Dienstag, 30. November 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis und Terroristen Odfried Hepp

Der ehemaliger Neonazi und Terrorist Odfried Hepp hatte eine deutlich belastete Kindheit. 

Meine Quelle: Winterberg, Y. (2004): Der Rebell: Odfried Hepp: Neonazi, Terrorist, Aussteiger. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach.

Der Vater von Odfried gehörte einem deutsch-völkischen Gesinnungsbund an. Später baute er ein Haus für die große Familie, inkl. „Germanenkeller“, in dem auf Holzbänken und Fellen Heldensagen und Geschichten vom Krieg erzählt werden. Um Deutschland tobe schon immer ein Kampf um die Kultur, lässt der Vater seine Kinder wissen. Als die rechtsextreme NPD 1968 in Baden-Württemberg 9,8% der Stimmen erhielt, sah der Vater dies mit Genugtuung. Später überlegte der Vater nach Südafrika auszuwandern, weil dort "deutsche Tatkraft" und "weiße Hautfarbe" noch etwas zählten. Zum 14. Geburtstag erhält Odfried vom Vater das Buch “Vater aller Dinge“ vom Zentralverlag der NSDAP aus dem Jahr 1943 (S. 18, 20, 24, 32, 38). Ganz eindeutig war dieser Haushalt politisch rechtsextrem und konservativ orientiert! 

Die Familie funktioniert nach dem Schema eines UFA-Familienfilms aus den Vierzigerjahren. Der Vater ist eine Respektsperson, der Wohlverhalten belohnt und Unartigkeiten tadelt, nicht immer sanft, aber immer gerecht“ (S. 19) Es ist erstaunlich, dass der Biograf hier Strafen des Vaters mit „immer gerecht“ einordnet. Wie kommt er zu so einem Wortlaut, einer solchen Einschätzung? Ist es nicht der Wortlaut der alten Generationen, der Wortlaut vom immer recht habenden und gerechten Vater, selbst wenn dieser straft?  Solche Kommentierungen sehe ich grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. 

Gelegentliche „Donnerwetter“ des Vaters hätten sich meist an den älteren Geschwistern entladen, nicht gegenüber Odfried, dem Liebling des Vaters. Die Mutter wird als sanft beschrieben, Bestrafungen lagen ihr nicht, schreibt der Biograf. Zuhause war sie meist auf sich allein gestellt, der Vater arbeitete an seinem beruflichen Aufstieg. Insgesamt fällt auf, dass das Bild der Mutter sehr schemenhaft bleibt: über sie wird fast nichts berichtet. Im Zentrum steht der Vater, der die gesamte Familie dominierte. 

Wegen der großen familiären Belastungen muss Odfried "ab und zu", wie sich der Vater erinnert, „eingesperrt“ werden, zunächst in ein Gitterbettchen, dann in einen Laufstall. Der Vater wörtlich:
Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er an den Stäben rüttelt und gegen sie tritt. Sagen konnte er es noch nicht, aber gedacht hat er sicher: Lasst mich hier raus!“ (S. 19). Ein einziges Mal habe er Odfried den Hintern versohlt, hängt der Vater dem an. „Odfried wird weder bestraft noch gedemütigt“, schreibt der Biograf zwei Seiten weiter (S. 21).
An dieser Stelle erschließt sich vielleicht auch der oben zitierte Wortlaut vom „immer gerechten Vater“. Der Biograf scheint viele Informationen über Kindheit und Erziehungsstil direkt vom Vater bekommen zu haben. Dies ist eine legitime und wichtige Quelle. Allerdings sollte man die Quelle auch kritisch hinterfragen, wenn es um mögliches Täterverhalten und Strafen geht. Denn schließlich spricht man direkt mit Demjenigen, dem die möglichen Taten auch anlastbar wären (gerade auch vor dem Hintergrund des späteren Lebenslaufs seines Sohnes).  

Fünf Kinder hat die Familie insgesamt. Diese begehrten allerdings Stück für Stück gegen den Vater auf. „Karl-Lutz hat mit 15 beschlossen, den Vater abzulehnen. Damals hat der ihm beizubringen versucht: `Du musst in bestimmten Situationen bereit sein, einen Menschen zu töten.` Für Karl-Lutz dagegen ist jeder Soldat ein Mörder. Wenig später überrascht Karl-Lutz seine Schwester mit der Erkenntnis: `Vater sagt uns nicht die Wahrheit über das Dritte Reich`“ (S. 25). 

Es war Ende der 1960er Jahre zu dieser Zeit. Die Kinder wurden offensichtlich von der Revolte der jungen Generation erfasst. Mit 17 riss der älteste Sohn Karl-Lutz von Zuhause aus und reiste nach Paris. Zurück in Deutschland wurde er vom Vater mit heftigen Ohrfeigen begrüßt, "entgegen seiner Gewohnheit", wie der Biograf betont (S. 27). Wir haben hier also den bereits zweiten Beleg für Gewaltverhalten des Vaters, wieder etwas abgemildert durch die Kommentierung des Biografen. Da wie gesagt der Vater eine wesentliche Quelle für Informationen war, rate ich erneut zur Vorsicht und würde weitere Übergriffe zumindest nicht ausschließen. 

Karl-Lutz floh erneut, diesmal nach Nordirland. Auch zwei Schwestern brachen jetzt aus. „Auch Karin und Heidi laufen nun von zu Hause fort. Einerseits kämpft der Vater verzweifelt darum, sie wieder zurückzuholen, andererseits erwartet er Reue und Umkehr zu einem Leben in seinem Sinne. Da ist der Keim für den nächsten Ausbruch schon gelegt. (…) in die kleinbürgerliche Idylle ist eine Art von Grauen eingedrungen, für das ihm der Name fehlt – und die Rezepte sowieso“ (S. 27).

Odfried habe von all dem nur wenig mitbekommen, betont der Biograf. „Er verkriecht sich in sein Zimmer – und will gar nicht so genau wissen, weshalb es im Wohnzimmer unter ihm laut wird“ (S. 27). Hier sehen wird erneut eine Abmilderung seitens des Biografen. Natürlich hat Odfried von den Auseinandersetzungen etwas mitbekommen, deswegen hatte er sich ja verkrochen!

Im Herbst 1970 übertrat der Vater eine Grenze. Im Streit und bei einer heftigen Auseinandersetzung mit Karl-Lutz stellte sich die Mutter dazwischen und wurde von einem Schlag des Vaters getroffen. Ein „zufälliger Schlag“, wie der Biograf anhängt (S. 28) (Wortlaut des Vaters?) Wir haben hier also den dritten Beleg für Gewaltverhalten des Vaters. Am nächsten Tag erklärte die Mutter, dass sie die Scheidung will. Odfried war zu dieser Zeit zwölf Jahre alt.
Odfried beschloss, beim Vater zu bleiben. Ihm ging es vor allem um die vertraute Umgebung. Die Familie brach auseinander. Die Geschwister gingen in verschiedene Richtungen. Odfried blieb alleine beim Vater zurück und dieser bestärkte Odfried in der Ablehnung seiner Mutter. 

Der Vater hatte allerdings kaum Zeit für seinen Sohn. Eine Haushälterin kümmerte sich um den Haushalt. Schließlich brachte der Vater seinen Sohn Odfried im rechten Bund Heimattreuer Jugend unter. Die rechtsextremen Prägungen nahmen ihren weiteren Verlauf. 

Als Odfried 15 Jahre alt war, kamen Vater und Mutter wieder zusammen und heirateten erneut. „Über Nacht ändert sich für Odfried alles. Zwei Jahre lang hat Odfried wie ein Erwachsener gelebt. Jetzt wird er aus seiner Sicht in der sozialen Stellung zurückverwiesen, in den Status des Kindes zurückgestuft. (…) Odfried beginnt an seinem Vater zu zweifeln. (….) Der Bund Heimattreuer Jugend wird zum Familienersatz“ (S. 41f.).

In der Kindheit von Odfried Hepp gab es eine Reihe von Belastungen, wie oben aufgeführt. Das Bild über seine Kindheit erschließt sich nur, indem man einzelne Puzzleteile zusammenfügt und auch ein Gefühl für die Familienatmosphäre entwickelt. Ein deutlich rechtsextremer Vater mit seinen völkischen Ideen und seinem Anspruch über die Familie zu bestimmen, wird auch zu Verletzungen im Alltagsleben der Kinder geführt haben. Väterliche Feinfühligkeiten sind hier kaum zu erwarten. Wie geschildert haben wir wenig konkrete Berichte über Erziehungsverhalten. Allerdings wollten die Kinder aus dieser Familie ausbrechen, ganz am Schluss auch Odfried. Ich gehe von ganz erheblichen Belastungen in dieser Familie aus, die weit über die z.B. vereinzelt berichteten körperlichen Übergriffe des Vaters hinausgehen. Für mich ergibt sich vor allem das Bild von einem Geflecht aus Kontrolle, Dominanz, psychischem Missbrauch und Manipulationen, gepaart mit ideologischer "Aufladung".


Montag, 29. November 2021

Kindheit des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar

Die Kindheitsbiografie des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar stellt einen weiteren Beleg dafür da, wo die tieferen Ursachen für Rechtsextremismus liegen. 

Meine Quelle: Bar, S. M. (2003): Fluchtpunkt Neonazi. Eine Jugend zwischen Rebellion, Hakenkreuz und Knast. (Hrsg. Klaus Farin und Rainer Fromm). Verlag Thomas Tilsner. 

Bereits die Umstände seiner Geburt waren schwierig: Seine Mutter war 15 oder 16 Jahre alt, der Vater nicht viel älter. Bar selbst bezeichnet sich in diesem Kontext als „biologischer Unfall“ (S. 9). Im Alter von drei Jahren kam er für ein Jahr in ein Kinderheim. Dort erlebte er Gewalt durch andere Kinder. Eine Lehrerfamilie adoptierte schließlich den Vierjährigen. 

Die Adoptiveltern hatten sehr hohe Erwartungen an das Kind. Leistung ging über alles. Der Vater (ein Gymnasialdirektor) hatte zudem sehr wenig Zeit für die Kinder und Familie und war häufig abwesend. „Vormittags gab`s staatlichen, nachmittags privaten Unterricht. (….). Das Leben kann nicht nur aus Schule und Lernen bestehen, selbst in den Ferien ging der Drill weiter. (…) Keine Zeit für gar nichts, das war nicht ich selbst“ (S. 11). Stefan Michael begann dann Stück für Stück mit Rebellion gegen alles und jeden. Er schwänzte schon als Grundschüler die Schule, begann mit Diebstählen usw. 

Der heranwachsende Junge wurde durch Kontakte zu anderen gleichgesinnten Jugendlichen Stück für Stück immer delinquenter. Es folgten Einbrüche, Dogenhandel, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigungen und Gewalt. Auch rechtsextreme Einflüsse kamen hinzu. Sein Bruder entwickelte sich ebenfalls zum Rechtsextremisten.  

Im Alter von 16 Jahren wurde Bar seinen Adoptiveltern entzogen und kam in ein Jugendheim. Dort traf er auf andere Rechte und Nazis, die seinen Weg noch mehr verdunkelten und zusätzlich negativ prägten. 

An einer Stelle wird Bar nochmals sehr konkret und beschreibt seine damalige Gefühlslage in seiner Jugend: „(…) Angst oder gar Respekt hatte ich vor niemandem. Keinem Lehrer, keinem Bullen, nicht mal meinen Eltern. (…) Ich hatte mich mit Gewalt befreit, durch Schläge, Verweigerung und Trotz, niemand hatte mir mehr etwas zu sagen, die Zeiten waren vorbei. Ich ganz allein bestimmte über mich, ich nahm mein Leben selbst in die Hand. Vorher hatte sich auch niemand um mich gekümmert, auf sich allein gestellt. Aber die Zeile aus dem Anti-Fascho-Song `Schrei nach Liebe` trifft bei mir brutal zu:
`… denn deine Eltern hatten niemals für dich Zeit`, auf mich bezogen eine beschissene Wahrheit. Das ist vielleicht `ne harte Anklage, aber es ist so, meine Eltern waren nie für mich da. Gute Noten waren alles, was zählte. (…) Irgendwann sagst du dir, drauf geschissen, bin jetzt alt genug, mach mein eigenes Ding. (…) Euch bin ich doch sowieso egal, also seid ihr es mir auch
!“ (S. 16)

Die weiteren Schilderungen über sein Leben und seine Straftaten habe ich nur ansatzweise gelesen. Wir haben es hier mit einem Mehrfachtäter höchster Kategorie zu tun, der einfach nur zerstörte und sich nahm, was er wollte. Mit der Welt und der Gesellschaft scheint er komplett gebrochen zu haben. Dies wird überdeutlich. 

Sehr ärgerlich machte mich das Nachwort des Mitherausgebers Klaus Farin. Im Zeitraffer blickt er auf die Sozialisation von Stefan Michael Bar und kommentiert:
Doch so logisch, fast zwangsläufig sich der Weg des Stefan Michael Bar in die Neonazi-Szene auch lesen mag, er ist es nicht. Millionen von jungen Männern in Deutschland mach(t)en ähnliche Erfahrungen“ (S. 150f.) Er beschreibt dann die Konflikte zwischen Alt-Nazis und 68ern, schreibt von 50.000 Jugendlichen unter 18 Jahren, die in einem Heim leben und von 37.000, die in einer Pflegefamilie untergekommen sind, berichten von unzähligen Kindern, die von ihren Eltern misshandelt werden usw. Und hängt dem an: „Doch nur eine winzige Minderheit der so in ihrer Entwicklung geschädigten Jugendlichen landet in der Neonazi-Szene (…). Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalzusammenhänge – wenn…, dann… - lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und (Gewalt)Täter nicht ableiten“ (S. 151). 

1. Das Buch stammt aus dem Jahr 2003. Insofern sei diese Anmerkung etwas verziehen. Das bis heute vorliegende biografische Material zeigt deckungsgleich mit dem Finger auf destruktive Kindheitserfahrungen von Rechtsextremisten

2. Bedeutet diese Anmerkung des Herausgebers also, dass die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen von Bar gar keine Rolle bei seinem spezifischem Lebensweg spielen? Hätte man diese Schilderungen im Prinzip auch aussparen können, weil sie nicht von Relevanz sind? Weil „Kindheit“ ja nicht prägt? Die Zusammenhänge hier ausblenden zu wollen, ist geradezu nachlässig und fahrlässig! Ich habe schon oft gegen solche Kritik Stellung bezogen und werde mich hier jetzt nicht wiederholen. Heute ärgert mich es einfach nur noch wenn ich lese „Nicht alle einst misshandelten/traumatisierten Kinder werden zu Extremisten!“ und dadurch die Ursachenkette quasi weggewischt wird...


Dienstag, 23. November 2021

"Vom Saulus zum Paulus": Kindheit des Ex-Skinheads Johannes Kneifel

 "Vom Saulus zum Paulus: Skinhead, Gewalttäter, Pastor - meine drei Leben" heißt die Autobiografie von Johannes Kneifel (2012, Rowohlt Verlag, Reinbek)

Johannes Kneifel war als Jugendlicher Teil der rechten Skinheadszene. Schon in der Grundschule begann er mit Diebstählen und zündelte mit Feuer. Später neigte er zu Gewalt. Mit 17 Jahren kam er wegen Totschlags für fünf Jahre ins Gefängnis. Er brach mit der rechten Szene und wurde schließlich zum Pastor. 

Seine Kindheitserfahrungen sind, die meisten Blogleserinnen und Blogleser werden sich darüber kaum wundern, massiv destruktiv. 

Angst, Ohnmacht und Scham – immer wieder sind es dieselben Gefühle, die hochkommen, wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis, allein, nicht wahrgenommen. Echte Wertschätzung erfuhr ich keine, an Lob von meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern. Das galt nicht nur für meine schulischen Leistungen, sondern auch für alle anderen Bereiche“ (S. 75). 

Ich kam mir wie ein Fremder vor, egal wo ich war. Auch zu Hause. Einmal kam mir sogar der Gedanke, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, so wenig zugehörig fühlte ich mich meiner Familie (…)“ (S. 24). 

Wesentliche Grundlage der familiären Probleme waren die frühe, schwere Erkrankung seiner Mutter an Multipler Sklerose und die fast Blindheit seines Vaters. Dazu kam Armut und Geldsorgen. Die Eltern waren heillos überfordert, haderten mit dem Leben, kämpften sich durch. Für Johannes blieb da nicht viel. „Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer Kinder“ (S. 29). Johannes schämte sich für seine Herkunft, für die Armut und für seine behinderten Eltern. 

Als Jugendlicher beschimpfte er sie, nannte seine Mutter „Du Krüppel!“ und seinen Vater „Versager“ (S. 45). Er trat sogar Zuhause Türen ein. Sein Vater zog sich zurück und schwieg. Nie brachte Johannes Schulfreunde mit nach Hause. An sich war er aber auch eher ein Außenseiter an der Schule, der kaum Anschluss fand. 

Die rechte Skinheadszene bot offensichtlich Halt und Ausgleich. „Ich war damals noch stolz darauf, Skinhead zu sein; mit diesem Stolz konnte ich die Scham über meine Herkunft, mein Elternhaus überdecken“ (S. 38). „Ich schien im Kreis der Rechten einen Rückhalt zu haben, den ich bis dahin nirgendwo anders gefunden hatte: Hier zählte Kameradschaft, das Gemeinschaftsgefühl“ (S. 42). 

Dies ist etwas, was sich wie ein roter Faden durch etliche Schilderungen von Ehemaligen oder auch entsprechenden Studien zieht: Die Suche nach Halt, Familienersatz, Freundschaft, Bindung, Schutz, Zugehörigkeit. Die extremistische Gruppe stopft quasi ein emotionales Loch. Dies zeigt auch auf die Chancen für Prävention, in dem jungen Menschen mit schwierigem Hintergrund konstruktive Gruppenangebote gemacht werden, in denen sie sich etwas Zuhause fühlen können. 

Seine Gefühlwelt beschreibt er mit Rückblick auf eine kurze Jugendliebe so: „ (…) nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass ich zu solchen Gefühlen imstande sein könnte. Nach all den Jahren, in denen ich mich völlig in mich zurückgezogen, meine Gefühle in mir abgetötet hatte, erlebte ich den Himmel auf Erden“ (S. 37). Seine Situation war offenbar derart schwierig, dass er nichts mehr fühlte. Bis zu dieser kurzen Zeit des Flirts. 

Als Jugendlicher (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) kam er in ein Internat. Auch das Jugendamt war offensichtlich an dieser Entscheidung beteiligt (S. 37). Schon während seiner Schulzeit plagten ihn Suizidgedanken. Später im Gefängnis überlegte er erneut, sich umzubringen. Mit Blick auf Suizidgedanken und Schulzeit schreibt er: „Ich fühlte mich benachteiligt, missachtet, ausgegrenzt, wollte aber um jeden Preis vermeiden, damit aufzufallen. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Zu allen negativen Gefühlen kam jetzt noch der Neid auf die Mitschüler, die in geordneten und behüteten Verhältnissen aufwuchsen. Meine Ohnmacht, an der eigenen Situation nichts ändern zu können, brachte mich irgendwann dazu, für meine Mitschüler nur noch Verachtung zu empfinden“ (S. 44). 


Montag, 22. November 2021

Kindheit des Ex-Nazis Stefan Jahnel

Die Autobiografie „Mythos Neonazi“  von Stefan Jahnel (2004, pro Literatur Verlag, Mammendorf) zeigt einmal mehr in Richtung Einflussfaktor Kindheit. 

Stefans Eltern trennten sich (das genaue Jahr wird nicht beschrieben). Die Ehe der Eltern war schon früh gescheitert, wie Jahnel ausführt. Und zwar bereits ab dem Zeitpunkt, wo Stefan vier Jahre alt war. Die Mutter wartete aber Jahre, bis sie sich schließlich trennte. Was Jahnel so kommentiert: „Ich denke, es war eine falsche Entscheidung“ (S. 11). Er meint: Sie hätte sich früher trennen sollen. Offensichtlich gab es häufig Konflikte in der Familie. „Die Streitereien zwischen meinem Vater und meiner Mutter führten dazu, dass ich es zuhause nicht mehr aushielt. Mein Vater arbeitete drei Tage in München und hatte dann wieder frei. Ich hasste es, wenn er aus München kam. (…) Dann mischte sich mein Vater in schulische Dinge etc. ein, was jedes Mal zu einem Familienkrach führte“ (S. 11). 

Stefan war es leid, all die Streitereien zu erleben. „Mein Wunsch war es damals, auf ein Internat zu gehen. Und mit 13 konnte ich meine Eltern dann auch tatsächlich überzeugen. Drei Tage später hat meine Mutter die Scheidung eingereicht. Dieser Schritt schien mir nur logisch, auch wenn er mich emotional berührte“ (S. 12) Es wird klar, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss, wenn sich ein Kind in diesem Alter zu diesem Schritt entscheidet. Zwei Jahre verbrachte er im Internat und kam dann zurück zu seiner Mutter. „Meine Mutter war wieder liiert. Der Herr hieß Fred und um es ganz prägnant zu formulieren: Wir hassten uns! Zumindest hasste ich ihn“ (S. 11). 

Einmal eskalierte ein Streit zwischen ihm und dem Stiefvater. Der Stiefvater hatte Stefan und dessen weibliche Bekannte zum Essen eingeladen. Nach einem Streit lud er Stefan vom Essen aus. Die Bekannte kam trotzdem zum Essen (der Stiefvater war ein extrem guter, prominenter Koch). Stefan zündete dann aus Rache einen großen Molotowcocktail vorm Haus. Die Mutter ließ ihren Sohn daraufhin für eine Woche in die Psychiatrie einweisen.
„(…) so eine Woche Psychiatrie ist so ziemlich das Übelste, was man erleben kann. Es gibt kaum etwas Schlimmeres. Knast hätte mir weniger ausgemacht. Im Knast hat man zumindest die Chance, einen Rechtsanwalt zu bekommen, der zu 100 Prozent auf deiner Seite steht, den man auch ins Vertrauen ziehen kann. (…) Egal was mir aufgrund meiner politischen Tätigkeit passieren würde, es würde nie etwas Schlimmeres geben, als das, was ich eben erlebt hatte. (….) Die ganze Sache hatte mich ehrlich etwas aus der Bahn geworfen. Ich konnte ja nun schlecht zu meiner Mutter zurück. Mein Vater wollte mich zwar zu sich aufnehmen, aber das hieß: er und vor allem seine Frau wollten nicht mich aufnehmen, sondern einen Sohn, der ihren Vorstellungen entsprach. Und diesen Vorstellungen konnte ich auf die Dauer nicht entsprechen, und ich wollte ihr auch nicht entsprechen“ (S. 23).
Dazu muss ergänzt werden, dass Stefan bereits als Jugendlicher deutlich rechte Ansichten vertrat.  Wobei sein Vater in seiner eigenen Jugend Kameradschaftsführer in der Hitlerjugend gewesen war und Jahnel andeutet, dass sein Vater zumindest deutlich konservative Ansichten vertrat und für Politikerschelte zu haben war (S. 23f.). 

Nach dem Umzug zum Vater zog die Mutter ins Ausland. „Meine Mutter zog relativ kurze Zeit später nach Spanien, aber das tangierte mich nicht mehr. Ich war eigentlich sogar recht froh, dass sie mir nicht mehr über den Weg lief“ (S. 24). Der krasse Bruch zwischen Mutter und Sohn zeigt sich in dieser Aussage überdeutlich. 

Als 17Jähriger kam eine weitere traumatische Erfahrung hinzu. Stefan war in seine Bekannte Manu verliebt. Die Liebe seines Lebens, wie er schreibt. Manu litt wohl unter Depressionen und kam aus schwierigen Verhältnissen. Sie starb als 16Jährige bei einem Autounfall. Alles deutet darauf hin, dass der Wagen absichtlich gegen einen Baum gefahren wurde. Zusammen mit dem Fahrer war das Ganze offensichtlich als Doppelselbstmord geplant. „Am liebsten wäre auch ich gestorben, aber das Leben musste weitergehen. Allerdings bedeutete mir mein Leben zu diesem Zeitpunkt fast gar nichts mehr. Ich hätte mich sicherlich zu fast jeder blödsinnigen Aktion hinreißen lassen: Das Zeigen von Reichskriegsflaggen in Schulräumen ist verboten? Na egal, dann habe ich eben eine aus dem Fenster gehängt“ (S. 27). In der Folge drang Jahnel immer weiter in die rechte Szene ein. Über 10 Jahre war er darin aktiv. 

Es wird deutlich, dass Stefan Jahnel als junger Mensch vor allem psychosoziale Hilfen dringen gebraucht hätte. Besser noch wäre Unterstützung von Familienangehörigen gewesen. Letztere scheinen aber eher DAS Problem in seinem Leben gewesen zu sein. 


Freitag, 19. November 2021

Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter

Die Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter gehört zu den mit grausamsten Kindheiten, über die ich bisher recherchiert habe.  Das Wort Kindesmisshandlung trifft es hier nicht. Viel mehr erlebte er Folter und Terror! Außerdem wuchs er in einer Kultur der Gewalt auf, inkl. in dem Kinderheim, in das er später kam.

Meine Quelle: Santer, C.  & Niederreiter, W. (1995): Ich geh jetzt Rambo spielen. Müllkind, Neonazi, Söldner in Bosnien, Bekehrung - und ein Mordprozess. Aufbau Verlag, Berlin. 

Schon die Geburt von Wolfgang war belastet, er kam als Frühgeburt. Über seine Kindheit sagt er:
Wenn ich an diese Zeit denke, steigt vor allem Wut in mir auf. Aber ich sage mir: Wenn ich meine Kindheit überlebt habe, dann kann es wohl nicht mehr viel schlimmer kommen. (…) Meine ersten Erinnerungen bestehen aus den Schlägen, die wir vier Kinder (….) von unserem Vater ständig bekommen. Er haut uns ins Gesicht oder drischt uns auf den nackten Arsch. Meine Mutter hat auch nichts zu melden. Die schönsten Zeiten sind für uns die Stunden, wenn er Besuch von Bekannten erhält, denn für diese Zeit sind wir vor ihm sicher. Wenn wir Kinder unseren Eltern zu schlimm sind, werden wir ins Kinderzimmer gesperrt. Vor das Fenster kommt eine Platte, damit wir nicht abhauen können. Wir sind dann dazu verurteilt, den ganzen Tag im Bett zu bleiben, öfters sind es auch mehrere Tage. Natürlich werden wir auch zusätzlich gestraft, indem wir nichts zu essen bekommen“ (S. 11f.). 

Ich erinnere mich noch an die Weihnachtstage, als ich vier Jahre alt bin. Am Morgen nach dem Heiligen Abend spielen wir mit den neuen Spielsachen. Dadurch wacht mein Vater auf. Er wird wütend und lässt uns in einer Reihe antreten. Auf den ausgestreckten Armen müssen wir ihm unsere Spielsachen präsentieren, die er uns auf dem Kopf zerschlägt. Und schließlich müssen wir auf Holzscheiten knien und bekommen auf die ausgestreckten Arme Bücher gelegt. Jedesmal, wenn eines herunterfällt, legt er zwei drauf. Ich weiß noch, dass ich vor lauter Erschöpfung umkippe“ (S. 13).   

Zur Strafe sperrte der Vater die Kinder auch in ihre Zimmer und schraubte die Türklinken ab. Es gab dann kein Essen und kein Trinken. „Vorsichtshalber haben wir uns schon ein Vorratslager mit rohen Kartoffeln und Zwiebeln angelegt, die wir jetzt essen. Wir werden schließlich so durstig, dass wir unsere eigene Pisse trinken. Wir haben einen Eimer im Zimmer, den wir als Toilette benutzen müssen. Ich hasse diesen Geruch, der dann im Zimmer liegt“ (S. 13f.). 

Als ich und mein kleiner Bruder mit dem Essen herumspielen, werden wir in den Keller gesperrt. Dort unten ist es völlig dunkel, weil es kein Licht gibt. Ich habe große Angst. Mein Vater hatte mir immer wieder erklärt, dass es in diesem Keller Schlangen gäbe“ (S. 15f.). 

Die Mutter bietet keinen Schutz, im Gegenteil, sie meldet „Fehlverhalten“ dem Vater, der dann die Kinder verprügelt. Ansonsten bleibt die Rolle der Mutter schemenhaft, man erfährt fast nichts über sie. Der Vater selbst ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Später droht er oft: „Ich hätte euch gleich schon ins Heim geben sollen, als ihr noch ganz klein wart, dann hätte ich mir den ganzen Ärger mit euch erspart“ (S. 19). 

Wenn die Kinder nicht eingesperrt sind, müssen sie die Nachmittage im Freien verbringen, auch im Winter. Das Haus bleibt für sie versperrt. Die Kinder reagieren wiederum mit destruktivem Verhalten, sie zünden z.B. ihre Teddybären an, der älteste Bruder nimmt die Spielsachen der Jüngeren weg und zerstört sie. Wolfgang ist lange Zeit Bettnässer. Als ältere Kinder sind Wolfgang und sein Bruder ständig in Schlägereien verwickelt.

Die Familie ist zudem arm. Oft reicht das Geld nicht, um die Kinderzimmer zu heizen. Der Vater sammelt Spielzeug vom Müll. Beim Jugendamt ist die Familie bekannt. Als Wolfgang dreizehn Jahre alt ist, wird er schließlich auf Veranlassung des Jugendamtes in ein Kinderheim gebracht. Auch dort herrscht das Gesetz des Stärkeren und Wolfgang setzt sich mit Gewalt durch. Während seiner Lehre versucht Wolfang sich mit Schlaftabletten umzubringen. Er kommt ins Krankenhaus und wird gerettet. Auch später wird er weiter Suizidgedanken haben. 

Später schlägt Wolfang zusammen mit einem Kumpel einen Mann zusammen. Die Polizei nimmt sie fest. Wolfang schlägt einen Polizisten und wird daraufhin von Polizisten verprügelt. Wie psychisch gespalten er bereits ist, zeigt sich in folgender Aussage dazu. „Ab einer gewissen Schmerzgrenze spüre ich nichts mehr. Obwohl ich mittendrin bin im Geschehen, kommt`s mir dann so vor, als wäre ich gar nicht daran beteiligt. Ich ziehe mich auf einen Platz in mir selbst zurück, wo mich niemand mehr verletzen kann, völlig egal, was mit mir geschieht“ (S. 43). Die Traumafolgen zeigen sich hier überdeutlich! 

Wolfang Niederreiter wird schließlich zum Neonazi und geht später als Söldner nach Bosnien. Er bringt Menschen um und wird dafür bezahlt... 

Donnerstag, 18. November 2021

NS-Zeit: Kindheit von Friedrich Paulus

Friedrich Paulus, der Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der 6. Armee, die gegen Stalingrad zog, ist vom Namen her der breiten Öffentlichkeit sicherlich nicht so nachhaltig bekannt, wie andere führende NS-Akteure. Allerdings spielte er eine wichtige Rolle bei Hitlers Feldzügen. 

Für mich ist seine Kindheit von Interesse, über die es so einige Informationen in dem Buch „Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biografie“ (2009, 2. Auflage, Verlag Ferdinand Schönrich, Paderborn – München – Wien – Zürich) von dem Historiker Torsten Diedrich gibt. 

Friedrich wurde im Jahr 1890 geboren. Er war in seinen frühen Jahren ein „eher kränkliches, wenig robustes Kind“ (S. 29). Dies wird bei seinen Eltern zu einigen Sorgen geführt haben, denn sie hatten vor seiner Geburt bereits ein Kind ein viertel Jahr nach dessen Geburt verloren. 

Friedrichs Mutter hatte eine belastete Kindheit erlebt. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben und das Verhältnis zur späteren Stiefmutter war angespannt. Friedrichs Mutter litt unter Depressionen und hatte zudem häufig gesundheitliche Probleme. „Vielleicht vermochte sie nicht die negativen Erfahrungen ihrer Jugend zu verarbeiten (…)“ (S. 28). Auch der Tod ihres ersten Kindes wird sie sicher schwer und ergänzend belastet haben. Wie sich der Gemütszustand der Mutter auf Friedrich auswirkte, kann nur erahnt werden. 

Die Familie Paulus zog zumeist den Dienststellen des Vaters, ein Beamter des Kaiserreichs, folgend mehrfach um (S. 30). Ob und wie dies die Kinder belastete, wird nicht beschrieben.
Der elterliche Erwartungsruck auf Friedrich war sehr hoch, schließlich war er der erstgeborene Sohn. Der angesehene, herrische Großvater mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm Nettelbeck, wurde zu einem Vorbild für Friedrich. Dieser Großvater war früher beim Militär, später leitete er mit strenger Hand eine Haftanstalt („Korrektionsanstalt“) und war entsprechend geprägt (S. 27-32). „Wahrscheinlich war für den jungen Friedrich das heimliche Familienoberhaupt Nettelbeck eher Vorbild als der eigene Vater, weil der weit weniger erfolgreich schien und als Persönlichkeit nicht das Charisma seines Schwiegervaters, anderer Brüder oder Vorfahren erreichte. Auch könnten heute kaum mehr nachzuweisende Strenge oder Erziehungsmittel seiner Eltern, die `missratene` Menschen ja in der Korrektionsanstalt vor Augen hatten, beim Sohn ein gewisses `Obrigkeitsdenken` erzeugt haben“ (S. 35).
Den letzten Satz schreibt der Autor Diedrich mit Blick auf das Einzelgängertum des Schülers Friedrich, sowie dessen Eigenheiten, seiner Strebsamkeit und Anlehnung an die strengen Pädagogen seiner Schule, was starken Unmut bei seinen Mitschülern auslöste. Ganz offensichtlich fand der Biograf keine Belege für das Erziehungsverhalten der Eltern. Seine zitierten Deutungsversuche zeigen allerdings, dass er eine autoritäre Erziehung in dieser Familie für durchaus wahrscheinlich hält. 

Dies wird auch an anderer Stelle im Buch deutlich, wenn der Autor allgemein ausführt:
Es entsprach durchaus „den Erziehungsmaximen dieser Zeit, den Willen eines Kindes frühzeitig zu brechen. Erziehung hieß in den vom Adel geprägten Wertevorstellungen der Gesellschaft, die Kinder zum `Funktionieren` zu bringen. Die zu vermittelnden Grundtugenden waren Zucht, Gehorsam, Anpassung, Ordnung, Leistung und Erfolg. Eine derartige Werteausrichtung erfolgte sowohl im Elternhaus wie in der Schule. Prügelstrafen waren dabei organischer Bestandteil der Erziehung. Das aufstrebende Bürgertum stand in dieser Gesellschaft unter einem besonderen Erfolgsdruck, welcher von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. (…) Insbesondere der Sohn stand dabei unter besonderer Anforderung. Er musste den Erwartungen des Vaters gerecht werden und sollte sich zum Stolz der Familie entwickeln. Disziplin und Selbstkontrolle bildeten dabei die Basis des Funktionierens. Der so entstehende Leistungsdruck war oft bedrückend für das Kind und wurde durch bestimmte Verhaltensweisen kompensiert. Nicht selten zählten dazu ein reduziertes Gefühlsleben, Anpassung bis zur Selbstaufgabe, Distanz zu anderen Menschen, Kühle oder Introvertiertheit als Selbstschutz. Ganz offenbar hat Paulus nicht nur die Werte seines gesellschaftlichen Umfeldes sehr stark in sich aufgenommen, sondern zugleich ebenfalls einen solchen Schutzschild um seine Seele geformt“ (S. 34). Deutlicher kann man es im Grunde nicht ausdrücken: Der Biograf geht von negativen Prägungen in Kindheit und Jugend von Friedrich Paulus aus, die seinen Charakter formten. 

Für mich steht diese Kindheitsbiografie bzw. die allgemeinen Ausführungen des Biografen exemplarisch für das Leben und Erleben von Kindern der damaligen Zeit. Die Kindheiten von 25 bekannten NS-Tätern/Führern habe ich bisher analysiert. Auch diese Fälle stellen im Grunde Paradebeispiele dar. Die NS-Ideologie baute auf eine strenge, zu Gehorsam, Anpassung und Spaltung ausgerichteten Erziehung der Kinder auf. Hinzu kamen oft leidvolle Umstände der Zeit, wozu u.a. der Tod von Geschwistern oder Elternteilen gehörte. Letzteres kann schwer einfühlsam aufgefangen werden, wenn das Ziel ist, zur Härte zu erziehen. Das Fundament, das die NS-Zeit möglich machte, ist klar. Merkwürdig nur, dass dies nicht immer und immer wieder auch so besprochen und mahnend hoch gehalten wird. 

Mittwoch, 3. November 2021

"Generation Greta" und was Kindheit damit zu tun haben könnte

In der EMMA (Ausgabe Nov/Dez 2021, Nr. 6) schreibt die Journalistin und Autorin Bettina Weiguny unter dem Titel „Junge Rebellinnen“: „Hier wächst eine politische Generation heran. Junge Menschen setzen sich fürs Klima ein, für sauberes Trinkwasser und soziale Gerechtigkeit; gegen Kinderehe und Diskriminierung. Sie finden sich nicht damit ab, die Welt zu belassen wie sie ist, wenn es doch besser sein könnte. Keine Protestbewegung vor ihnen war so global vernetzt, so jung und so weiblich wie die `Generation Greta`.“ (S. 48)

Das greenpeace magazin hat die aktuelle Ausgabe (6.21 Okt / Nov 2021) mit „YES SHE CAN. Wie Frauen weltweit um Klima, Umwelt und Gerechtigkeit ringen“ betitelt. Die gesamte Ausgabe befasst sich mit dem Wirken von starken und mutigen Frauen in aller Welt und das Magazin hält fest: „Frauen for Future“. 

Ich kann diese Feststellungen nur teilen: Frauen, vor allem der jüngeren Generation, sind weltweit im Aufbruch. Viele Jungs stehen an ihrer Seite. All das kann nur gut sein! 

Ich möchte diese Entwicklungen aber in einer Hinsicht kommentieren, die oft nicht bedacht wird: Was ebenfalls „im Aufbruch“ und in stetiger (positiver) Entwicklung war und ist, sind die Kindheitsbedingungen. Ich bin der Auffassung, dass beides miteinander in einem starken Zusammenhang steht. 

Kaum jemand hat so präzise auf den Punkt gebracht, um was es mir geht, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer. In seinem Buch „Gegen die Gewalt: Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind“ (2019) stellt er zunächst auf Grundlage empirischer Daten einen massiven Wandel der elterlichen Erziehung fest (vor allem ein Mehr an Zuwendung und ein Weniger an elterlicher Gewalt). Gleichzeitig zeigt Pfeiffer einen massiven Rückgang von Gewalt, Kriminalität, Rauschmittelkonsum und Suizid bei der jüngeren Generation auf. Er spitzt diese Beobachtungen in einem einfachen Satz zu: „Je jünger die Altersgruppe, desto positiver ihre Entwicklung“ (Pfeiffer 2019, S. 67) An anderer Stelle im Buch fasst er eindrucksvoll zusammen:
Damit liegt eine Hypothese auf der Hand: Je jünger die heute in Deutschland lebenden Menschen sind, desto stärker haben sie vom Wandel der Erziehungskultur profitiert. Sogleich stellt sich eine naheliegende Frage: Haben wir heute möglicherweise in vielerlei Hinsicht die beste Jugend, die es in Deutschland seit der Wiedervereinigung gegeben hat?“ (Pfeiffer 2019, S. 64)

Nun, warum eigentlich ab der Wiedervereinigung? Vielleicht haben wir sogar die beste Jugend, die es jemals gab? Und: Der positive Wandel der Erziehungskultur schreitet weiter fort und wird das Land weiter nachhaltig verändern. 

Luisa Neubauer, Pauline Brünger, Carla Reemtsma und wie sie alle heißen (inkl. der vielen unbekannten Namen). Sind diese mutigen, stolzen, selbstbewussten und engagierten Frauen als Kind geschlagen, gedemütigt und niedergemacht worden? Sind diese Frauen als Kind nicht geliebt worden? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich keine Informationen dazu gefunden habe. Ich kann mich aber auf Pfeiffers allgemeine Daten beziehen und diese zeigen eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung und elterlicher Gewaltfreiheit dieser Generation. Aber auch ohne diese Daten würde ich beide Fragen aus meiner Erfahrung und aus meinem Bauchgefühl heraus mit einem Nein oder einem "eher nicht" beantworten.
Vor allem Mädchen und junge Frauen profitieren besonders von den errungenen Freiheiten durch ihre Mütter und Großmütter, was für ihre Brüder schon vorher selbstverständlich war. Friedlichere, weniger belastete Kindheiten plus mehr Freiheit zur Entfaltung ist ein sehr produktiver Mix.

Diese Generation ist so wenig als Kind traumatisiert worden wie keine Generation zuvor. Dies schafft Raum für den geraden Blick auf Realitäten, für eine gesunde Wahrnehmung, für Vertrauen, Kooperation und für konstruktive Konfliktlösungen.