Donnerstag, 29. Dezember 2011

"Handbuch Kriegstheorien". Ein Kommentar

Ende 2011 erschien das wissenschaftliche Grundlagenbuch „Handbuch Kriegstheorien“ herausgegeben von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann. „Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden und systematischen Zugang zu den Theorien des Krieges.“, heißt es u.a. in der Buchbeschreibung. Entsprechend werden im ersten Teil des Buches diverse Kriegstheorien vorgestellt. Im zweiten Teil erfährt man etwas über die „Klassiker der Kriegstheorien“ und im dritten Teil geht es um „Empirische Fallstudien zu Kriegstheorien“. (Das Inhaltsverzeichnis und Buchauszüge kann man bei googel books einsehen.)

Ich habe mir das Buch gleich gekauft, da es eine grundlegende Übersicht über die Forschungsbereiche und gängigen Denkansätze zum Thema Krieg bietet, was mir persönlich sehr hilfreich ist. Das vorweg als positive Kritik.

War ich nun erstaunt oder nicht, dass ich nicht einen einzigen Ansatz in dem Buch gefunden habe, der sich in dem Kontext von Krieg mit den Folgen von Kindesmisshandlung und – vernachlässigung bzw. mit psychohistorischen Thesen befasst? Ich war im Grunde nicht wirklich erstaunt oder vielleicht doch ein wenig. Denn ich hätte zumindest in den beiden kriegstheoretischen Texten „Psychologische Kriegstheorien: Psychoanalytische Konstruktionen zum Thema Krieg“ von Gerhard Vinnai und/oder in dem Text „Sozialpsychologie des Krieges: Der Krieg als Massenpsychose und die Rolle der militärisch-männlichen Kampfbereitschaft“ von Rolf Pohl und Marco Roock innerhalb der Texte ein oder zweit Absätze zu dem Thema erwartet. Aber Fehlanzeige, das Thema wird in diesem Grundlagenwerk komplett ausgeklammert.

Aber schauen wir uns die beiden o.g. Texte doch einmal genauer an. Glücklicherweise ist der gesamte Text von Gerhard Vinnai auch online zu lesen, was eine Besprechung noch mal erleichtert. Vinnai schreibt: „Die besondere kulturelle Bedeutung des Tötungstabus verweist auf die ungeheure Macht der Aggressivität, die es bannen soll und die im Krieg offen zum Ausdruck kommt.“ (S. 37) Danach geht er kurz auf Freud und den Aggressionstrieb ein, der sich im Krieg Bahn brechen würde. „Die Annahme einer allgemein vorhandenen aggressiven Triebausstattung, die sich im Krieg Geltung verschafft, hat einiges für sich.“, schreibt der Autor weiter, hängt aber noch an „Sie verführt aber leicht dazu, dass die vielfältigen Formen, die Aggressivität im Krieg annehmen kann, zu wenig beachtet werden.“ Danach leitet er dann dazu ein, die Aggressivität von Zivilisten und Soldaten zu unterscheiden, da letztere durch das soldatische Training eine spezifische Gestalt erhält. U.a. hat Joachim Bauer in seinem Buch "Schmerzgrenze" dargelegt, dass die Grundannahme, der Mensch verfüge über einen natürlichen „Aggressionstrieb“ (einer natürlichen „Lust an der Gewalt“), ein durch heutige Forschungen belegtes unhaltbares Konzept darstellt. Forschende, die bei der Erklärung von Gewalt auf einen „natürlichen Aggressionstrieb“ zurückgreifen, machen sich außerdem zwangsläufig blind gegenüber anderen Erklärungsmöglichkeiten.

Das Militär leistet durch Ausbildung und technische Entwicklungen, so Vinnai, einen Beitrag dazu, Aggressivität freizusetzen bzw. Aggressionshemmungen abzubauen. (vgl. S 37f) Der Autor geht hier erneut von einer latenten, natürlichen Aggression aus, die entweder durch äußere Einflüsse gedeckelt oder befördert wird. Für mich ist das ganz alte Schule vor allem auch geprägt durch (in meinen Augen veraltete) Ansätze der Psychoanalyse. In diesem Zusammenhang verknüpft er auch Männlichkeit mit Krieg, beschreibt, wie Männlichkeitsvorstellungen und –Konstruktionen die Kriegsbereitschaft fördern. Er schreibt u.a.: „Die militärische Ausbildung verbindet Männlichkeit mit Gewaltbereitschaft. Die starken sexuellen Regungen junger Männer können während der militärischen Ausbildung mit der Bereitschaft zu destruktiven Handlungen verknüpft werden. Junge Männer können mit Hilfe der soldatischen Ausbildung dazu gebracht werden, ihre sexuelle Potenz mit militärischer Kampfbereitschaft zu verschweißen.“ Wieder wird hier etwas natürliches (sexuelle Regungen) ursächlich mit Aggression und nachfolgend Gewalt verknüpft.
Geradezu als haarsträubend empfand ich folgende Textstelle: „Da kein Lebendiger bisher seinen Tod überlebt hat und ihn deshalb aus eigenem Erleben nicht kennt, bleibt der Tod immer eine Art schwarzes Loch, auf das vielerlei projiziert werden kann. (…) Das Unbewusste glaubt nicht an den Tod, was das Bewusstsein dazu drängt, ihn zu verleugnen. Die Unfähigkeit, den eigenen Tod wirklich zu akzeptieren, begünstigt die Zustimmung zu Kriegen und das Heldentum im Kriege. Es fördert eine Einstellung, die insgeheim darauf setzt, dass einem im Krieg - trotz aller Gefahren – nichts passieren kann, dass allenfalls andere ihm zum Opfer fallen.“ (S. 38)
Menschen ziehen also mit Freude in den Krieg, weil sie nicht bewusst wissen und fühlen, dass sie sterben werden? Dem kann ich nur vehement widersprechen. Jedes Kind und jeder Erwachsener weiß, dass im Krieg Menschen sterben. Der bereitwillige Gang in den Krieg ist somit vielmehr Ausdruck eines Opferrituals, ein Ausdruck immer auch von Selbstzerstörung und eines kollektiven Selbstmordens. Aus dem Unterbewussten - das sich zentral aus unerträglichen Erfahrungen und vor allem kindlichen, abgespaltenen Gewalterfahrungen speist – entstammt diese Destruktivität. Das Fühlen ist ausgeschaltet und der Tod wird billigend in Kauf genommen, da die eigene seelische Lage derart unerträglich ist, dass man gerne in den Tod geht und sich dort ein Paradies oder eine Heldenverehrung der noch Lebenden herbeisehnt.
Weitestgehend nachvollziehbar und positiv fand ich schließlich den letzten Teil der Ausführungen im Text, den Vinnai „Krieg ohne Ende“ nennt. Hier geht es um die Fortwirkungen von Kriegstraumatisierungen und die Notwendigkeit von Trauer, damit sich die destruktiven Folgen abmildern. Leider verharrt der Autor auch hier wieder in einseitigen Verknüpfungen, was folgender Satz deutlich macht: „Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind nur vor dem Hintergrund des Ersten wirklich zu verstehen.“ (S. 43) Ja und vor welchem Hintergrund ist dann der erste Weltkrieg zu verstehen?
Insgesamt bringt der Text von Vinnai keine neuen Erkenntnisse. Er vertritt mit seinen Denkansätzen die „Psychologische Kriegstheorie“ in diesem Buch und ist dabei weit davon entfernt, auf die Auswirkungen der historisch routinemäßigen Misshandlung von Kindern einzugehen. Zudem vertritt er veraltete Ansätze zum Aggressionstrieb.

Sehr viel aufschlussreicher ist dagegen der sozialpsychologische Text von Pohl und Roock in dem Band. Sie machen nachvollziehbar klar, wie im Militär eine Sozialisation zum Töten stattfindet und eine paranoide Kampfhaltung generiert wird. Sie schreiben von durch militärischen Drill erzeugten Abspaltungen von Gefühlen wie Hass, Wut und Angst, die dann auf den Feind projiziert werden. Die Autoren gehen auf die Irrationalität des Krieges ein und analysieren diesen als Massenpsychose. Allerdings klammern auch sie kindliche Gewalterfahrungen komplett aus, obwohl die psychischen Prozesse genau die Selben sind, wie in der militärischen Ausbildung. Vielmehr deutet sich im Text an, dass die Autoren eine „psychotische Reaktionsbereitschaft“ auch als etwas quasi „natürliches“ begreifen. Sie schreiben: „Elemente psychotischer Reaktionsbereitschaften gehören zum Kernbestand auch halbwegs normaler Persönlichkeiten, ihrer Wahrnehmungsorganisation und ihres Affekthaushaltes. In Zeiten ausweglos erscheinender Konflikte und zugespitzter innerer und äußerer Krisen kann auf diese Spaltungs- und Projektionsmechanismen zurückgegriffen werden und die Menschen bedienen sich regressiv einer „primitiven“ Weltsicht, die anscheinend nur unzureichend überwunden worden ist.“ (s. 47) Meine These ist dagegen, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen auf Spaltungs- und Projektionsmechanismen zurückgreifen, die ihnen als Kind in Anbetracht vor allem elterlicher Gewalt das Überleben sicherten.

Fazit

Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden und systematischen Zugang zu den Theorien des Krieges.“, steht wie schon gesagt in der Buchbeschreibung. Das „Handbuch Kriegstheorien“ wird mich sicher noch eine Zeit beschäftigen, da mich viele Texte gedanklich anregen. Allerdings trifft die o.g. Beschreibung nicht zu. Das Ausklammern von kindlichen Gewalterfahrungen bzw. psychohistorischen Thesen in einem solchen Grundlagenwerk aus dem Jahr 2011 ist bezeichnend. Fast alle Kriegsursachenforscher, aber auch die Öffentlichkeit an sich sind weiterhin nicht bereit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Um so klarer wird mir, trotz manchmal einer gewissen Müdigkeit, dass mein Blog hier weiterhin wichtig ist, um Anstöße zu leisten. Die Psychohistorie kann nicht alles erklären. Die Welt ist komplex. Die Psychohistorie verdient es aber, genannt und besprochen zu werden. Meine Hoffnung ist, dass in einem Zeitraum von vielleicht 5-10 Jahren kriegstheoretische Handbücher aber auch Medienberichte über Krieg mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf diesen Forschungsbereich eingehen werden.
Nebenbei bemerkt habe ich die Herausgeber des Buches angeschrieben und gefragt, ob sie den Bereich Psychohistorie einfach nicht kennen oder ob sie ihn ablehnen. Für letzteren Fall habe ich um entsprechende Argumentation gebeten. Ersterer Fall wird zumindest nach meinem Anschreiben nicht mehr zutreffen.

Nachtrag: Siehe Ergebnis meines Anschreibens hier

Freitag, 16. Dezember 2011

Emotionale Gruppenprozesse: Feinde und Bedrohungen in Gestalt von Kraken und Meeresbestien









1. Bild: Vietnam Cartoon von Gib Crockett, veröffentlicht im Washington Star am 27.04.1965 während des Vietnam Krieges. Der Kopf des Kraken ist der von Ho Chi Minh.

2. Bild: Veröffentlicht in "Palestinian daily Al Hayat Al Jadida" auf Grund des Todes der Söhne von Saddam Hussein Uday and Qusay, die durch US-Truppen getötet wurden.

3. Bild: John Bull and his Friends - A Serio-Comic Map of Europe (1900)

4. Bild: Der chinesische Kommunismus als Krake. Veröffentlicht im November 1950 im  New Zealand Herald



Die Darstellung von gefährlichen Frauen ist im Zusammenhang von Krieg - so Lloyd deMause - derart häufig, „(…) dass ein Außerirdischer bei einem Besuch auf unserem Planeten fälschlicherweise daraus schließen könnte, das Weibliche wäre das kriegslüsterne Geschlecht. Von Athene bis Freyja, von Marianne bis Britannia sind furchterregende Frauen als Kriegsgöttinnen dargestellt worden, verschlingend, vergewaltigend und ihre Kinder zerfetzend.“ (deMause, 2005, S. 50) Lloyd deMause fand bei seinen Sammlungen von Cartoons und anderen Bildern über Kriegsfeinde heraus, dass ein Bild noch verbreiteter war, als dass von einer gefährlichen Frau/Mutter. „Es war das einer Meeresbestie, oftmals mit vielen Köpfen und Armen dargestellt, ein Drache, eine Hydra, eine große und giftige Schlange oder ein Oktopus, der der Nation drohte, ihr Blut zu vergiften.“ (ebd., S. 54; siehe auch in englisch online hier) Die tieferen Ursprünge für dieses Bild sieht deMause in dem, was er „fötales Drama“ nennt. Wenn die Mutter, raucht, Drogen nimmt, verletzt ist (eigene Anmerkung: Oder auch Gewalt durch den Partner erlebt) oder starke Ängste hat, entfernt die Plazenta die Giftstoffe nicht aus dem fötalen Blut, das folglich verunreinigt und ohne Sauerstoff ist. „Unter diesen stressvollen Bedingungen erlebt der hilflose Fötus eine erstickende Giftige Plazenta, das Urbild für alle späteren Hassbeziehungen, inklusive der mordenden Mutter, des kastrierenden Vaters und der gefährlichen Feinde.“ (ebd., S. 55) Die Darstellungen von Feinden als Meeresbestien und Kraken etc. sind für deMause Ausdruck des fötalen Kampfes gegen die giftige Plazenta.
So ungewohnt solche Überlegungen für viele sein mögen, es ist wahrscheinlich und wissenschaftlich immer mehr im Blickpunkt (deMause beschreibt ab Seite 56 auch Ergebnisse aus der Fötalpsychologie), dass sich entsprechende belastende Faktoren während der Schwangerschaft sowohl auf den Fötus als auch auf das spätere Kind und den Erwachsenen auswirken können. Dass diese frühen Erfahrungen eher im Symbolischen und Bildlichen ihren Ausdruck finden, ist ebenso naheliegend, da sie natürlich nicht konkret erinnert werden können.

Trotzdem teile ich die Auffassung von deMause nur bedingt. Zunächst einmal glaube ich, dass Kinder grundsätzlich in der Lage sind, entsprechende Belastungen im Mutterleib später auszugleichen und sich trotzdem gut entwickeln können. Werden sie liebevoll empfangen und versorgt, werden sie später kaum das Bedürfnis haben, andere Menschen zu opfern und Angstszenarien vor Vergiftungen durch Fremde und Feinde zu entwerfen. Mütter können nicht immer auch dem Fötus ein optimales Aufwachsen ermöglichen, auch wenn sie dies eigentlich wollen. Kriegs- und Gewalterfahrungen kommen von außen, ebenso Umweltgifte, Hunger, Schicksalsschläge oder Unfälle etc. Solche Mütter können dem geborenen Kind trotzdem Liebe und Geborgenheit schenken und seine Entwicklung fördern, wenn sie dem Kind gegenüber positiv eingestellt sind. Handlungen wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft, ggf. auch die Beziehung zu einem misshandelnden Ehemann sprechen dagegen bereits dafür, dass die Mutter entsprechend destruktiv strukturiert ist. Es ist insofern wahrscheinlicher, dass auch das geborene Kind in entsprechend destruktiven Verhältnissen aufwächst. Die späteren Angstbilder kommen dann eben nicht nur auf Grund des „fötalen Dramas“ zu Tage, sondern auch auf Grund realer Gewalt- und/oder Vernachlässigungserfahrungen.
Ein Beispiel: Die Mutter von Saddam Hussein versuchte diesen während der Schwangerschaft abzutreiben und lehnte ihr ungeborenes Kind ab. Der Fötus erlebte entsprechend das „fötale Drama“. Doch auch die Kindheit des geborenen Saddam war von extremer Destruktivität und Gewalt geprägt und das über Jahre (siehe ausführlich hier). Solche Menschen entwickeln ihren Hass auf Feinde und ihre Ängste auf Grund einer Vielzahl von gewaltvollen Erfahrungen, die sich dann auch symbolisch ausdrücken (Stichwort z.B. Saddams bildlicher Ausspruch „Mutter aller Schlachten“). Im Grunde weiß deMause ja auch darum und beschreibt an anderen Stellen immer wieder deutlich den Einfluss kindlicher Gewalterfahrungen auf das spätere Verhalten des Erwachsenen. Doch mir geht es in diesem Text eben besonders um symbolische Angstbilder. Diese beschreibt deMause leider zu einseitig im Zusammenhang mit fötalen Erfahrungen, wie ich finde.

Meine These ist, dass die hier behandelnden Angstbilder vor allem mit der klassischen Kombination „abwesender und wenn anwesend destruktiver und strafender Vater“ auf der einen Seite und einer „anwesenden, das Kind vereinnahmenden, emotional missbrauchenden, vor allem auch die Söhne als Partnerersatz und als Hoffnungsträger/Delegierter für eigene Entbehrungen und geschlechtsspezifische, kulturell determinierte Grenzen der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten gebrauchende , ggf. auch offen gewalttätigen Mutter“ (Nachtrag: Bzgl. Letzterem zeigen Studien, dass Mütter sehr oft auch körperlich gewalttätig gegen Kinder sind) zusammenhängen. Destruktive Väter tragen ihre Gewalt oftmals und „traditionell“ offen aus, brüllen, schlagen, sind abwesend. Destruktive Mütter agieren oftmals und „traditionell“ verdeckter, schleichender, psychologischer, eben wie eine Schlange oder eine Krake, die langsam ihr Opfer umschlingt. Die Bilder von kriegerischen Frauen/Müttern und vor allem die verschlingenden, umschlingenden, vergiftenden Kraken- und Schlangenwesen in Kriegs- und Vorkriegszeiten oder grundsätzlich in Bezug auf Gefahren und Feinde sprechen dafür, dass hier bildlich vor allem der (meist) emotionale mütterliche Missbrauch seinen Ausdruck findet, (gepaart natürlich mit dem abwesenden Vater, der seinen wesentlichen Teil beiträgt) Zu diesen Belastungen mag dann auch das „fötale Drama“ seine ergänzende Wirkung entfalten und so eine kritische Masse bilden. In früheren Zeiten wie auch in der heutigen Zeit waren und sind zudem Karikaturisten meist Männer. Es sind vor allem männliche (Angst)Fantasiebilder, die wir im historischen Rückblick sehen können. Wenn in diesen Bildern verschlingende, gefährliche Frauen und Meeresbestien auftauchen, dann spricht dies einmal mehr dafür, dass eine destruktive, missbrauchende Mutter eine wichtige Rolle bei der Entstehung dieser Bilder spielt.

Ich habe in diesem Blog bereits zwei Beiträge zu solchen möglichen Zusammenhängen geschrieben: „Medusas Söhne“ und „Medusas Kinder in der Antike“. Das Schlangenmoster Medusa, deren Blick zu Stein werden lässt und die in der Psychoanalyse eindeutig als Mutterfigur ausgemacht wurde, sprach früher, wie auch heute noch vor allem Männer an, die wohl in der o.g. Konstellation aufgewachsen sind.

Ein Paradebespiel für entsprechende Angstbilder ist auch Russland, das in der Geschichte häufig als eine gefährliche Krake dargestellt wurde. Russland wird historisch sowohl von sich selbst als auch von anderen Nationen als „Mütterchen Russland“ personifiziert und hat in der Fantasie der Menschen somit eine feste Familienrolle eingenommen. In einem englischen Blog habe ich eine Auflistung einiger solcher Bilder von Russland gefunden, die für sich spricht: http://bigthink.com/ideas/39146?page=all
Aber der gefährliche Krake taucht auch in vielen anderen Kontexten auf. Wenn man im Internet recherchiert, findet man bei entsprechenden Stichwörtern schnell Bilder, die z.B. die Juden/Israel als verschlingende Krake darstellen oder man findet den Iran als Krake, der seine Nachbarn umschlingt. Ebenso findet man Unternehmen wie z.B. Goldman Sachs als Krake dargestellt. Aber auch die EURO-Krise ließ den Kraken wieder auftauchen, er findet sich die Welt umschlingend zusammen mit Euro Zeichen und Griechenlandfahne wieder. Eine arabische Karikatur zeigt den Terrorismus als Krake, der die Welt umschlingt. Usw. usf. Darstellungen von Feinden und Bedrohungen als Krakenmonster findet man letztlich in allen möglichen Kontexten. Eine eindrucksvolle Sammlung von entsprechenden historischen Bildern fand ich hier: http://vulgararmy.com/. (Man kann dort auch nach Jahreszahlen entsprechende Bilder suchen)
Derzeit tauchen gar Schlangen und Kraken in Zusammenhang mit der EURO Krise in der SZ auf. Siehe hier und hier.
Kommentiert wurden beide Karikaturen unter der Rubrik „Nachrichten vom Niedergang der politischen Karikatur“ (hier und hier) von zwei Bloggern, von denen einer u.a. Kinderpsychiater ist. Ja, einen Kinderpsychiater wie wohl auch viele andere Menschen werden solche Bilder heute in Deutschland kaum noch ansprechen. Missbrauch und Gewalt gegen Kinder gehen hierzulande immer mehr zurück. Wahrscheinlich werden auch die Karikaturen von Bestien zukünftig ins Reich der Märchen und Fabeln zurückkehren müssen und kaum noch einen Platz in den modernen Medien finden.

Historisch bleiben die Meeresbestien weiterhin interessant, ebenso aktuell, wenn es um Nationen geht, in denen weiterhin eine große Mehrheit der Kinder missbraucht und misshandelt wird. Die ganzen bekannten psychohistorischen Analysemethoden von Bildern und Cartoons stellen den Teil dieser Forschungen dar, der mich persönlich beim erstmaligen Durchlesen am meisten irritiert hat. Ich war zwar offen für neues, dachte aber im ersten Moment: „Was soll der Quatsch denn jetzt? „ Da werden haufenweise Cartoons und politische Bilder gesammelt und die emotionale Lage der Nation analysiert, teils sogar Zukunftsprognosen daraus abgeleitet. Je mehr ich allerdings dazu gelesen habe und vor allem je mehr ich selbst den Blick offen habe, für emotionale Aussagen von Bildern und Mediendarstellungen und je mehr ich auch historische Bilder angesehen habe, desto mehr bestätigt sich für mich, dass diese Methoden durchaus kein Quatsch sind, sondern Sinn machen. Bzgl. einzelnen Patienten ist es heute durchaus anerkannt, wenn Träume und Bilder therapeutisch analysiert und durchgearbeitet werden, um der Person zu helfen und Prozesse bewusst zu machen. Eine Gesellschaft besteht logischerweise auch aus Menschen, alle haben ihre Emotionen und ihre Psyche. Und natürlich landen auch hier Bilder, Träume und Fantasien auf der gesellschaftlichen Bühne. Dieser Beitrag soll die hier Lesenden mit diesem ganzen „Quatsch“ konfrontieren. Und vielleicht wird der ein oder andere auch zukünftig feststellen, dass ungewohnte Ideen und Methoden manchmal auch neue Erkenntnisse bringen.

Dienstag, 13. Dezember 2011

Der große SPIEGEL Krisenrückblick

Ohne Zweifel müssen Medien auch Geld verdienen, um ihre Existenz zu sichern. „Only bad news are good news.“ heißt es bei JournalistInnen. Sprich Katastrophen, Ängste und schlechte Nachrichten verkaufen sich besser. Dies ist, so man will, das Rationale daran, das ist die Logik der Medienpsychologie. Doch war es das? Ist also alles, was in den Medien passiert und inszeniert wird nur rational? Natürlich nicht. JournalistInnen sind Menschen und bringen immer auch ihre Gefühle und ggf. auch gestörte Emotionen mit ein. Zudem müssen JournalistInnen geradezu Seismographen für die emotionale Lage der Nation sein, denn das, was sie schreiben, soll ja auch begehrlich gelesen werden und die Leute ansprechen.

DER SPIEGEL ist eine der Leitmedien im Lande. DER SPIEGEL macht Meinungen und Emotionen, aber er spielgelt immer auch die Meinungen und Emotionen der Nation wider, greift diese auf, formt sie, leitet sie und gibt sie wieder zurück. Insofern bietet sich dieses Wochenmagazin dafür an, Ende des Jahres 2011 nicht nur einen klassischen Jahresrückblick, sondern gleich einen Rückblick auf die Titelstorys zwischen 2008 und 2011 (den Krisenjahren)zu machen. Wer Lust hat, möge sich einmal die Titelbilder dieser Zeit der Reihenfolge nach anschauen. Alleine dieses Durschauen hinterlässt – so ging es mir – bereits den Eindruck, dass da gewaltige Emotionen ausgedrückt werden, bildlich und sprachlich, und dass neutralere/sachlichere, gar positive Nachrichten die Ausnahme darstellen.

Wenn ich mich diesem Rückblick annähere, dann fällt mir zunächst auf, dass DER SPIEGEL in den letzten zwei Jahren den EURO in seinen Titelbildern hat schmelzen lassen ( 10 / 2010), der Euro wurde zerschossen (49 / 2010), er wurde zu Grabe getragen (25 / 2011), mit Dynamit und Zeitzünder versehen, um ihn in die Luft zu sprengen (39 /2011) und kürzlich noch in zwei Teile zerbrochen (48 / 2011). Schaut man sich nur die Bilder an, dann könnte man glatt zu dem Schluss kommen, dass ein Scheitern der Währung geradezu herbeigesehnt wurde, quasi als selbstzerstörerischer Akt. Dazu kommt, dass in den 206 SPIEGEL Ausgaben seit Anfang 2008 bis zum 10.12.2011 24 mal die Wirschafts- und Finanzkrise Titelthema war, was einem Anteil von ca. 11,6 % ausmacht. Wohlgemerkt, das waren nur die Titelthemen, auch in den anderen Ausgaben war „die Krise“ stets Thema, teils auch mit in den Titel integriert (z.B. Ausgabe 45 /2011, die sich im Titel mit Friedrich dem Großen befasste, aber unten rechts stand in blau/weißer Schrift „Euro-Krise. Italien, das nächste Griechenland?“)

Auffällig bei den Krisen-Titeln ist, dass hier nicht nur die „bad news“ überwiegen, sondern diese oftmals auch sehr emotional sind, mit Angst untermauert werden oder teils mit Gewaltbildern (z.B. Kopfschuss, Bomben, Dynamit, Einschusslöcher), daherkommen . Hier die Liste der entsprechenden Titel:

05 / 2008 Casino Global. Was ist der Einbruch in eine Bank gegen das Verspielen einer Bank?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-05

24 / 2008 Angriff auf den Wohlstand. Wie Spekulanten das Leben immer teurer machen
Bild Anmerkung: Eine Familie mit zwei Kindern steht zwischen den Beinen eines riesigen Geschäftsmannes, das Wort „Angriff“ nimmt fast 1/3 des Titelbildes ein.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-24

41 / 2008 Angst vor der Angst. Die gefährliche Psychologie der Finanzkrise
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-41

42 / 2008 Not! Halt! Wer stoppt den freien Fall des freien Marktes?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-42

43 /2008 Das Ende der Gemütlichkeit. Was auf die Deutschen (noch) zukommt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-43

47 / 2008 Das Kapital-Verbrechen. Anatomie einer Weltkrise, die gerade erst begonnen hat
Bild Anmerkung: Zu sehen ist eine Dollarnote mit Kopfschuss
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-47

05 /2009 Wann ist der Staat eigentlich pleite? Konjunkturpakete, Staatsbürgschaften, Abwrackprämien, Rettungsfonds...
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-05

11 / 2009 Der Jahrhundert-Fehler. Wie die Pleite einer einzigen Bank die Weltkrise auslöste
Bild Anmerkung: Zu sehen ist eine Bank als Streichholschachtel. Das erste Zündholz ist bereits entzündet und droht den Rest abzubrennen.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-11

14 /2009 Rette, wer kann! Wie der Untergang der Weltwirtschaft verhindert werden soll
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-14

18 / 2009 Wiederholt sich die Geschichte doch? Weltkrisen 1929/2009
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-18

29 / 2009 Die gefährlichste Firma der Welt. Wie ein Versicherungskonzern zum größten Risiko für die Weltwirtschaft wurde
Bild Anmerkung: In einer Metropole ist der entsprechende Konzern als große Dynamitstange zu sehen, die Lunte brennt bereits.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-29

38 / 2009 Ein Jahr danach. Warum die Welt durch die Finanzkrise ärmer, aber nicht klüger wurde
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-38

48 / 2009 Die Billionen-Bombe. Warum nach der Jahrhundertkrise schon die nächste droht
Bild Anmerkung: Eine Geldbombe explodiert.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-48

05 /2010 Die Abrechnung. Finanzkrise: Jagd auf die Kapital-Verbrecher
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-05

10 / 2010 DIE EURO-LÜGE
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-10

18 / 2010 Euroland, abgebrannt. Ein Kontinent auf dem Weg in die Pleite
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-18

19 / 2010 Die Schulden Falle. Wie viel Griechenland können wir uns noch leisten?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-19

44 / 2010 Die verzweifelten Staaten von Amerika. Eine Nation verliert ihren Optimismus
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-44

49 /2010 DAS LETZTE GEFECHT. Wie Europa seine Währung ruiniert http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-49

25 / 2011 Plötzlich und erwartet. Nachruf auf eine gemeinsame Währung
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-25

32 / 2011 Geht die Welt bankrott? US-Verschuldung, Euro-Krise, Börsenchaos
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-32

34 / 2011 Gelduntergang. Die zerstörerische Macht der Finanzmärkte
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-34

39 / 2011 DIE GELDBOMBE. Wie aus einer großen Idee eine Gefahr für Europa werden konnte
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-39

48 / 2011 Und jetzt?
Bild Anmerkungen: Zu sehen ist ein zerbrochener Euro
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-48


Zwischen diesen Krisennachrichten tauchten in bestimmten Abständen Titelthemen auf, die mit Ängsten vor und um Kinder und Jugendlichen zu tun haben. Dies ist interessant, wenn man sich etwas mit den psychohistorischen Thesen von deMause befasst hat.

02 / 2008 Junge Männer: Die gefährlichste Spezies der Welt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-02

09 / 2008 Wie viel Mutter braucht das Kind? Krippe oder Kinderzimmer
Bild Anmerkung: Im Titelbild hält ein übergroßes Kleinkind seine Miniaturmutter fest im Griff. Das Wort „Mutter“ ist rot abgedruckt, um es hervorzuheben.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-09

22 / 2008 Tausendmal probiert... und nie ist was passiert. Das Geschäft mit der Sehnsucht nach dem Kind
Bild Anmerkung: Zu sehen ist ein übergroßes Baby, die zwei wesentlich kleineren, nackten Eltern sind getrennt jeweils links unten und rechts oben im Bild, wenden sich den Rücken zu und schauen deprimiert zu Boden.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-22

12 / 2009 Wenn Kinder zu Killern werden. Der Amoklauf des Tim K.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-12

15 / 2009 Das starke Ich. Wie Kindern das Leben gelingt
Bild Anmerkung: Ein Kind schultert einen gigantischen Baum, dessen Wurzel/stamm eine Hand bildet
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-15

25 / 2009 Wir Krisenkinder. Wie junge Deutsche Ihre Zukunft sehen
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-25

32 / 2009 Die große Sorge um die lieben Kleinen. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit in der Erziehung
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-32

15 / 2010 Hilfe! Pubertät! Ein kleiner Ratgeber zum Großwerden
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-15

18 /2011 Mordswut. Die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-18

42 / 2011 Das überförderte Kind. Wie viel Ehrgeiz verträgt gute Erziehung?
Bild Anmerkung: Zu sehen ist ein unter der Last der Anforderungen zusammengebrochenes Kind
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-42


Mir sind in anderen Titeln weitere starke Emotionen aufgefallen, die ich hier nicht weiter zusammenfassen und alle besprechen kann. Ausschnittweise möchte ich auf Titel wie z.B. 26 / 2008 „Fünfzig Jahre Emanzipation. Was vom Mann noch übrig ist“ hinweisen. Zu sehen ist dort ein kleiner nackter Mann. Die Angst vor dem Verlust der Männlichkeit und Identität (auf Grund des Fortschritts der Emanzipation) ist hier offensichtlich. Andere Titel wie 23 / 2011 „Der Feind im Essen. Ehec: Die Geburt einer neuen Seuche“ habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen. Dazu kommen z.B. Titel die eine große Giftschlange enthalten (17 / 2009) und Ängste vor einem Welt-Virus (19 / 2009). Zwischendrin habe ich acht mal Titel gezählt, die die NS Zeit besprechen, oftmals mit dem Abbild von Adolf Hitler. Hier tauchen quasi die kollektiven Erinnerungen an dieses Trauma immer wieder auf bzw. werden wieder durchgearbeitet (was ja nicht schlecht sein muss).

Ich habe zusätzlich der Reihenfolge nach Titel-Stichwörter, die starke Emotionen ausdrücken, die mit Krieg und Kampf und Familie und Kindern/Jugendlichen zu tun haben herausgesucht. Ein Schrägstrich trennt dabei jeweils eine Wochenausgabe von der anderen. Zwischendrin waren auch manchmal 3 oder 4 Ausgaben hintereinander dabei, die keine „Kraftwörter“ enthielten, manchmal folgten diese Wörter aber auch jeweils einige Wochen hintereinander weg. Hier das Ergebnis:

ALARMSTUFE, Kampf, Attentat, Bombe / Junge Männer, gefährlichste / Anfang vom Untergang / Der Messias, Sehnsucht / Steuersünder, Staatsfeind / Mutter, Kind, Krippe, Kinderzimmer / Täter, Mörder / mörderische / Reformchaos / Das Böse, monströse Doppelleben / Kind / unheimliche / Angriff / Krieg, gefährlichste / unheimliche / Gier und Größenwahn / Angst / gefährliche Nachbar / Krieger, schlagen / Schmerz, Seele / Todeskommando, zerstört / Angst vor der Angst / freien Fall / Ende / Krieger / Vollstrecker, Massenmörder / Verbrechen, Weltkrise / Stress / mutlos, gefährliche, Wirtschaftskrise / Geburt / Urvater / Ende / Geheimnis / Pleite, Weltkrise / Kinder, Killer / lebensgefährlichen / Untergang / Kindern / Verräter / Risiko / gefährlich, Weltvirus / Gier / Judenmord / Tod / geplünderte / Krisenkinder / Rebellion / Einsam, Tragödie / Weltkrieg / gefährlichste , Risiko / Psychogramm, Familien / Ohnmacht, Risiko / große Sorge, Kleinen, Erziehung / Orgie / Krieg / "Gestern wollte ich wieder sterben" / Finanzkrise / Wer erlöst / „Die Angst vor dem Leben“ / Billionen-Bombe, Jahrhundertkrise / töten, Krieg / „Hurra, wir leben noch...“ / „Ein Land stirbt“ / Friedhof / Finanzkrise, Verbrecher/ Triumph der Sünde, Wollust, Habgier/ Schuld / Lüge / deutsche Familie / Krieg, Kampf / Krieg, Töten, Sterben / verführt / abgebrannt, Pleite / Falle / Schutt und Schuld / "Der Druck ist gnadenlos" / Krieg / Katastrophe, tödliche / Kampf / Bürgeraufstand / „Ich wünschte, ich wäre tot" / „Macht der Angst“ / 100.000 Tote / verzweifelten Staaten / Gefecht / Kampf, Streit, Krieg / Rächer, Killer / „DAS ÜBERFORDERTE ICH“ / zerbrechliche Traum, Kampf / Risiko / Eltern, Kinder / Wahnsinn / Mordswut, Jugendgewalt / Feind, Geburt, Seuche / Bruder Todfeind / Familie / Niedergang / Burnout /

Alles in Allem zeigt sich auf den ersten, wie auch auf den zweiten und dritten Blick, dass DER SPIEGEL die hohe Kunst der Medienpsychologie sehr gut beherrscht. Die Titel sprechen die Emotionen der Menschen an, dies beschert dem SPIEGEL sicherlich entsprechend Stammleser. Neben diesem rationalen Handeln transportiert der SPIEGEL aber auch Ängste und andere Emotionen bzw. drückt die emotionale Lage der Nation aus. Er spiegelt Realität ab, aber er erzeugt auch wiederum Realitäten. Ich frage mich, ob es wirklich rational ist, wenn ein solch einflussreiches Blatt derartige Angstbilder dauerhaft verbreitet?

Freitag, 9. Dezember 2011

Kindheit von Sophie Scholl

Sophie Scholl wuchs die ersten Lebensjahre in Forchtenberg (Württemberg) auf. Ihr Vater, Robert Scholl, war dort Bürgermeister und hatte den Ehrgeiz, den Ort weiterzuentwickeln und zu verändern. Er hatte dabei sehr liberale und fortschrittliche Vorstellungen, was den Bewohnern (vor allem den Bauern und Handwerkern) nicht immer Recht war und ihm teils Feinde machte, später im Jahr 1930 sollte u.a. dies zu seiner Abwahl führen. Leisner (2000) berichtet, dass der Vater die Haushaltsführung und Kindererziehung ganz und gar seiner tüchtigen Frau überließ. (S. 18) Er steckte seine ganze Kraft in sein Amt. Die Familie wohnte allerdings gleich neben den Amtsräumen des Vaters. Insofern war er wohl auf eine Art auch greifbar, auch wenn berichtet wird, dass er manches mal unwirsch war, wenn seine Kinder zu laut in der Wohnung oder im Treppenhaus herumtobten und er Ruhe für seine Arbeit brauchte. (ebd., S. 25) Während dieser Zeit als Bürgermeister war der Vater selten aufgeschlossen und fröhlich. Die Sorgen um den Ort und die Arbeit nahmen ihn voll in Anspruch.

Vinke (1997) gibt die Gespräche mit der Schwester Inge Aicher-Scholl wieder. Über den Vater heißt es: „Er war eine beeindruckende Erscheinung (…), eine natürliche Autorität, die von den Kindern geachtet wurde. Auch wenn es gelegentlich wie in jeder Familie Tränen gab, war er alles andere als ein Tyrann. Die Kinder durften ihre eigenen Wege gehen. Zusammen mit seiner Frau (..) verstand er es, ihnen in einer von Arbeitslosigkeit, Inflation und politischer Gewalt gekennzeichneten Zeit eine Insel der Geborgenheit zu schaffen.“ (Vinke, 1997, S. 16) Im ersten Weltkrieg gehörte der Vater zu den wenigen Pazifisten, die die allgemeine Kriegsbegeisterung im kaiserlichen Deutschland nicht mitmachten. Da er den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnte, musste er für das Rote Kreuz verwundete Soldaten betreuen. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Magdalene kennen, die Krankenschwester war und sich mit Leib und Seele um Kranke und Schwache kümmerte. Sophies Mutter übertrug diese Leidenschaft auch in die Zeit als Frau des Bürgermeisters und kümmerte sich wiederum um Kranke und sozial Schwache in ihrem Ort. Inge über die Mutter: „Was uns Kinder angeht, so interessierte sie sich für alles, was uns berührte und was wir erlebten. Sie lebte total mit uns.“ (ebd., S. 18)
Im Januar 1926 erlebte die Familie einen Schicksalsschlag. Thilde, die im März 1925 geboren worden war und vor allem von ihren Schwestern sehr geliebt wurde, verstarb auf Grund einer Erkrankung. (vgl. Leisner, 2000, S. 20) Wie die Familie mit dieser Tragödie umging, erfährt man in den Quellen nicht.

Die Familie zog nach der Abwahl des Vaters für zwei Jahre nach Ludwigsburg, danach weiter nach Ulm, der Vater betätigte sich fortan als Steuer- und Wirtschafsberater, reich wurde er aber nicht, sondern hatte ein einfaches Auskommen.
Inge über den Freiraum der Kinder: „Freundinnen oder Nachbarskinder zum Geburtstag einzuladen oder einfach mitzubringen , war kein Problem. Nie sagte meine Mutter: „Aber heute möchte ich hier niemanden sehen, ich habe gerade geputzt.“ Die anderen Mädchen kamen einfach mit. Meistens gab es auch für sie etwas zu essen, und manchmal durften sie sogar über Nacht bleiben.“ (Vinke, 1997, S. 21) Bücher spielten in der Familie Scholl eine große Rolle und zwar seit frühster Kindheit an. Im Elternhaus lernten die Kinder auch zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung waren.
Alle Kinder der Scholls werden zudem als sensibel und phantasievoll beschrieben. (vgl. Leisner, 2000, S. 21) Doch vor allem Sophie zeigte sehr früh Mitgefühl und Gerechtigkeitsliebe, was an einigen Beispielen in den Quellen veranschaulicht wird.
Auch politische Diskussionen zwischen dem Vater und vor allem seinem älteren Sohn Hans gehörten zum Familienalltag. (ebd. S. 41f) Der Vater vertrat weiterhin seine liberalen Ansichten und den Parlamentarismus und warnte davor, dass es Krieg geben würde, wenn Adolf Hitler an die Macht käme. Hans verteidigte dagegen immer öfter die Nationalsozialisten, für die er entgegen seiner späteren Entwicklung vorerst sehr schwärmte, gegen seinen Vater. Alle Scholl Kinder, besonders aber die beiden älteren Inge und Hans, waren von der Nazi-Bewegung zunächst begeistert. Sie wollten in die Hitlerjugend, was der Vater strikt ablehnte. Beide Scholl- Eltern hatten entgegen den üblichen Erziehungsmethoden der Zeit Schläge gegen ihre Kinder abgelehnt. Doch gegenüber Inge hatte sich der Vater diesmal so sehr erregt, dass er sie ohrfeigte. Er verbot ihr, in die Hitlerjugend einzutreten. (ebd., S. 52f) Die Mutter sorgte schließlich für Ausgleich und überredete ihren Mann, den beiden ihren Willen und sie ihren Weg gehen zu lassen. Der Vater gab nach. Zum 01.05.1933 traten Inge und Hans in die Hitlerjugend ein, Hans engagierte sich stark und stieg später innerhalb der Organisation stetig auf. Im Januar 1934 trat auch die knapp dreizehnjährige Sophie in die „Jungmädelschaft“ ein und fühlte sich dort ebenfalls sehr wohl. Die Geschwister Scholl waren zunächst „ganz normale Deutsche“ und verehrten die Nazis.

Der große Parteitag in Nürnberg 1936, an dem Hans teilnahm, war wohl der Beginn eines Wandels. Hans kam völlig verändert, müde, deprimiert und verschlossen zurück. (vgl. Vinke, 1997, S. 46) „Er sagte nichts, aber jeder spürte, dass irgendetwas passiert sein musste zwischen ihm und der Hitlerjugend. Nach und nach erfuhren wir auch was. Der unsinnige Drill, die vormilitärischen Aufmärsche, das dumme Geschwätz, die ordinären Witze – das alles hatte ihn vollkommen fertig gemacht. Von morgens bis abends antreten, immer wieder reden, und dann diese aufgesetzte, künstliche Begeisterung. (…) Was in Nürnberg passiert war, irritierte Sophie wie uns alle. Nürnberg – das war noch nicht der Bruch, wohl aber der erste Riss, der uns von dieser Welt der Hitlerjugend und des BDM trennte.“ (ebd.) Nach Nürnberg legte sich auch der Streit zwischen Hans und seinem Vater. Für Hans gewann eine andere Jugendorganisation immer mehr an Bedeutung: die „Deutsche Jugendschaft vom 1.11“. Anfang 1933 wurde diese Organisation verboten. Gerade nach diesem Verbot entwickelte sich in Ulm um Hans Scholl eine „d.j.1.11“ Gruppe. Im Herbst 1937 wurden auf Grund dieser Aktivitäten die Geschwister Inge, Sophie, Hans und Werner von der Gestapo verhaftet und für kurze Zeit inhaftiert. Spätestens seit der Verhaftung gehörte der Streit zwischen Sohn und Vater endgültig der Vergangenheit an. Die weiteren Entwicklungen zu beschreiben, die zum Widerstand führten, würden hier den Rahmen sprengen.

Für mich steht fest, dass die vorangegangene nicht autoritäre, freiheitliche Erziehung und der liberale Geist der Eltern und dabei besonders der des Vaters das Fundament für den Bruch mit den Nazis legten. Es ist kein Zufall, dass gerade die Geschwister Scholl den uns bekannten, eindrucksvollen Widerstand gegen das NS-Regime mit organisiert hatten. Sie durften im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Kindern von klein auf frei denken, ihre Meinung sagen, erlebten Geborgenheit und keine Schläge (außer ausnahmsweise innerhalb des o.g. Konfliktes). Die Geschichte der Geschwister Scholl ist auch ein Lehrstück dafür, dass Fürsorge und Gewaltlosigkeit in der Erziehung Empathie und eigenständiges Denken grundsätzlich fördert.
Der Geschwister Scholl Preis wurde übrigens 2001 an Arno Gruen für sein Buch „Der Fremde in uns“ verliehen, in dem er vor allem die destruktive Erziehung von Kindern für die Entstehung von Gewalt und Fremdenhass ausmacht. In seiner Dankesrede sagte Gruen u.a.: „Für mich waren Sophie und Hans Scholl und ihr Freundeskreis immer außergewöhnliche Beispiele für Menschen, die aus ihrem Herzen heraus das Menschsein zum Kern ihres Seins machten. Ihr grundsätzliches Vertrauen zum Menschsein entsprang nicht ideologischen Ursachen, sondern kam aus tieferen Quellen ihres Mitgefühls sowie ihres Gefühls für Gerechtigkeit und Würde.“


Verwendete Quellen:

Leisner, B. 2000: „Ich würde es genauso wieder mach.„ Sophie Scholl. List Taschenbuch Verlag, München.

Vinke, H. 1997: Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburger Taschenbuchverlag,

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Kindheit von Reinhard Mey

Hinweis: Reinhard Mey ist in der Vergangenheit juristisch gegen Fanseiten vorgegangen, die zu viel über sein Privatleben berichtet haben. Ich berufe mich hier auf das Recht (Urheberrecht § 51), aus Büchern im Rahmen des gesetzlich Erlaubten frei zitieren zu dürfen. Mey berichtet in seiner Biografie frei und für alle zugänglich über seine Kindheit. Insofern kann ich mir kaum vorstellen, dass dieser Beitrag seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Sollte der Beitrag für Herrn Mey oder seine Plattenfirma/Anwälte dennoch ein Problem darstellen, bin ich gerne bereit, ihn zu kürzen oder schlimmstenfalls zu löschen.

-------------------------------------------------------------

Die Lieder von Reinhard Mey habe ich persönlich erst vor ca. zwei Jahren für mich entdeckt und habe bis heute leider immer noch viel zu wenig von diesem Liedermacher gehört (vielleicht 15-20 Lieder). Besonders anrührend und interessant fand ich folgende vier Lieder: Zeugnistag, Keine ruhige Minute, Aller guten Dinge sind drei, Nein, meine Söhne geb' ich nicht!

Um wirklich zu verstehen, was ich in diesem Beitrag meine, sollte man die Songtexte nachlesen oder die Lieder hören. Alle vier Lieder handeln im Kern von der bedingungslosen Liebe von Eltern zu ihren Kindern (trotz aller Höhen und Tiefen). Letzteres Lied ist zudem ein deutliches, sehr gelungenes Antikriegslied, das an den Wurzeln ansetzt. Denn all zu oft in der Geschichte haben Eltern ihre Kinder für den Krieg gebrauchsfähig gemacht und sie mit Stolz in den Tod geschickt. Reinhard Mey singt dagegen von einer Erziehung, die Achtung, Liebe, Erbarmen und Vergebung als höchste Werte ansieht, die Ungehorsam und Eigenständigkeit lehrt und die absolut unvereinbar mit dem Krieg ist. Er singt von dem Wahn des Krieges und davon, dass er um keinen Preis der Welt seine Söhne für den Krieg hergeben, sondern eher mit ihnen fliehen würde.

Als ich diese Lieder hörte fragte ich mich, wie denn wohl die Kindheit von Reinhard Mey ausgesehen hat. Für mich lag sogleich die Vermutung nahe, dass es eine sehr liebevolle und respektvolle Kindheit gewesen sein muss, seine Texte sprechen da eine deutliche Sprache, denn auch geliebte Kinder führen ihre Kindheit auf der gesellschaftlichen Bühne wieder auf. Vor allem bei dem Lied „Zeugnistag“ fragte ich mich, ob der Liedermacher da nicht evtl. von den eigenen Eltern berichtet.
Ich wusste, dass es eine Biografie von Mey gibt, ich ging aber nicht davon aus, dass seine Kindheit einen großen Raum einnehmen würde, da wohl eher der Lebensweg des Musikers von Interesse ist, so dachte ich. Ich überlegte sogar, ob ich Mey nicht anschreiben sollte, falls ich nichts Weiteres finden sollte, um ihn nach einigen kurzen Gegebenheiten zu seiner Kindheit zu befragen. Ein abwegiger, absurder Gedanke, natürlich. Warum sollte dieser Mensch einem wildfremden Menschen etwas über seine Kindheit berichten, nur weil dieser “hobbymäßig“ dazu forscht?

Um so erstaunter und erfreuter war ich, als ich in seiner Biografie „Was ich noch zu sagen hätte“ (2005) mit Bernd Schroeder (erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag) ausführliche Berichte über seine Kindheit fand. Ich hörte mich ein lautes „Jaa“ rufen, als Mey auf die Frage von Bernd Schroeder, ob das Lied „Zeugnistag“ autobiographisch sei und er Eltern hatte, die aus diesem Holz geschnitzt waren, antwortete: „Ja, die waren so.“ Mein Hobbyforscher Herz fühlte sich einfach bestätigt!

Reinhard Mey wurde Ende 1942 in Berlin geboren und erlebte somit das Kriegs- und Nachkriegsdeutschland mit. Armut und Not erlebte er als Kleinkind, ebenso die Abwesenheit des Vaters, der erst 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam. Seine ältere Schwester lernte er ebenfalls erst 1946 kennen, sie war 1943 evakuiert worden und kam bei Verwandten unter. Insofern war er ein Kind wie so viele um diese Zeit. Aber eines war anders, die Art und Weise der Erziehung und Zuwendung. Reinhard wuchs bis zur Rückkehr des Vaters rein unter der liebevollen Obhut dreier Frauen auf: Seiner Mutter, Oma und seiner Tante Illi. Diese wollten ihm trotz aller Not unbedingt eine glückliche Kindheit bieten.
Diese drei Frauen waren ein Dreigestirn, das mich mit Liebe überschütte und mir die Gewissheit gegeben hat, geliebt zu werden, was unermesslich wichtig für eine Kindheit ist. Materiell gab es natürlich nichts, und ich war wie alle kleinen Jungen abgemagert und halb am Verhungern. Die drei hatten die Priorität, wie kriegen wir den Kleinen über die Zeit. Sie haben alles versucht, es mir schön zu machen und mir viel Zuwendung gegeben, haben mich in allem gefördert.“ (S. 13) Die Oma („eine wunderbare, liebevolle Frau“) war seine „heimliche Komplizin“, gab es mal Ärger mit Mutter oder Tante wusste die Rat und bog alles wieder gerade. Tante Illi war „eine begnadete Kinderversteherin, ein Bezugspunkt, den sogar unsere Kinder noch sehr geliebt haben.“ (S. 16) Seine Mutter beschreibt Mey als künstlerisch begabt, intelligent, diplomatisch, liebenswürdig, aufmüpfig und als sehr emanzipiert. (Sie hat zeitlebens mehr Geld verdient, als der Vater)
Über den Vater war ihm während dessen Abwesenheit immer viel erzählt worden, insofern empfand er ihn nicht als so fremd, als dieser heimkehrte. Über die Ehe der beiden Eltern und über seine Kindheit sagt Mey:
Meine Eltern haben mir eine sehr gleichberechtigte Partnerschaft vorgelebt. Mein Vater hat sogar Haushaltsarbeiten übernommen, was damals in anderen Familien noch undenkbar war. Jeder hat bei uns dort angepackt, wo Not am Mann war. In jeder Hinsicht gleichberechtigt, ganz egal wie alt man war, ob Mann oder Frau. Das hat mich ganz sicher sehr geprägt. Die Erziehung durch diese drei Frauen und meinen Vater, der überhaupt kein Macho war, haben positiven Einfluss auf mich gehabt. Ich hatte wirklich eine glückliche Kindheit.“ (S. 17+18) Seiner Mutter widmete Mey das liebevolle Lied „Das Foto vor mir auf dem Tisch“. Schroeder fragt darauf: „War denn an diesen Eltern nie zu zweifeln?“ Antwort: „Nein, nie. Ich sage mir jeden Morgen, dass ich dankbar bin, dass sie mich so frei haben aufwachsen lassen, mit einer unglaublichen Toleranz. Mein Vater war auch völlig damit einverstanden, wie die drei Frauen mich erzogen haben. (…) als er wieder da war, ging meine Erziehung ganz genauso weiter.“ (S. 21f) Über seine Eltern berichtet Mey weiter, dass sie immer zärtlich miteinander umgegangen sind, mit großem Respekt und Liebe, bis zum Tod des Vaters gingen sie Hand in Hand zum Kaufmannsladen.

Über seine eigene Rolle als Vater berichtet Mey:
„Ja, man lernt es. Man lernt es sicher schon durch das Elternhaus. Ich glaube, ich hatte das alles gelernt, ohne es zu wissen, aus dem Vorbild, das meine Eltern gegeben haben. Ich habe eben sehr viel Zuwendung und Geduld geschenkt gekriegt, als ich klein war. Das ist mir alles nicht so klar gewesen, aber im Unterbewusstsein hatte sich dieser Schatz bestimmt angehäuft, deswegen ahnte ich oder wusste ich, wie man es machen muss. Im Grunde genommen musst du alle Fehler machen, aber solange du mit Liebe und mit Zärtlichkeit und Geduld dabei bist, macht das gar nichts. Die Liebe und die Zuwendung wetzen alle diese Scharten wieder aus.“ (S. 158)

Reinhard Mey gab ganz offensichtlich die gleiche Liebe und Fürsorge an seine Kinder weiter, die er selbst erlebt hatte. Auch seine ganzen Texte legen Zeugnis davon ab, das Mey lebensbejahend und liebevoll in die Welt geführt wurde (Trotz aller Schrecklichkeiten und der Not der Kriegs- und Nachkriegsjahre). Menschen wie Reinhard Mey sind automatisch aus einem tiefen inneren Gefühl heraus gegen Krieg und Gewalt, wirken konstruktiv und nicht selbst- oder fremdzerstörerisch, weil sie es selbst so erlebt haben. Wie sagte noch Astrid Lindgren in ihrer Rede „Niemals Gewalt!“? „Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang.“ Menschen bzw. die Kindheit von Reinhard Mey beweisen, dass diese Welt durch Liebe gegenüber Kindern gesichert werden und sich in eine aussichtsreiche, hoffnungsvolle Zukunft entwickeln kann.

Freitag, 2. Dezember 2011

Kindheit von Rosa Luxemburg

Ich bin sicher kein guter Kenner oder gar Bewunderer von Rosa Luxemburg. Ich weiß über sie, dass sie gegen den ersten Weltkrieg war, sich dagegen aktiv engagierte, dass sie sehr intelligent und redegewandt war, dass sie sich gegen Autoritäten auflehnte und sich als Frau für damalige Verhältnisse sehr viele Freiheiten nahm. Dazu kommt ihr politisches Engagement, das ich hier nicht weiter ausführen und beurteilen will. Augenscheinlich war diese Frau anders und sehr außergewöhnlich für ihre Zeit. Vor allem war sie von Anfang an nicht bereit, sich bzgl. der Kriegslust der Deutschen verblenden zu lassen. Dies macht mich neugierig auf ihre Biographie und Kindheit, wofür ich das Buch „Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem.“ von Annelies Laschitza (2010) durchgesehen habe.

Rosa Luxemburg war die Jüngste von fünf Kindern. Rosas Vater war Kaufmann und gehörte zur jüdischen Intelligenz seines Wohnortes. Er unterstützte alle möglichen Kultur- und Bildungsbestrebungen. Rosas Mutter brachte all diesen Betätigungen vollstes Verständnis entgegen, „so dass der ganze Ton des Hauses in kultureller Beziehung auf sehr hoher Stufe stand.“ (S. 18) Sie wird als sanfter, milder Charakter beschrieben „und aus dem Munde dieser geliebten Mutter vernahm die aufnahmefähige kleine Rosa die ersten Märchen und Fabeln.“ (ebd.) Die Mutter scheint sich voll auf ihre traditionelle Rolle als Mutter und Ehefrau eingelassen zu haben.

Rose Luxemburg wuchs in einem behaglichen Familienkreis auf, in dem vorwiegend polnisch gesprochen wurde und großes Interesse an anderen Sprachen, Religionen und Kulturen geweckt und gefördert wurde. (…) Trotz strenger Zensur besorgte der freisinnige Vater, die Respektsperson der Familie, insgeheim ausländische Zeitungen, die gelesen und besprochen wurden. Jedes Kind konnte seinen Neigungen nachgehen und sich nach Herzenslust ausleben.“ ( S. 25)
Als Nesthäkchen wurde Rosa von ihren Geschwistern verwöhnt, besonders auch in der Zeit, als sie im Alter von fünf Jahren krankheitsbedingt fast ein Jahr im Bett oder Zimmer verbringen musste. In dieser Zeit lernte das aufgeweckte Kind auch lesen und schreiben. Nach einer Erkrankung des Vaters ging es der Familie finanziell allerdings schlecht. Ein Jugendfreund Rosas berichtete, dass sie Familie Mangel zu leiden hatte (allerdings ohne zu verbittern, wie er sagte), nicht selten wurde sogar das Bett zum Wucherer gegeben. „Ich erinnere mich, wie Rosa erzählte, sie hätte einst mit einem Papierfetzen die Lampe angezündet, später jedoch erwies sich, dass es das letzte Geld im Hause gewesen war, das der Vater mit Mühe erworben hatte; der Alte bestrafte seine Tochter nicht, sondern tröstete sie, nachdem er sich von dem ersten Eindruck erholt hatte, mit Scherzen über das teure Streichhölzchen.“ (S. 20)
Über Rosas Kindheit existieren nur wenig Daten. Diese Szene beschreibt allerdings einen für damalige Verhältnisse absolut ungewöhnlichen Vater. Die Tochter verbrennt das letzte Geld, sie ist ein Kind und wusste es halt nicht besser. Der Vater versteht dies und tröstet sie, statt sie auszuschimpfen oder zu bestrafen. In solchen Szenen zeigt sich, ob Eltern destruktiv oder liebevoll sind. Rosas Vater war offensichtlich ein liebevoller Vater.

Mit zehn Jahren gab es allerdings einen Bruch in Rosas Leben. Weihnachten 1881 erlebte sie ein Pogrom gegen Juden mit. Viele Juden wurden verletzt, gedemütigt, manche getötet. Ein wütender Mob zog auch durch die Straße, in der Rosa und ihre Familie wohnte. Diese schrecklichen Erlebnisse vergrub Rosa tief in sich und nahm sich in der Folge vor, sich für ein menschliches Leben einzusetzen, in dem solche Gewaltexzesse unmöglich sein sollten. (vgl. S. 33)

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Homophobie und Hass in Uganda

Im aktuellen Amnesty Journal wird unter dem Titel „Der Hass auf die Liebe“ über Homophobie in Uganda berichtet. Wenn man A weiß, dass in Uganda Gewalt gegen Kinder extrem weit verbreitet ist und B sich etwas mit den möglichen Folgen der Gewalt gegen Kinder auskennt, ergibt dieser Artikel weit aus mehr Informationen, als oberflächlich in ihm stehen. In Uganda wurde in der vergangenen Legislaturperiode durch einen Abgeordneten der Regierungspartei ein Gesetzentwurf eingebracht, der unter bestimmten Voraussetzungen die Todesstrafe für Homosexuelle vorsieht. Dieser Entwurf wurde bisher nicht verabschiedet, wohl auch auf Druck der internationalen Gemeinschaft.

Der Hass auf Homosexuelle scheint in diesem Land (wie in vielen afrikanischen Ländern) sehr weit verbreitet zu sein. Die ugandische Boulevardzeitung „Rolling Stone“ hatte groß getitelt – so Amnesty – „100 Fotos von Ugandas Top Homos“. Dazu auf der Titelseite die Überschrift „Hängt sie“ und ein großes Foto von David Kato, der vier Monate nach dieser Zeitungsausgabe erschlagen worden ist. Der Chefredakteur der Zeitung dazu: „Zwischen unserer Kampagne und dem Tod David Katos besteht kein Zusammenhang. Wir haben schließlich dazu aufgerufen, dass die Homos gehängt werden, doch Kato wurde mit einem Hammer erschlagen.

Der Chefredakteur Muhame weiter: „Die Homosexualität ist die Mutter der Korruption und das Sprungbrett der Kriminalität. (…) David Kato und seine homosexuellen Freunde haben unser Land und unsere Kinder terrorisiert. Ich habe mich über David Katos Tod gefreut.“ Nach Ansicht des Chefredakteurs breitet sich die, angeblich aus dem westlichen Ausland importierte, Homosexualität „unsichtbar, wie eine stille Epidemie“ in Uganda aus und zerfrisst die Moral des Landes wie ein Krebsgeschwür gesundes Gewebe. Er spricht von der „Seuche Homosexualität“.

In der psychohistorischen Forschung spricht man von der „Internen Opfer-Lösung“, wenn Hassgefühle aus der Kindheit an Minderheiten ausagiert werden. Finden sich keine internen Opfer mehr, drohen die Hassgefühle auch gegen äußere Feinde ausagiert zu werden, in Form von kriegerischen Konflikten (Anmerkung: Uganda führte in den 70er Jahren Krieg gegen Tansania, danach kam es immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten, an denen Rebellenarmeen beteiligt waren. Seit 2006 hat sich dieser innere bewaffnete Konflikt etwas beruhigt.).

In den Aussagen des Chefredakteurs findet sich die Sprache des misshandelten Kindes wieder (siehe von mir fettgedruckte Teile). Von einer Gefahr für Kinder ist die Rede, von der Mutter und von Vergiftung/Seuche. Vor allem letzteres wird von Menschen, die folterähnliche Erziehungspraktiker erfahren haben, real so erlebt. Das abgespaltene Trauma droht ständig durch Trigger ins Bewusstsein zu rücken, der Mensch fühlt eine Panik vor innerer Vergiftung und vor Zerfall. Das „Gift“, das „Krebsgeschwür“ wird zur „Lösung des Konfliktes“ außen in Feinden gesucht und dort bekämpft. Der Amnesty Titel „Hass auf die Liebe“ zeigt auch hier eine Wahrheit. Menschen, die nie geliebt wurden, empfinden nur noch Hass, vor allem auch auf alle, die fühlen und lieben können.

Aktuelle Gruppenfantasien

Über mögliche Gruppfenfantasien habe ich seit EHEC und dem Libyen-Einsatz nichts mehr geschrieben. Zwischenzeitlich regierte ja weiterhin die ökonomische Krise die Schlagzeilen. Allerdings, so meine Wahrnehmung, waren die Krisennachrichten der letzten Wochen nicht zu emotional, sondern liefen nebenbei daher wie eine Selbstverständlichkeit. Derzeit ändert sich die emotionale Lage, so mein Eindruck. Der französische Sozialist Montebourg wirft Angela Merkel aktuell vor, sie wolle "den Euro töten" und mache „Bismarcksche Politik". (Welt, 30.11.11)
Der SPIEGEL titelt aktuell mit einem gespaltenen Euro.

Die Krisennachrichten werden auch in anderen Medien wieder emotionaler und wort- bzw. bildgewaltiger. Dazu kommen seit einiger Zeit immer wieder Berichte über den Säuglingstod in Krankenhäusern, aber auch gehäuft Berichte über Kindestötungen und Gewalttaten (Breivik, rechter Terror und ähnliches). Nebenbei erleben wir einen Eskalationsprozess mit dem Iran. Mittlerweile titel z.B. die Welt sogar damit, dass Deutschland in Gefahr sei: „Iran plant offenbar Anschlag in Deutschland

Ich bin kein systematischer Beobachter und gebe wie gehabt nur hier und da mal meine persönlichen Gedanken zu emotionalen Prozessen zu Protokoll. Wir werden sehen, ob sich die Gruppenfantasien in den kommenden Wochen weiter verdichten und es zu weiteren irrationalen Bildern und Wortgefechten kommt.

Mittwoch, 30. November 2011

Neue Details aus Breiviks Kindheit

Dank eines Leserkommentars hier im Blog bin ich auf einen aktuellen Artikel in der Welt aufmerksam geworden. Bereits im Juli hatte ich ja schon etwas über Breivik und dessen Kindheit geschrieben: „Attentäter Breivik: Natural born Killer?“. Die Welt berichtet nun über neue Details aus Breiviks Kindheit:

Als Anders Behring Breivik vier Jahre alt ist, soll die Mutter die Kinderschutzbehörde um Entlastung gebeten haben, und ein Psychologe wurde benannt, um den Bedarf zu beurteilen. Aber Entlastung war dem Psychologen zufolge nicht genug. Er beurteilte die Situation als so ernst, dass er empfahl, den Jungen unverzüglich und dauerhaft in ein Kinderheim zu bringen. Der Psychologe war der Auffassung, dass die Mutter ein gefühlsmäßig instabiles Verhältnis zum Sohn hatte. Er fürchtete, dass das Kind psychischen Schaden nehmen könnte. Der Junge kam nicht ins Kinderheim. Aber der Vierjährige wohnte eine Zeit lang bei einer Pflegefamilie. Auch die Pflegeeltern sollen besorgte Meldungen abgegeben haben.“

Man muss dazu anmerken, dass die Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie und die Unterbringung in einem Heim die allerletzte Option der Kinderschutzbehörden ist. Wenn dies damals empfohlen wurde, dann lagen wirklich sehr ernsthafte Gründe dafür vor. Uns fehlen weitere Details, aber man kann sich vorstellen, dass Breiviks Mutter wohl nicht nur einfach überfordert war, sondern auch sehr destruktiv und für den Psychologen deutlich erkennbar auf ihren Sohn eingewirkt haben muss.
Bei diesem Thema sind die Entwicklungen fast immer die gleichen. Je mehr Details aus der Kindheit von Serientätern und Mördern ans Licht kommen, desto deutlicher zeichnen sich Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen ab. Nie ist es umgekehrt, findet man immer mehr Beweise für echte Liebe und Geborgenheit.

Kürzlich habe ich das Buch „Muttersöhne“ von Volker E. Pilgrim durchgesehen. Der Autor arbeitet leider etwas unsauber, was Quellenangaben angeht. Auch sein Sprachstil ist teils sehr gewöhnungsbedürftig. Ebenso ist seine Sicht teils sehr eingeengt. Trotzdem bringt das Buch dem Leser eine Wahrheit nahe: Die grausamsten männlichen Täter der Geschichte sind oftmals die, welche einen abwesenden und wenn anwesend destruktiven, strafenden Vater hatten und eine besitzergreifende, emotional missbrauchende Mutter, die ihrem Sohn ihr persönliches Leid und ihr Schicksal als ggf. entrechtete Frau aufbürdet, ihn als Partnerersatz und emotionale Krücke benutzt (man schaue auch im Grundlagentext bzgl. der Kindheit von Diktatoren). In der Psychohistorie wird von Lloyd deMause aufgezeigt, dass Kriegen oft Bilder von monströsen Frauen und vor allem Schlangenwesen und krakenähnlichen Monstern vorrausgehen. Er sieht darin – vor allem in seinen älteren Schriften – einen Zusammenhang zum Phänomen „fötales Drama“ und auch einem Geburtstrauma. Ersteres entsteht vor allem durch Rauchen, Alkoholkonsum, schwere Stress- und Angstbelastungen der Mutter, emotionale Ablehnung des Fötus, Gewalt gegen die Mutter usw. Die Bilder von Kraken, Medusa und ähnlichem sieht er hier als unbewussten Ausdruck dieses frühen Dramas. Ich teile seine Sicht, dass bereits der Fötus Destruktivität erlebt und sich dies auswirkt. Ich meine aber, dass die Krake, Medusa, Schlangenfrau usw. vor allem auch etwas mit dem emotionalen Missbrauch durch Mütter zu tun hat. Wie eine Krake umschlingen emotional missbrauchende Mütter kaum sichtbar die Psyche ihrer Kinder und saugen diese aus. Viele Kinder, die so etwas erleben, sind quasi emotionale Krücken für ihre Mütter, viele brechen unter dieser Last zusammen.
Anders als bei schlagenden Vätern, wird es für die betroffenen Kinder schwerer sein, diesen Missbrauch als eine Form von Gewalt und Grausamkeit gegen sich zu erkennen, da dieser Prozess verdeckter, geschickter, manipulativer und eben auf der psychischen Ebene stattfindet. Dazu kommt, dass es ein kulturelles Bild von der immer ihre Kinder liebenden, sich aufopfernden Mutter gibt. Die Grausamkeit von destruktiven Vätern zu erkennen, fällt sicher leichter, als die Grausamkeit der eigenen Mutter. Doch gerade das Erkennen dessen (und auch bewusste Fühlen), was einem angetan wurde, schützt die Menschen oft davor, selbst zu Tätern zu werden. Breivik war offensichtlich nicht in der Lage, die Grausamkeit seiner Mutter als solche zu erkennen. Er lebte sogar bis kurz vor der Tat noch bei ihr und seinem Manifest fügte er am Ende des Textes ein trautes Foto mit Mutter und Schwester bei. Diese Blindheit vor der eigenen Kindheitsgeschichte ist die Quelle dafür, dass solche Leute ihren Hass nach außen tragen, ohne im Grunde zu wissen, warum sie hassen. Trotzdem ist der Täter voll in die Verantwortung zu nehmen!

Dienstag, 29. November 2011

Destruktive mögliche Lebenswege: Tomi Ungerer

Der Kinderbuchautor und Künstler Tomi Ungerer durfte zu seinem 80. Geburtstag auf Welt-Online„ das Trauma bei Kindern preisen: "Ohne Angst kein Mut".

Kürzlich hatte ich ja den Text „Kritik und Abwehr“ geschrieben. Nicht alle traumatisierten Kinder werden logischerweise später zu Mördern. Das Leben ist sehr komplex und vielfältig. Manche werden zu Kinderbuchautoren und selbsternannten Pazifisten, wie Tomi Ungerer. Was aber manches mal bleibt, ist die Destruktivität des unverarbeiteten Traumas, die ihren Ausdruck sucht und findet. Ungerer hat im Interview recht offen und selbstgerecht gesagt: „Man muss die Kinder traumatisieren, um ihnen eine Identität zu geben.“ Sprich, man muss sie ängstigen, damit sie mutig werden, so Ungerer weiter. Was das für seine eigenen Kinder bedeutete, schildert er so: Mit seinen sieben und neunjährigen Kindern ging er ins Konzentrationslager, „damit sie einen Galgen und einen Gasofen sehen“. Oder er zwingt die Kinder, sich eine zerquetschte Katze auf der Straße anzusehen, damit sie ihre Lektion lernen, an Straßen vorsichtig zu sein… Er berichtet auch von direkter Gewalt gegen seine Kinder: „Meine Frau traf einmal den Lehrer meines Sohnes Lukas. Er sagte: "Ich habe Ihren Sohn angeschrien. Wissen Sie, was er darauf gesagt hat? ,Schreien Sie weiter. Sie schreien genauso wie mein Vater. Mir imponiert das nicht.'" Welt Online fragte darauf: „Sie haben viel geschrien zu Hause? „ Antwort: „Kinder, die nicht angeschrien werden - was sollen sie im Leben tun, wenn einmal ein Typ auf sie zukommt und losschreit? (…). Welt Online: „Gab es auch Ohrfeigen?“ Antwort Ungerer: „Ab und zu mal einen Klaps. Manchmal bin ich aber auch in der Küche auf die Knie gegangen und habe zu meinen Kindern gesagt: "Ich bin auch nicht so nett. Jetzt sollt ihr mich strafen." Dann sind sie auf mich losgegangen und haben draufgehauen. Ich bin immer meinem Instinkt gefolgt.

Ich kenne die Bücher dieses Autors nicht. Aber mir ist klar, jemand, der so denkt und handelt, kann keine konstruktiven Bücher schreiben, erst recht nicht für Kinder. Seine Werke müssen von Destruktivität durchzogen sein. Ungerer ist ganz offensichtlich mit der Macht identifiziert, Weichheit und Angst ist etwas, das er bekämpft. Strafen und Angstmachen von Kindern ist für ihn etwas, das er mit Verantwortung und Fürsorge gleichsetzt. So reden Menschen, die es selbst nie anders kennengelernt haben. Dieser Künstler ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Missachtung und Instrumentalisierung von Kindern immer ihren destruktiven Ausdruck findet, je nach individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Zufällen usw. ergeben sich dabei unterschiedliche Lebenswege. Man kann nicht sagen, dass es vereinfach gedacht ist, einen Gewalttäter (gar auch politsicher Art) auf Grund dessen Kindheit zu analysieren, weil ja so viele andere misshandelte Kinder nicht zu einem Gewalttäter wurden. Man muss den Blick offen haben, für die Gesamtheit an destruktiven Lebenswegen, die diese Welt bietet. Die zerstörerischen Wege werden von denjenigen eingeschlagen, die selbst als Kind Zerstörung und Missachtung erfahren haben. Diejenigen, die echte Zuwendung erlebt haben, sehen frühzeitig die Warnschilder und Weghinweise, sie werden entsprechend umkehren und andere Wege suchen oder den Weg selbst bauen.

Abschließend möchte ich noch sagen, dass es ganz erstaunlich ist, wie Welt-Online hier jemanden ganz selbstherrlich und unter "Vorbild"-Aspekten Gewalt gegen Kinder als nützliches Erziehungsmittel darstellen lässt, ohne dies redaktionell zu kommentieren. Was mich noch mehr erstaunt hat: Tomi Ungerer ist laut wikipedia „Botschafter für Kindheit und Erziehung“ für dem Europarat seit 2000….

Freitag, 25. November 2011

Psychogramm eines Nazitäters und die Probleme von Historikern

Historiker haben es nicht leicht, wenn es um die genaue Erfassung von Kindheiten geht. Erst kürzlich habe ich den Historiker Robert Gerwarth angeschrieben, weil dieser in seiner aktuellen Biografie über den NS-Täter Reinhard Heydrich nur sehr wenig über dessen Kindheit und die familiäre Atmosphäre im Hause Heydrich berichtete (berichten konnte). Freundlicherweise erhielt ich eine Antwort des Autors. Es gäbe leider keine Hinweise auf einen gewalttätigen Familienhintergrund im Hause Heydrich, so Gerwarth u.a. in seiner Antwort. Da die Informationslage bzgl. Heydrichs Kindheit sehr dünn ist, werden wir wohl kaum Gewissheit über das bekommen, wie dessen Kindheit wirklich war. Für mich ist klar, dass der Massenmörder Reinhard Heydrich als Kind psychischen und/oder physischem Terror ausgesetzt gewesen sein muss, seine Taten sprechen eine zu deutliche Sprache. Anders als z.B. bei Hitler, wird sich dies wohl nicht stichhaltig belegen lassen.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang finde ich einen Beitrag von Ute Althaus: „Krieg im Kinderzimmer. Psychogramm eines Nazitäters.“ In: Galler, F. / Janus, L. / Kurth, W. 2006: Fundamentalismus und gesellschaftliche Destruktivität. Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 6. Mattes Verlag, Heidelberg.
Althaus befasst sich mit der Kindheit ihres Vaters, der als begeisterter Nazi zum Kampfkommandanten aufstieg und nach dem Krieg zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte in Ansbach/Bayern kurz vor Ende des Krieges einen Studenten höchst persönlich gehängt, weil dieser zum Widerstand gegen die Nazis aufgerufen hatte (Der Täter selbst sah sich als „Herr über Leben und Tod“ und an Pflichten gebunden, wie er in seiner Verteidigungsschrift darlegte). Diese Analyse der eigenen Familiengeschichte untermalt die Autorin mit interessanten Auszügen aus Erziehungsratgebern, die um das Jahr 1900 geläufig waren. Ihr Vater, Ernst, wurde 1895 geboren, die Zeit, so Althaus, die man mit der „Schwarzen Pädagogik“ verbindet.
In den vielen Briefen (vor, während und nach dem Krieg) ihres Vaters entdeckt die Tochter ein wesentliches Gefühl, das dieser ausdrückt: Wut und Hass. Sie schreibt: „Eine bedingungslose Liebe, die nicht an Leistung gebunden ist und die Eigenständigkeit des Kindes respektiert (…) hat Ernst in seinem Elternhaus nicht kennen gelernt. Liebevolle, weiche Gefühle werden eher entwertet.“
Ernst selbst idealisierte seine Eltern weitgehend. Über den Vater schreibt er u.a.: „Ja, Väterchen, du bist ein treuer sorgender Hausvater gewesen. Hab Dank, du rastloser Sämann, hab Dank“ Auch dort, wo die Dornen wachsen und die Steine liegen und die Körner nicht auf Grund fielen, hat sie ausgeworfen seine Liebe.“
Was hätte der Historiker über die Kindheit dieses Mannes geschrieben, wenn er z.B. diesen letzt genannten Brief ausgewertet hätte, ohne auf Daten rückgreifen zu können, die einer Tochter zur Verfügung stehen? Vielleicht hätte hier gestanden: Ernst wuchs in einer normalen Umgebung auf und schrieb liebevoll über seinen Vater.
Diese Idealisierung destruktiver Eltern ist ein bekanntes psychisches Phänomen und dient dem Selbstschutz des Kindes. Forschende haben es dadurch nicht gerade leicht, die Realitäten von Kindheiten zu erfassen. Ich selbst erinnere mich an einen Mann, der Anfang der 30er Jahre geboren wurde. Ich wusste durch Dritte von ihm, dass er schwer von seinem Vater misshandelt worden war. In einem Gespräch sagte er einmal über seine Eltern: „Ich bin immer viel von meinen Eltern kritisiert worden.“ Diese Generation hat eingeimpft bekommen, sich nicht über erfahrenes Leid zu beschweren. Aus schweren Misshandlungen wird so im Selbstbericht „Kritiküben“.

Zusammenfassend schreibt Althaus:
Als Gleicher unter Gleichen wird ihm ein Platz in der Volksgemeinschaft versprochen, um den Preis, dass er sich dieser Bewegung mit Haut und Haar verschreiben muss. Der Volkskörper sei alles, der Einzelne nichts. Auch hier sind Ernsts Eigenständigkeit und Individualität nicht gefragt. Das sind für ihn vertraute Töne seiner Kindheit und lösen bei ihm die entsprechenden Reaktionen dem Führer gegenüber, wie seinem Vater gegenüber, aus: er klammert sich an den, der ihm seine Eigenständigkeit und Würde abspricht, und verherrlicht dessen vermeintliche Stärke. Für diese Selbstaufgabe wird ihm bei den Nazis im Unterschied zu seiner Familie Macht versprochen. Gleichzeitig bekommt er einen Focus und eine Legitimation für seine Wut und seinen Hass geliefert.

Mittwoch, 23. November 2011

Kritik und Abwehr

Die Kritik an Thesen, wie sie in diesem Blog vertreten werden, ist im Grunde immer die gleiche.

Man kann doch nicht alles nur auf die Kindheit schieben!“ ist wohl die häufigste Reaktion, die gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert (verhindern soll). Doch wer hat denn überhaupt gesagt, dass ich und Andere "alles nur" auf die Kindheit schieben? Menschliches Verhalten resultiert aus unzähligen Einflussfaktoren: Da sind die Erbanlagen und Gene bzw. der angeborene Charakter, der bei jedem Menschen anders ist; da ist das Geschlecht, da sind unterschiedliche kulturelle und/oder milieubedingte Einflüsse, Peergroup, Erwartungshaltungen des Umfeldes, Zufälle des Lebens, Schichtzugehörigkeit, Einflüsse des jeweiligen Zeitgeistes, Alter usw. usf. Wer bitteschön sagt denn, dass diese Dinge keinen Einfluss auf einen Menschen ausüben? Ich sage dies nicht.

Ich sage nur, dass ein Mensch, der in einem erheblichen Maße destruktiv handelt - womit ich sowohl selbstschädigendes als auch fremdschädigendes Verhalten meine – in seinen Emotionen gestört sein muss. Wer wirklich fühlt, wer Mitgefühl kennt, kann keinen anderen Menschen umbringen, gezielt quälen, foltern, vergewaltigen, missbrauchen, schlagen, demütigen usw. oder andere Menschen dazu befehlen. Das ist für mich quasi ein „psychologisches Naturgesetz“. (Eine Ausnahme bzgl. kurzfristigen, nicht sadistischem Gewaltverhalten bildet eine ausweglose persönliche Situation, in der aus Notwehr gehandelt wird. Jeder Mensch hat die Anlage, mit „gesunden“ Aggressionen zu reagieren, wenn er direkt angegriffen wird.) Ein Verschütten von Emotionen, eine psychische Abspaltung von Mitgefühl findet vor allem durch den Einfluss von häufiger elterlicher Gewalt (ob nun psychischer oder körperlicher Art) und Lieblosigkeit statt. Dazu haben z.B. Arno Gruen oder auch Alice Miller etliches geschrieben, aber auch in diesem Blog findet man einiges dazu. Umgekehrt bilden Kinder, die wirklich von ihren Eltern geliebt werden, die Geborgenheit, Nähe, Anwesenheit und lebhafte Kommunikation erfahren, die nicht geschlagen und gedemütigt werden ein reichhaltiges Gefühlleben (vor allem auch Empathie) und echtes Selbstbewusstsein aus. Sie stehen lebenslang auf den Säulen dieser frühen Erfahrungen und bilden eine sichere Identität aus. Sie müssen keine Gefühle abspalten, einfach weil sie keine Gewalt erfahren haben.

Insofern komme ich dann z.B. zu Aussagen wie diese: „Alle Massenmörder müssen als Kind gedemütigt, missbraucht und/oder misshandelt worden sein.“ oder „Es ist unmöglich, dass ein Massenmörder ein wirklich geliebtes Kind war.“ Aus solchen Sätzen wird einem dann mangelnde Seriosität, Vereinfachung oder monokausales Denken unterstellt.
Einmal wurde mein Kommentar in einer großen Zeitung von der Redaktion gelöscht, weil ich seriöse Quellen für meine Behauptung, dass destruktive, gewaltvolle Kindheiten eine wesentliche Ursache von Krieg und Massenmord darstellen, nennen sollte. Obwohl es unzählige Beispiele dafür gibt, dass privilegierte, reiche und gebildete Menschen, Lehrer und Doktoren usw. zu bereitwilligen Mördern innerhalb von Kriegen wurden und viele Kriege an sich auch dann ausbrechen, wenn Nationen ökonomisch wachsen und ihren Wohlstand vermehren, kann man dagegen bei jeder Diskussion um Krieg und Massenmord getrost sagen: „Die Armut und Ausbeutung ist die Wurzel allen Übels.“ Wer wird dafür seriöse Quellen verlangen oder gar zensieren?

Die nächste Reaktion der Kritiker ist meist folgende: Wenn Massenmörder alle misshandelte Kinder wären, dann müssten wir ja viel mehr Massenmörder und Serientäter haben, weil so viele Kinder Gewalt erfahren, dem ist aber nicht so. Ich erinnere mich auch noch an eine Reaktion, wo dann ein Mann meinte, er sei Trennungskind, das sei eine schwere Zeit gewesen, er hätte allerdings keinen Amoklauf in Planung. Damit war für ihn die Diskussion beendet... Das ist nun wieder ein zweifacher Irrtum, dem die Kritiker unterliegen. Erstens: Ich und Andere sagen nicht, dass jedes misshandelte Kind zu einem Mörder, Terroristen, Nazi usw. wird. Trotzdem wären die Täter nicht zu Mördern, Terroristen, Nazis usw. geworden, wenn sie geliebte Kinder gewesen wären. Diese Feinheit in der Argumentation muss man schon verstehen.

(Ich sehe aber auch, dass viele einst misshandelte Kinder einen sehr destruktiven Lebensweg gehen. Dieser muss nicht von Gewalt gegen Andere geprägt sein. Oft ist er eher von Gewalt gegen sich selbst bestimmt, indem man sich z.B. destruktive, schlagende Partner sucht, Suchtverhalten zeigt, lebensgefährliche Sportarten betreibt, sich prostituiert, in Sekten eintritt, sich in SM Studios schlagen lässt usw. usf. Das Leben bietet unzählige Möglichkeiten, Fühllosigkeit, (Selbst-)Hass, Nicht-Identität und Verzweiflung auszudrücken. Zudem gibt es in unserer Welt viele Möglichkeiten, legal Gewalt auszuüben. Ich denke da an den Beruf Soldat, US-Präsident oder an Spekulanten an der Börse, die z.B. Lebensmittelpreis in die Höhe treiben und dadurch tausende Menschen umbringen. Dazu kommen verdeckte Formen der Gewalt wie die Misshandlung der eigenen Kinder, Angestellter, dem Lebenspartner oder Gewalt gegen Tiere. Gewalt gegen Kinder kann viele Folgen haben, Terror und Mord ist nur eine mögliche Form. Eine Ausnahme stellen dabei allerdings Kriege dar, in denen ein großer Teil der Bevölkerung von hier auf jetzt plötzlich zu bereitwilligen Mördern werden (Weltkriege, Ruanda, Kambodscha usw.). In diesen Situationen zeigt sich, wie sich die erlebte familiäre Gewalt plötzlich massenhaft auf der gesellschaftlichen Bühne entladen kann, wie „normale Menschen“ zu grausamsten Taten fähig werden.)

Zweitens: Gewalt gegen Kinder ist nicht gleich Gewalt gegen Kinder. Eine Trennung der Eltern mag belastend sein, manche Kinder haben in ihrem Leben vielleicht vier oder fünf mal körperliche Züchtigungen erfahren, andere wurden ein paar mal angeschrien, manche vielleicht sogar ein zwei mal misshandelt usw. Solche Erfahrungen sind schlimm, aber sie reichen nicht aus, um einen Menschen tief zu spalten und mörderische Rachegefühle zu erzeugen. Je schlimmer die Taten und Grausamkeiten sind, die ein Mensch begeht, desto schlimmer und grausamer war seine Kindheit, würde ich sagen. Menschen, die Babys auf den Grill legen während sie deren Eltern vergewaltigen (geschehen in Ruanda) sind keine Trennungskinder und ähnliches. Menschen, die so etwas tun, wurden als Kind (meist) von ihren Eltern regelrecht gefoltert. Alles, was menschlich an ihnen war, haben sie dadurch verloren. Auch ein US-Präsident, der wirklich über den gewinnbaren Atomkrieg nachdenkt, ist emotional absolut leer. Nachweisbar wurden diese Präsidenten als Kind schwer misshandelt.

Aber, auch schwer misshandelte Kinder können später durchs Leben kommen ohne anderen Gewalt anzutun. Meist sind es Kinder, die einen „helfenden Zeugen“ in ihrer Nähe hatten, Geschwister, einen Elternteil oder die Oma, die sich liebevoll um sie bemühten und ihnen beistanden. Solche positiven Erfahrungen mildern die destruktiven Folgen der Gewalt ab. (dazu kommen heutige Möglichkeiten der Therapie)

Das Thema ist komplexer, als es erscheint. Doch all die Leute die rufen: „Man kann doch nicht alles nur auf die Kindheit schieben!“ werden diese Zeilen wohl leider kaum lesen.

Die wesentliche Reaktion auf die Konfrontation mit diesem Thema ist allerdings Schweigen. Ich könnte dafür etliche Beispiele aus der Vergangenheit anführen. Neulich erst warf ich in einem Forum einer Zeitung etwas zur Kindheit eines Kriegsherren ein. Es gab über 250 Diskussionsbeiträge im Forum und über 45.000 Zugriffe auf diesen Themenstrang. Über 100 mal wurde ein Link auf meinen Blog angeklickt, etliche andere Forumsuser werden zudem meinen Beitrag im Forum gelesen haben. Kein einziger User antwortete auf meinen sachlichen Hinweis. Und dass, obwohl im Artikel selbst über den Kriegsherren etliches über dessen traumatische Kindheit stand.

Die zweit häufigste Reaktion ist Abwehr. Dazu gehören auch Bemerkungen wie: „Auch ein sehr liebevoll erzogenes Kind kann zu einem Massenmörder werden.“ oder „Massenmörder sind halt verrückt, da kann man nichts machen.“ Aber natürlich auch alle erdenklichen Argumente, bis hin zu der Behauptung, es gäbe keine Studien, die einen Zusammenhang von Opfererfahrungen und Gewaltverhalten festgestellt hätten. Ich erinnere mich an eine frühere Onlinediskussion, die ich eröffnet habe. Ein User ging meine Argumente sehr scharf an und lehnte sie grundsätzlich ab. Im Laufe der Zeit kamen noch andere User dazu und die Diskussion weitete sich aus. Plötzlich bekam ich eine private Nachricht von der Person, die meine Beiträge am Schärfsten kritisiert hatte. Er meinte, dass er selbst Heimkind gewesen sei und seine Kindheit ihn nie losgelassen hätte. Seiner Familie gegenüber hätte er nie etwas gesagt und er würde ihnen ein großes Schauspiel liefern. Als ich auf ihn einging, bekam ich als Antwort, dass seine Nachricht ein „Ausrutscher“ gewesen sei und er bisher doch immer gut damit gefahren sei, seine Kindheit nicht zu erwähnen. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass Kritik in diesem Bereich nicht immer rational sein muss. Die Kritik kann kommen, einfach weil man „es nicht wahrhaben will“, weil das Aufzeigen solcher Zusammenhänge an eigenen Wunden rührt, weil klar würde, dass auch mancher Schatten im eigenen Leben mit der eigenen Kindheit zusammenhängen könnte.

An dieser Stelle möchte ich auch nochmal einige Gedanken aus dem Nachwort des Grundlagentextes zitieren, die hier sehr gut hinpassen:

Ich erinnere mich an eine allgemeine Vorlesungsreihe an der Universität Hamburg zum Thema NS-Zeit und Ursachen (Titel: „Denn sie wussten und wollten, was sie taten. Der Holocaust und seine Täter“ Ringveranstaltung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg, WS 2002/2003)
Diese wöchentliche Abendveranstaltung wurde vorwiegend von Menschen besucht (und auch veranstaltete), die diese Zeit selbst miterlebt hatten. Entsprechend emotional verliefen die Lesungen. Ich möchte hier in diesem Zusammenhang eines anmerken. Es wurden im Laufe der Lesungsreihe viele interessante Aspekte dieser Zeit vorgestellt. Auch wurden verschiedene politisch-soziologische und wirtschaftliche Zusammenhänge als Ursachen für die NS-Zeit aufgeführt, die alle wirklich sehr logisch und nachvollziehbar und sicherlich auch wahr waren und sind. Das spannende für mich war aber folgendes. Einer der hauptverantwortlichen Dozenten für diese Reihe reichte einmal – so ca. in der Mitte der gesamten Lesereihe - ein Blatt mit dem Inhalt der entsprechenden Lesung an diesem Abend im Publikum durch. Auf der Rückseite dieses Blattes hatte er – ganz entgegen des Themas dieses Lesungstages - die Inhaltsangabe des Buches „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen kopiert, in dem vor allem die „Identifikation mit dem Aggressor“ bzw. destruktive Kindheitserfahrungen als Ursache für Krieg und speziell auch den 2. Weltkrieg benannt sind. Auf diese rückseitige Inhaltsangabe machte der Dozent nicht aufmerksam, er reichte sie einfach stillschweigend herum. Überhaupt waren destruktive Kindheitserfahrungen als eine mögliche Ursache von Krieg und Täterschaft in dieser Veranstaltungsreihe kein Thema. Trotzdem machte der Dozent leise auf Arno Gruens Thesen aufmerksam. Warum? Warum so heimlich und leise? Dies machte mich zunächst stutzig, aber ich fand es auch irgendwie bezeichnend. Die Generation, die diese Zeit miterlebt hatte, umkreiste in ihrer Analyse letztlich einen wahren Kern, den wirklich offen zu beleuchten sie wohl nicht ertragen konnte.
Am 06.02.2003 fand mit dem Schlussthema „Wie können Menschen zu Tätern werden?“ die Abschlusssitzung der gesamten Lesereihe statt. Auch hier wurde wieder nicht auf destruktive Kindheitserfahrungen als mögliche Ursache hingewiesen (und das obwohl die Lesereihe am Fachbereich Erziehungswissenschaft statt fand). Als ich dann nach der Lesung im Plenum freundlich darauf hinwies, dass mir das psychoanalytische Ursachenverständnis von Krieg und Täterschaft gefehlt hätte und dies obwohl ein leitender Dozent in einem Beiblatt sogar auf „Der Fremde in uns“ und somit auf den Zusammenhang mit destruktiven Kindheitserfahrungen hingewiesen hätte, bekam ich als Reaktion aus dem Plenum „ein Raunen“ und teils offene Anfeindungen. An eine Frau erinnere ich mich noch besonders. Sie stand auf und rief irgendetwas wie: „Eine Welt, wie sie sie wollen, gibt es nicht!“ Und ich hätte unrecht mit meinen Gedanken usw.
Zumindest die hauptverantwortlichen Dozenten bedankten sich höflich für meine Kritik, wiegelten diese nach meiner Erinnerung aber auch mit einigen Ausschweifungen über den Lesungsverlauf ab, nahmen sie somit nicht wirklich an und überhörten auch meinen Hinweis auf Arno Gruens Buch, das sie mit keinem Wort weiter erwähnten. Mir persönlich wird diese Lesereihe immer in Erinnerung bleiben, ich habe dort viel gelernt, vielleicht mehr, als ich durch Bücher hätte lernen können.

Samstag, 19. November 2011

Zwischengedanken: Kindheit und Gesellschaft

Viele Länder, die für dauerhafte schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, weisen gleichzeitig sehr hohe Raten an Gewalt gegen Kinder auf.
Einige ausgesuchte Beispiele laut UNICEF Report 2009 „Progress for Children“ (Seite 8):

(Die Prozentzahl gibt den Anteil der Kinder zwischen 2 und 14 Jahren an, die körperliche und/oder psychische Gewalt (meist durch nahe Bezugspersonen) erleben, wobei der Großteil der Kinder beides erlebt, körperliche und psychische Gewalt. Im Bericht selbst steht, dass die Zahlen nur die Oberfläche angeben, da Gewalt gegen Kinder oft im Verborgenen stattfindet und nicht berichtet wird. Eine genaue Definition was Gewalt beinhaltet, gibt UNICEF nicht, wohl weil die Daten aus etlichen unterschiedlichen Studien stammen.)

Besetzte palästinensische Gebiete = 95 %

Vietnam = 94 %

Yemen = 93 %

Syrien = 87 %

Irak = 84 %

Weißrussland = 83 %

Serbien = 73 %

Bzgl. der Situation in Afrika hatte ich kürzlich viele Daten zusammengestellt, die ein extrem hohes Ausmaß der Gewalt belegen und die - sofern Studien vorlagen, die in die Tiefe gehen - auch eine hohe Intensivität und Häufigkeit der Gewalt nachweisen: „Gewalt gegen Kinder in Afrika

Bzgl. der Kindererziehungspraxis und der Gewaltverbreitung in Kambodscha habe ich ebenfalls aktuell einige erschreckende Daten zusammengestellt: „Kambodscha: Massenmord, Kindheit und Mütter aus einem anderen Leben

In einem anderen Text über die „Kindheit in den USA“ habe ich herausstellen können, dass in diesem kriegerischen Land im Vergleich zu anderen Industrienationen die Lage der Kinder besonders schlecht ist und sehr viele geschlagen werden (teils auch noch legal an vielen Schulen).

Die Journalistin Eva Karnofsky hat in ihrem Text „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ deutlich die sehr schlechte Situation der Kinder vor Ort beschrieben. Kolumbien hat mit eine der höchsten Kriminalitätsrate weltweit.

Nicht zu vergessen Deutschland um das Jahr 1900 und davor. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat u.a. in seinem Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ belegt, dass die deutsche Kindheit ein „Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen“ war.

Die Zusammenhänge von destruktiven Kindheiten und gesellschaftlicher Destruktivität sind einfach offensichtlich. Trotzdem werden sie immer noch weitgehend verleugnet. Dafür gibt es sicherlich emotionale Gründe, aber auch fehlende Flexibilität im Denken und ein mangelhaftes Wissen darüber, was Gewalt gegen Kinder für diese bedeutet, für ihr Leben, Denken und Fühlen, sind mit ein Grund dafür, warum diese Zusammenhänge nicht gesehen werden. Demnächst werde ich mich einmal daran setzen, typische Kritikpunkte aufzugreifen und zu kommentieren. Denn mir fallen immer wieder die selben Grundmuster auf, was die Kritik angeht, die diesen Themenbereich hier betreffen.

Freitag, 18. November 2011

Kambodscha: Massenmord, Kindheit und Mütter aus einem anderen Leben

Mitte der 70er Jahre begann die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. In Kambodscha wurden Schätzungen zu folge 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt durch die Roten Khmer umgebracht (zwischen einer und zwei Millionen Opfer). Kambodscha war vorher sozial und ökonomisch relativ gut entwickelt. Vor dem Bürgerkrieg war Kambodscha eines der reichsten Länder Südostasiens. Doch Pol Pots Herrschaft „versetzte das einst reiche und hochzivilisierte Land in Südostasien zurück in die Steinzeit.“ (vgl. Planet Wissen)

Die Psychohistorie vertritt die (empirisch belegbare) These, dass Kriege meist in Zeiten von Wachstum und Wohlstand ausbrechen. (Stichwort „Wachstumspanik“, siehe dazu hier im letzten Drittel des Textes) Insofern passen auch die Ereignisse in Kambodscha in dieses Bild. Vor allem der enorme Hass gegen alles Fortschrittliche wurde in diesem Konflikt überdeutlich. Destruktive, sehr gewaltvolle Kindheiten müssen in diesem Land weit verbreitet gewesen sein, ansonsten wäre die massenhafte „Wachstumspanik“ und der Massenmord nicht möglich gewesen. Pol Pot wurde Ende der 20er Jahre geboren, viele seiner Soldaten wohl in den 40er und 50er Jahren. Was Kindheit zu dieser Zeit in diesem Land bedeutete, ist mir nicht bekannt und sicherlich ist dies auch kaum erforscht. Aber, wir können heute auf einige Studien zurückgreifen, die die Kindheiten und vor allem auch Gewalterfahrungen der heutigen Generation untersuchten. Diese Daten lassen Rückschlüsse auf das zu, was die Generationen vorher erlebt haben. Sie zeigen ein hohes Ausmaß von elterlicher Gewalt. Die Generationen davor werden entsprechend noch weit aus häufiger davon betroffen gewesen sein. Hier liegt der Schlüssel, um den Massenmord in seiner Tiefe zu verstehen.

Hier die Daten, die ich gefunden habe:

Für eine Studie von „Save the Children Sweden“ (2005) (“What children say: Results of comparative research on the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and the Pacific”) wurden in acht Ländern in Südostasien und im entsprechenden Pazifikraum 3.322 Kinder ausführlich befragt. Bzgl. Kambodscha stellte man folgendes fast: Über 80 % der Kinder berichteten von Gewalt vor allem in Form von Schlägen mit der Hand oder Gegenständen wie Stöcken oder Peitschen und auch von Tritten. Die Kinder wurden im Schnitt etwas weniger als einmal die Woche körperlich bestraft, ca. 1 % wurde täglich körperlich bestraft. Mütter wurden dabei 6 Prozentpunkte häufiger als Täterinnen angegeben als Väter.

Für eine andere große Studie aus dem Jahr 2006 („Stop violence against us!“ Summary Report 1. A preliminary national research study into the prevalence & perceptions of Cambodian children to violence against and by children in Cambodia. ) wurden 1.314 Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Jahren befragt. In der Einleitung zu der Studie wurden zunächst einige vorliegende aufschlussreiche Zahlen besprochen. Laut der Studie „Children's Views on the Implementation of the UNCRC in Cambodia' (2004) gaben 52 % der befragten Kinder an, dass es zu körperlicher Gewalt gegen ein Familienmitglied kam. Eine Studie von Raghda Saba von der “University of Phnom Penh's, Psychology Departmen” kam nach einer Befragung von 400 Kindern 1999 zu dem Ergebnis, dass 41 % Zeugen häuslicher Gewalt waren, 58 % der Kinder wurden selbst innerhalb der Familien geschlagen. Ein Studienzusammenschluss kam bei einer Befragung von 500 Kindern 2001 zu dem Ergebnis, dass 44 % von ihren Eltern geschlagen wurden. 1.374 Frauen und 1.286 Männer wurden für eine andere Studie (1996) vom „Ministry of Women's Affairs“ befragt. 71.6% der Frauen und 57.3% der Männer meinten, dass man Kinder schlagen sollte, um sie zu disziplinieren.
Die vorliegende o.g. Studie kam ihrerseits zu dem Ergebnis, dass 36,4 % der Mädchen 50,5 % der Jungen "manchmal" (was auch immer das heißt) von ihren Eltern geschlagen werden. 34 % der Mädchen und 41% der Jungen wurden zudem in der Schule von Lehrkräften geschlagen, obwohl dies gesetzlich verboten ist. 15,7 % der Jungen und 13,3 % der Mädchen berichteten, dass sie vor dem Alter von 9 Jahren sexualisiert an ihren Geschlechtsteilen angefasst wurden. 18,9 % der Jungen und 13,5 % der Mädchen berichteten dasselbe, wenn es um das Alter über 9 Jahren ging. 23,5 % der Jungen und 21,4 % der Mädchen berichteten, dass sie Zeugen einer Kindesvergewaltigung innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft wurden.

Für eine weitere große Studie (Cambodia Ministry of Education Youth and Sports Pedagogical Research Department, 2004: Cambodia National Youth Risk Behaviour Survey: Summary Report. (unterstützt durch UNICEF and UNESCO) ) wurden 9.388 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 – 18 Jahren befragt. 26 % der Befragten gaben an, dass sie innerhalb von 30 Tagen vor der Befragung Gewalt in ihren Familien erlebt haben. Leider wurden in der Studie nicht die Gewalterfahrungen im gesamten Kindesalter oder innerhalb eines Jahres erfragt (was sonst üblich ist), insofern ist die Zahl von 26 % nur ein grober Hinweis. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass Gewalt gegen Kinder am Häufigsten im Kleinkind- und Grundschulalter ausgeübt wird, hier allerdings Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren befragt wurden, dann ist die Zahl von 26 % schon wieder etwas erhellend und zeigt eine hohe Gewaltbetroffenheit. Die Studie zeigte zudem, dass 27 % der Mädchen und 11 % der Jungen schon einmal (manche auch mehrmals) über Selbstmord nachgedacht haben. Armut und Probleme mit den Eltern waren die Hauptmotive, über Selbstmord nachzudenken.


Die gezeigten Daten bieten einen ersten erschreckenden Überblick. Die Kultur in diesem Land ist uns im Westen sehr fremd. Dies wurde mir nochmal besonders deutlich, als im zweiten Report einer bereits oben zitierten Studie auf die historische Entwicklung von Kindheit in Kambodscha eingegangen wurde. Traditionell gilt demnach in Kambodscha ein großes Machtgefälle zwischen Älteren und Jüngeren, insbesondere Kindern. Dies hat sicherlich weitreichende Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang mit Kindern, den ich von hier aus nicht weiter beurteilen kann.
Ein traditioneller Schlüsselglaube ist hier hervorzuheben. Die Mutter aus dem vorherigen Leben, so der weit verbreitete Glaube, kann einen großen Einfluss auf ein neu geborenes Kind (aber auch das ältere Kind) ausüben, sie kann sogar versuchen, es zurück in ihre Welt zu holen. Gleich nach der Geburt wird eine Zeremonie abgehalten, um der vorherigen Mutter klar zu machen: „Dieses Kind gehört jetzt dieser Mutter. Nicht mehr Dir, verschwinde!“ Die Angst vor dem Einfluss der vorherigen Mutter bleibt aber weiterhin bestehen. In dem Bericht heißt es: „The world view of the mother is such that occurrences that happen to the young child can be attributed to the previous birth mother being angry with the way the child is being brought up. As such, many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.
Die Bedeutung dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollte nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem vorherigen Leben im Hintergrund steht? Ein zu liebevoller oder zu aggressiver Umgang mit dem Kind ist zu vermeiden, die vorherige Mutter könnte sonst böse oder eifersüchtig werden und der Säugling darf bloß nicht lachen! Symbolisch steht also etwas grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung und Wachstum glücken? Ich bin weit davon entfernt, diese Kultur verstehen zu können. Aber, diese aufgezeigte Tradition könnte neben der weit verbreiteten Gewalt ein weiterer wichtiger Hintergrund für die Entstehung des massenhaften Hasses gewesen sein, der sich in den 70er Jahren so brutal entlud.