahrene unkontrollierte Gewalt umgedreht: nun schlägt der Jugendliche unkontrolliert zu, obwohl der Ablauf im Gruppenkontext standardisiert und damit für die Gewalttäter nach vorhersehbaren Mustern erfolgt. Die eigene Gewaltausübung wird von den Jugendlichen selbst als unkontrollierbar beschrieben, zum Teil in Analogie zur eigenen Opfererfahrung. (…) Weil die Jugendlichen während ihres Aufwachsens nie gelernt haben, sich in die Situation von anderen Personen zu versetzen, fehlt ihnen das Mitgefühl für die Opfer.“ (S. 17-19)

– Nicht-Wahrnehmung und Suche nach Erfahrung, Sicherheit und Differenz.

Die familiäre Situation dieser Jugendlichen ist gekennzeichnet durch mangelnde emotionale Wärme und Anerkennung. Kennzeichnend ist entweder ein hohes Maß an Gefühlskontrolle oder die völlige Abwesenheit von Gefühlen. Diese Jugendlichen erlebten keine körperliche Gewalt oder aggressive Missachtung, schreiben die Autoren. Trotzdem hängen sie an, dass die familiären Muster von autoritär bis wechselseitiger Nicht-Wahrnehmung, über räumliche und zeitliche Trennungen bis hin zu Idealisierungen des Heranwachsenden reichen.
Diese Verlaufsform wird einleitend mit einem Fallbeispiel begonnen. Der entsprechende Jugendliche wurde ab dem 5. Lebensmonat von seiner Mutter zur Adoption freigegeben. Zu seinen leiblichen Eltern hat er keinen Kontakt. Was in diesen ersten fünf Monaten passierte, wird nicht geschildert oder ist nicht überliefert. Es wird angedeutet, dass es von außen (Behörden, Pädagogen) Kritik an der Erziehung der Pflegeeltern gab. Der Jugendliche idealisierte dagegen seine Pflegeeltern. Mit 15 Jahren fing er an, harte Drogen zu konsumieren. Mit 19 schloss er sich einer Skingruppe an. Besonders brisant: Die erste Frau des Pflegevaters (es scheint also später eine Trennung gegeben zu haben) war Jüdin, alle ihre Familienmitglieder, außer ihr Bruder, waren in Konzentrationslagern umgekommen. Ausgerechnet dieses Pflegekind wurde zum Rechtsextremisten.
An diesem Fallbeispiel sieht man sehr deutlich, welch enorme Belastungen auch hinter den Biografien stecken, wo z.B. keine körperliche Kindesmisshandlung stattfand (oder nachgewiesen wurde).

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Diese Studie reiht sich bzgl. der Ergebnisse ein in eine ganze Reihe von Studien über Extremisten, die ganz ähnliche Ergebnisse erbracht haben. Einige dieser Studien habe ich hier im Blog bereits besprochen, andere bisher nur in meinem Buch erwähnt. Ich hänge diesem Beitrag noch mal die wesentlichen Quellen an. Extremismus fällt nicht vom Himmel. Es gibt immer biografische Muster, die stets in die gleiche Richtung zeigen: Destruktive Kindheitserfahrungen.


Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.

Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.

Jäger, H. & Böllinger, L. (1981): Studien zur Sozialisation von Terroristen. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 117-231.

Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.

Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln.

Salloum, R. (2014, 01. Dez.): Interviewreihe mit Dschihadisten. Besuch im Terroristenknast. SPIEGEL-Online.

Schmidtchen, G. (1981): Terroristische Karrieren. Soziologische Analyse anhand von Fahndungsunterlagen und Prozessakten. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 13-78.

Simi, P., Sporer, K. & Bubolz, B. F. (2016): Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach. In: Journal of Research in Crime and Delinquency. Vol 53, Issue 4. S. 536-563.

Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.

Wiezorek, C. (2002): Fallbeispiele zur biografischen Genese von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden.

Dienstag, 2. Juli 2019

Filmkritik "Elternschule"


Morgen, am Mittwoch den 03.07.2019, wird der umstrittene Film „Elternschule“ erstmals im Fernsehen in der ARD ausgestrahlt. Ich habe den ganzen Film bereits kürzlich gesehen. Vorher hatte ich mir fest vorgenommen, trotz einiger Artikel (u.a. diesen hier in der ZEIT), die ich über den Film gelesen hatte, möglichst unvoreingenommen an den Film heranzugehen (Mir ist z.B. bewusst, dass hoch traumatisierte Kinder anders ticken und – je nach Einzelfall-  deutlichere Grenzen brauchen, als unbelastete Kinder. Ich rechnete also damit, dass dies evtl. ein Grund für den strikteren Umgang in der Klinik sein könnte.). Im Vorfeld entzündete sich z.B. die Kritik an dem Film heftig alleine schon auf Grund des kurzen Trailers. Kritik kann man aber nur äußern, wenn man das Werk, um das es geht, komplett gesehen hat. Außerdem las ich, bevor ich mir den Film angesehen habe, einen Artikel in der Süddeutschen, der auch etwas die Perspektive der Filmemacher und den enormen Shitstorm, den sie erlebt haben, beschreibt.

Mein Gesamtfazit zum Film lautet wie folgt: Der Film ist eine einzige Werbung dafür, dieser gezeigten Abteilung der Klinik niemals Kinder anzuvertrauen!

Ich könnte jetzt den Film Stück für Stück ausführlich besprechen, aber diese Arbeit kann ich mir sparen, denn der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat den Film und die Arbeit der Klinik am 28.06.2019 bereits ausführlich und fachmännisch kommentiert: Elternschule“ jetzt im Fernsehen. Roter Teppich für eine umstrittene Therapie?

Warum ich mich zu diesem Film äußere, ist meine Sorge darum, dass der Film von verunsicherten Eltern oder allgemein von für Kinder Zuständigen und Betreuungspersonen, die vielleicht manches Mal eh in ihrem Herzen für eine autoritäre Erziehung sind, dazu genutzt wird, den Umgang mit Kindern entsprechend anzupassen oder zu rechtfertigen.

Ein wenig werde ich zum Film also noch anmerken. Hervorgehoben wird regelmäßig, dass die Filmemacher den Film nicht kommentieren, sondern einfach zeigen, was ist. Sie also quasi "neutral" wären. Das stimmt so aber nicht! Der Titel des Films – „Elternschule“ – suggeriert bereits, dass es um eine generelle Anleitung für Erziehung geht. Dabei ist die Situation vor Ort die, dass dort Kinder mit massiven Problemen und Verhaltensstörungen behandelt werden. Viele der dort gezeigten Eltern wirken zudem nach meinem Eindruck stark in ihrer Grundpersönlichkeit verunsichert, teils fallen auch sehr destruktive Eltern auf, z.B. eine Mutter, die gleich im Erstgespräch dem Leiter trotzig erklärt, dass sie ihr Kind in ein Kinderheim geben wird, wenn sich kein Erfolg durch die Behandlung einstellt. Der Film ist zudem in Schwerpunkte aufgeteilt. Nach den gezeigten Szenen wird immer wieder „entspannte, friedliche“ Musik eingespielt, teils mit unterlegten Szenen in Zeitlupe von spielenden Kindern in der Klinik oder Eltern, die ihre Kinder streicheln. Diese Zwischenszenen mildern unterbewusst das ab, was man zuvor gesehen hat. Sie suggerieren: „Alles ist gut, den Kindern geht es gut.“ Am Ende des Films wird eine Luftsicht auf ein Labyrinth gezeigt. Eine Familie geht durch das Labyrinth und kommt ans Ziel. Der Film endet dann. Auch hier wird deutlich suggeriert, dass die Methoden der Klinik zum Erfolg führen. Von Neutralität der Filmemacher kann also keine Rede sein.

Durch den o.g. Kommentar von Renz-Polster habe ich einige Hintergrundinfos erhalten, die bei der unkommentierten Variante der „Elternschule“ natürlich fehlen, aber von großer Bedeutung sind. So war mir beim Sehen des Films z.B. nicht klar, dass die gezeigten ärztlichen Untersuchungen der Kinder täglich stattfinden, auch ohne medizinischen Grund.  Laut Renz-Polster (siehe oben verlinken Text) sind dies gezielte Maßnahmen zur Stressauslösung. „Man muss sich das einmal vorstellen: Da werden Säuglinge und Kleinkinder von einem Arzt körperlich untersucht und vom Personal dazu auf der Untersuchungsliege festgehalten – und das nicht etwa, weil der Arzt wissen will, ob die Kinder krank sind. Sondern um sie unter Stress zu setzen. Denn so würden sie sich an den Stress allmählich gewöhnen. Die von Kindern so gehasste Halsuntersuchung etwa findet dann nicht statt um zu sehen, ob die Mandeln geschwollen oder der Hals entzündet ist – sondern als „Therapie“. Als Arzt bin ich darüber so schockiert, dass ich eigentlich nicht weiter begründen muss, warum ich zum Thema „Elternschule“ immer wieder Stellung bezogen habe.“

Besonders krass fand ich im Film eine Szene, in der eine „Kinderschwester“ ein Kleinkind lieblos und steril auf ihrem Schoß festhält und immer wieder eine Milchflasche in den Mund des Kindes einführt. Das Kind wehrt sich dabei, jammert und versucht den Kopf wegzudrehen. Für das Kind könnte dies, so mein Eindruck, evtl. eine Erstickungsbedrohung bedeutet haben. Denn schließlich wurde ihm offensichtlich eine Flüssigkeit in den Mund gestopft oder dies versucht. Ca. 5 Minuten ging dieser Kampf, berichtete die Schwester später im Kollegium. Krass fand ich auch, wie einem Kleinkind, dass bereits durch die Trennung zur Mutter verunsichert war, einfach der Schnuller aus dem Mund gezogen wurde, Tür zu und weg. Das Kind fing natürlich massiv an zu weinen. Oder ein Kleinkind, das vorher wohl nicht alleine geschlafen hatte. Es wurde einfach in ein Gitterbett gesetzt, alleine in einem sterilen Krankenzimmer, Licht aus, Tür zu und weg. Oder der psychologische Leiter, der als letztlich fremder, großer Mann alleine mit einem Mädchen zum joggen in den Park geht. Trotz Weinen und Widerstand fordert er immer wieder, dass das Joggen fortgesetzt wird, zerrt einmal sogar an den Armen des Mädchens. Oder die bewusst ausdruckslose Mimik und Gesichter der Betreuunungspersonen, was wohl zum Konzept gehöhrt. Oder oder oder….

Letztlich ist extrem auffällig, dass im Film gänzlich die wohlwollenden Worte und Gesten gegenüber den Kindern fehlen (außer, wenn sie endlich so sind und sich so verhalten, wie es gewollt ist). Oder um erneut Renz-Polster zu zitieren: „Und deshalb will ich zum Schluss das benennen, was mich an dem Film am meisten stört: Nämlich, dass darin die gütigen Worte fehlen. Dass es immer nur um Stärke geht, um Überlegenheit und „Führung“ der Kinder („Das Kind muss Führung körperlich spüren“, so heißt es in dem Film).“ Besser kann man es nicht zusammenfassen!

Montag, 1. Juli 2019

Gewalt gegen Kinder und bewaffneter Konflikt in Kolumbien


Seit ca. Mitte der 1960er Jahre gab es ca. 50 Jahre lang bewaffnete Konflikte in Kolumbien. Erst vor wenigen Jahren fanden schließlich Friedensverhandlungen statt und ein Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla wurde geschlossen.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie suchte u.a. nach Zusammenhängen zwischen dem bewaffneten Konflikt und Körperstrafen gegen Kinder: Cuartas, J.,  Grogan-Kaylor, A.,  Ma, J.,  & Castillo, B.: (2019): Cevil conflict, domestic violence, and poverty as predictors of corporal punishment in Colombia. In: Child Abuse & Neglect, 90, S. 108-119.

Die Frage war also, ob die Erfahrung von bewaffneten Konflikten die Raten von Gewalt gegen Kinder erhöht. Der Ansatz ist nicht uninteressant.  Wobei die Ergebnisse nicht wirklich überzeugen (Körperstrafen gegen Kinder mit Gegenständen sind in Regionen, die vom bewaffneten Konflikt betroffen waren, nur mäßig erhöht, während andere Körperstrafen – „spanking“ - in diesen Regionen sogar etwas weniger vorzufinden sind, als in Regionen, die von dem Konflikt nicht betroffen waren). Denn der größte Risikofaktor für das Schlagen der eigenen Kinder war der Studie nach selbst erlittene Gewalt in der Kindheit der Mütter und nicht etwa die Erfahrung bewaffneter Konflikte (ebd., S. 115).
Im Text selbst haben die Autoren ergänzend vier Studien zitiert, die einen bedeutenden Einfluss von eigens erlittener Gewalt in der Kindheit auf das spätere Gewaltverhalten gegen eigene Kinder herausgestellt haben (ebd. S.110). Die Autoren zitieren ferner, um ihre Hypothese zu erklären, eine Studie von Human Rights Watch, die herausstellte, dass in von der FARC- Guerilla besetzen Gebieten in Kolumbien seitens der Rebellen widerspenstiges Verhalten von zwangsrekrutierten Kindern, aber auch von Kindern, die im Einflussgebiet der FARC lebten, hart bestraft wurde (durch Körperstrafen, Folter und manchmal durch Exekutionen) (ebd. S. 110). Die eigentlich naheliegende Frage, wie denn die Kindheit dieser Rebellen ausgesehen hat und in wie weit sie Körperstrafen als Kinder erlitten haben, wurde in der hier von mir besprochenen Studie nicht gestellt.

Grundsätzlich halte ich die Frage für absolut berechtigt, in wie weit Kriegserfahrungen Einfluss auf das Erziehungsverhalten haben. Trotzdem halte ich es für viel wesentlicher zu fragen, in wie weit destruktive Kindheitserfahrungen Kriege und bewaffnete Konflikte mitverursacht haben?
Hier bietet die Studie einige aussagekräftige Zahlen. Insgesamt wurden Daten für 11.759 Kinder, die jünger als fünf Jahre alt sind, besprochen. Im Schnitt wurden 24 % dieser Kinder mit Gegenständen (wie z.B. Stöcke, Besenstiele oder Gürtel) geschlagen und 20 % erlebten leichtere Formen von Gewalt („spanking“) (ebd., S. 111). Diese Zahlen gelten für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen vor der Befragung (die Raten für die gesamte Kindheit dürften entsprechend höher sein)! Die erfassten Kinder waren im Schnitt ca. 2 ½ Jahre alt, die Mütter im Schnitt ca. 27.

Das ist ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen eine Altersgruppe, die besonders sensibel ist und sich noch in einer entscheidenden Entwicklungsphase befindet. In der Studie wurde aber noch mehr erfasst, nämlich eigens erlittene Gewalt der befragten Mütter in deren Kindheit. Im Schnitt wurden 51 % der Mütter als Kind mit Gegenständen geschlagen und 9 % erlebten „spanking“ (ebd., S. 111). Es ist nicht deutlich ersichtlich, ob diese selbst erlittene Gewalt auch nur für die Phase der frühen Kindheit gilt oder für die gesamte Kindheit. Ich vermute so oder so, dass es in der Tat eine Abnahme der Gewalt gegen Kinder in Kolumbien gab (was dem allgemeinen Trend des Gewaltrückgangs entsprechen würde). Wenn dieser Trend sich weiter ausweiten sollte, werden sich in Kolumbien auch politische Spannungen nachhaltig entschärfen.

Was diese Studie auf jeden Fall (mal wieder) gezeigt hat ist, dass in Ländern mit hohem Konfliktpotential stets auch hohe Raten von Kindesmisshandlung zu finden sind. Diese Kindheitserfahrungen bilden das Fundament, auf dem politische Krisen und politische Gewalt aufgebaut werden können.