(aktualisiert am 13.01.2021)
Bisher habe ich 25 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden. Diese Studien stelle ich unten vor.
Viele dieser Studien habe ich hier im Blog bereits ausführlicher besprochen (siehe entsprechend die Links unten). Dass sich nicht immer in 100 % der untersuchten Fälle destruktive Kindheiten nachweisen lassen, ist logisch und dazu habe ich auch bereits hier und hier deutliche Anmerkungen gemacht. Allerdings lässt sich zusammenfassend eindeutig sagen: Generell zeigt sich, dass rechte Gewalttäter bzw. Rechtsextremisten i.d.R. eine sehr destruktive Kindheit hatten!
Das Bild, das diese 25 Studien aufzeigen, wird noch durch kriminologische Befragungen mit hohen Fallzahlen ergänzt (z.B. "Einflussfaktoren extremistischer Einstellungen unter Jugendlichen in der Schweiz" oder "Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter — Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich"). Sie zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterleben (Körperstrafen) in der Kindheit (und auch fehlender elterlicher Zuwendung) und rechtsextremistischen Einstellungen. Es gibt auch andere interessante Ansätze. In den USA (Quest for Significance and Violent Extremism: The Case of Domestic Radicalization. Political Psychology 38(5)) wurden 1496 Akteure (90% männlich), die ideologisch bedingte Straftaten (rechtes, linkes + islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.
Es gibt auch etwas ältere Forschungsansätze (immer noch aktuell!), die in eine ähnliche Richtung zeigen. So fand eine Forschungsgruppe bei einer Befragung von 695 Jugendlichen heraus, dass negatives Erziehungsverhalten einen direkten Effekt auf Level und Anstieg von fremdenfeindlichen Einstellungen hat (Hefler, G., Boehnke, K.& Butz, P. (1999): Zur Bedeutung der Familie für die Genese von Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen: Eine Längsschnittanalyse. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (19). S. 72–87).
Zu diesem Gesamtbild gehören ergänzend auch die vielen „Einzelfälle“, die ich hier im Blog oder in meinem Buch besprochen habe: Diverse NS-Täter (inkl. Adolf Hitler + weitere wichtige Anmerkungen über seine Kindheit hier und hier) sowie Rechtsterroristen wie Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt, Anders Breivik und Stephan Ernst (siehe diese und diverse weitere Fälle aus dem rechtsextremen Spektrum + diverse NS-Täter im Inhaltsverzeichnis). Was sowohl bei den detaillierten Einzelfällen als auch in so machen Studien mit vielen Befragten auffällt sind oftmals Mehrfachbelastungen (!), also z.B. eine autoritäre Erziehung und der Tod eines Elternteils (wie es z.B. bei Adolf Eichmann war). Andere erlebten eine autoritäre Erziehung und ergänzend Mobbingerfahrungen oder wurden Zeuge von häuslicher Gewalt oder hatten suchtkranke Familienmitglieder usw. Bei manchen Tätern kommen gar so viele Belastungen zusammen, dass man sich fragt, wie diese Menschen ihre Kindheit überhaupt überlebt haben (Paradebeispiel dafür ist Adolf Hitler).
Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend! Trotz dieser vielen Einzelarbeiten ist mir bis heute keine Arbeit bekannt, die all diese hier genannten Studien (und ergänzend auch Einzelfälle) zusammengebracht hat. Dieser Beitrag dürfte somit der bisher umfassendste im deutschsprachigen Raum sein, wenn es um die Kindheitsursprünge (und somit um die tieferen Ursachen an sich) von Rechtsextremismus geht.
Diese Feststellungen mache ich mit einem "lachenden" und "weinenden" Auge. „Lachend“ deshalb, weil es mich nach all der Recherchearbeit und Mühen schon ein wenig stolz macht, dass ich als unabhängiger, "nebenberuflicher" Gewaltforscher diese Dinge zusammenführen konnte. „Weinend“ deshalb, weil es mich immer wieder erstaunt und auch ärgert, dass die akademisch eingebundene Fachwelt sowie auch die Medien das Thema „Kindheit und Extremismus“ (und weitergedacht also auch das Thema „Kindheit und NS-Zeit“) einfach viel zu selten zentral in den Blick nehmen. In jede größere Debatte (und auch in entsprechende Fachbuchreihen) über Ursachen und Prävention von Rechtsextremismus gehört das Thema „destruktive Kindheitserfahrungen“ deutlich und zentral auf den Tisch.
Ich wünsche mir, dass diese meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, dass Scheuklappen abgelegt werden und dass die Opfererfahrungen der Täter mehr in den Blick genommen werden. Und ich wünsche mir, dass in der Folge größere Bemühungen für weltweit mehr Kinderschutz unternommen werden: Kinderschutz ist mehr als nur die Verhinderung von individuellem Leid. Kinderschutz ist immer auch Gewalt- und Extremismusprävention (und in der Folge auch Kriegsprävention)!
Meine Grundthesen sind und bleiben: Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, wer gewaltfrei aufwachsen durfte und wer mindestens ein Elternteil hatte, von dem er/sie wirklich geliebt wurde, der wird kein Rechtsextremist oder gar Massenmörder. Die gezeigten Studien untermauern meine Thesen einmal mehr. Diese Erkenntnisse bedeuten umgekehrt nicht, dass misshandelte, gedemütigte und traumatisierte Kinder automatisch zu Extremisten werden. Dies wäre empirisch auch gar nicht haltbar. Belastende Kindheitserfahrungen bilden nur das Fundament für Extremismus und Gewaltverhalten. Aber nicht vergessen: Die Kindheit ist politisch!
Hier nun die gesammelten Studien (verlinkte hier im Blog bereits besprochen):
Aigner (2013): 3 (ehemalige) rechte Skinheads (männlich)
Bannenberg & Rössner (2000): 17 junge, rechtsextreme oder rechts-denkende Gewalttäter in Ostdeutschland
Bielicki (1993): 1 rechtsextremer junger Mann (aus der psychoanalytischen Praxis)
Böttger (1998): 10 junge Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich)
Ezekiel (1996): zentral: 9 Mitglieder einer Neonazigruppe in Detroit; weniger zentral: 3 Nazi-Führungspersönlichkeiten in den USA
Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2007): Insgesamt 26 Schweizer rechtsextreme Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer)
Frindte & Neumann (2002): 91 verurteilte rechte Gewalttäter.
Funke (2001): 3 männliche deutsche Rechtsextremisten
Heitmeyer & Müller (1995): 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, die von der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft worden sind
Hopf et al. (1995): 6 als deutlich rechtsextrem eingestufte männliche Jugendliche (von insgesamt 25 Befragten)
Kahl-Popp (1994): 1 rechtsextremer Jugendlicher in psychoanalytischer Behandlung
Köttig (2004) (in meinem Buch besprochen): 32 weibliche Rechtsextremisten
Leuzinger-Bohleber, M. (2016): 1 Fallbeispiel (männlich) einer rechten Radikalisierung aus der psychoanalytischen Praxis
Lützinger (2010): 39 männliche Extremisten (24 rechts, 9 links und 6 islamistisch)
Marneros et al. (2003): 61 männliche, rechtsextreme Gewalttäter, die angeklagt wurden
Michel & Schiebel (1989): 3 männliche, rechtsextreme Jugendliche
Nölke (1998): 2 rechte Jugendliche
Schmidt (1996): 1 rechtsextremer, gewaltbereiter Jugendlicher mit schwerer Persönlichkeitsstörung, der psychotherapeutisch behandelt wurde
Simi et al. (2016): 44 (38 männlich, 6 weiblich) ehemalige Mitglieder rechtsextremistischer Gruppen in den USA
Streeck-Fischer (1992): ca. 5 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit)
Streeck-Fischer (1999): 1 rechter, männlicher Skinhead (aus der stationären, psychiatrischen Behandlung)
Sutterlüty (2003): 3 männliche, gewalttätige Rechtsextremisten
Wahl et al. (2003) (in meinem Buch besprochen): 115 verurteilte, rechte Gewalttäter
Windisch et al. (2020): 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads)
Wirth (1989): 6 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit; nur ein Fall exemplarisch dargestellt)
(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: "Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung")
Detaillierte Quellen:
Aigner, J. C. (2013): Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Psychosozial-Verlag, Gießen. (3. Aufl.)
Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. In: DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.
Bielicki, J. S. (1993): Der rechtsextreme Gewalttäter. Eine Psycho-Analyse. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg.
Böttger, A. (1998): Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.
Ezekiel, R. S. (1996): The Racist Mind: Portraits of American Neo-Nazis and Klansmen. Penguin Books, New York.
Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Eidgenössisches Departement des Innern, Bern.
Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.
Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.
Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn.
Hopf, Christel; Rieker, Peter; Sanden-Marcus, Martina und Schmidt, Christian (1995): Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierung junger Männer. Weinheim und München: Juventa Verlag.
Kahl-Popp, J. (1994): „Ich bin Dr. Deutschland." - Rechtsradikale Phantasien als verschlüsselte Kommunikation in der analytischen Psychotherapie eines Jugendlichen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 43 (1994) 7, S. 266-272.
Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Leuzinger-Bohleber, M. (2016): Radikalisierungsprozesse in der Adoleszenz – ein Indikator für eine nicht gelungene Integration? In: Leuzinger-Bohleber, M. /Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.): Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 171–193.
Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln. (Auch in englischer Übersetzung online einsehbar: Saskia Lützinger: The Other Side of the Story. A qualitative study of the biographies of extremists and terrorists: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/1_40_TheOtherSideOfTheStory.html
Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2003): Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Band 86, Heft 5. S. 364–372.
Michel, S. & Schiebel, M. (1989): Lebensgeschichten von rechtsextremen Jugendlichen. In: Rosenthal, G. (Hrsg.): Wie erzählen Menschen ihre Lebensgeschichte? Hermeneutische Fallrekonstruktion distinkter Typen. Forschungsbericht des Lehrprojektes: „Biographie“. Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. S. 212-233.
Nölke, E. (1998): Marginalisierung und Rechtsextremismus. Exemplarische Rekonstruktion der Biographie- und Bildungsverläufe von Jugendlichen aus dem Umfeld der rechten Szene. In: König, H.-D. (Hrsg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 257- 278.
Schmidt, B. (1996): Psychoanalytische Überlegungen zur rechtsextremistischen Orientierung männlicher Jugendlicher. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 45 (1996) 10, S. 370-374.
Simi, P., Sporer, K. & Bubolz, B. F. (2016): Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach. In: Journal of Research in Crime and Delinquency. Vol 53, Issue 4. S. 536-563.
Streeck-Fischer, A. (1992): »Geil auf Gewalt«. Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus. In: Psyche, 46(8), S. 745-768.
Streeck-Fischer, A. (1999): Über die Mimikryentwicklung am Beispiel eines jugendlichen Skinheads mit frühen Erfahrungen von Vernachlässigung und Misshandlung. In: Streeck-Fischer (Hrsg.): Adoleszenz und Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen. S. 161-173.
Sutterlüty, F. (2003): Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Campus Verlag, Frankfurt am Main (2. Auflage).
Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.
Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni)
Wirth, H.-J. (1989): Sich fühlen wie der letzte Dreck. Zur Sozialpsychologie der Skinheads In: Bock, M., Reimitz, M., Richter, H.-E., Thiel, T. & Wirth, H.-J. (Hrsg.): Zwischen Resignation und Gewalt. Jugendprotest in den achtziger Jahren. S. 187-202.