Donnerstag, 28. Mai 2015

Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?

Auf Anfrage habe ich per Email Daten bzgl. der Häufigkeiten von abgefragten Gewalterfahrungen bzgl. der von mir kürzlich besprochenen KFN-StudieRepräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland.“ erhalten (Wiederum aufgeteilt nach Gewaltverhalten von Vätern und Müttern). Diese Daten fehlten in der veröffentlichten Studie. Sie sind besonders wichtig, weil sowohl die erlittene Form der Gewalt (leicht, mittel, schwer, besonders schwer?) als auch die Häufigkeit (selten, manchmal, häufig, sehr häufig?) stark die Folgeschäden mit beeinflussen. Ich hatte bei der Besprechung der Studie bereits beschrieben, dass diese Studie bahnbrechende Entwicklungen belegt: Nie war Kindheit in Deutschland gewaltfreier als heute, jede neue Generation erlebt wiederum noch weniger Gewalt.

Die körperliche Gewalt wird dabei vor allem „selten“ bis „manchmal“ erlebt. Auch diese erlebte Gewalt hat natürlich Folgen, aber tendenziell weit weniger, als wenn Kinder „häufig“ oder „sehr häufig“ Gewalt erleben. Die in der Studie als leichtere Gewalt definierten Gewaltformen (Items 1. bis 3.) wurden von 0,3 % bis 2,3 % der Väter und Mütter „häufig“ oder „sehr häufig“ angewandt. Die schwereren bis sehr schweren Gewaltformen wurden deutlich von unter 1 % der Väter und Mütter „häufig“ oder „sehr häufig“ angewandt. (siehe dazu ausführlich die Zahlen unten)
Man kann auch zusammenfassen: Je schwerer die Gewaltform und je häufiger diese erlitten wurde, desto weniger Kinder sind betroffen; bis letztlich in einen Bereich von 0,037 %  (der kleinste erfasste Wert in der Studie bzgl. einer schweren und „sehr häufig“ erlebten Gewaltform).

Diese Zahlen sind auch bedeutsam im internationalen Vergleich. Man könnte jetzt diese Studie nehmen und sagen „48,6 % der Deutschen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren (zum Zeitpunkt der Befragung) haben körperliche Elterngewalt erlebt“ Dieser Satz wäre richtig. Wenn jetzt einer käme und sagt: „Ja aber diese Zahl ist ja nicht Lichtjahre weit weg von Zahlen aus anderen Regionen, immerhin ist fast jeder Zweite betroffen, deswegen kann man nicht ableiten, dass Gewalterfahrungen in der Kindheit massiven Einfluss auf soziale und politische Prozesse nehmen.“, dann irrt dieser Jemand komplett! Denn diese 48,6 % (oder gar die  noch höheren 74,9 % , die in der Vergleichsstudie - Wetzels 1997, S. 146 - aus den 90er Jahren angaben, körperliche Elterngewalt erlitten zu haben, bezogen auf die Gesamtbevölkerung )  erleben nun mal weit aus weniger schwere Gewaltformen und dazu noch weit aus seltener, als das in anderen Teilen der Welt aussieht. (Beispiele siehe hier oder hier) Das Ausmaß, die Häufigkeiten und auch die Schwere der Gewalt sind in manchen Teilen der Welt unvorstellbar hoch und das besonders in den Krisenregionen.

Hier nun die Daten aus der Email / 11.428 Befragte 

1 ... mit einem Gegenstand nach mir geworfen.

Väter

selten 3,9 %
manchmal 1,5 %
häufig 0,4 %
sehr häufig 0,4 %

Mütter

selten 4,3 %
manchmal  1,1%
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,4%


2 ... mich hart angepackt oder gestoßen.

Väter

selten 13,1%
manchmal 5 %
häufig 1,6 %
sehr häufig 0,8 %

Mütter

selten 11 %
manchmal 3,5 %
häufig 1 %
sehr häufig 0,7 %


3 ... mir eine runtergehauen.

Väter

selten 21,1 %
manchmal 7,5 %
häufig  2,3 %
sehr häufig 1,3 %

Mütter

selten 21,2 %
manchmal 6,9 %
häufig 2 %
sehr häufig 0,9 %


4 ... mich mit Faust geschlagen, getreten oder mich gebissen.

Väter

selten 1,5 %
manchmal 0,9 %
häufig 0,5 %
sehr häufig 0,5 %

Mütter

selten 1,3 %
manchmal 0,6 %
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,3 %


5 ... mich mit einem Gegenstand geschlagen oder zu schlagen versucht.

Väter

selten 3,3 %
manchmal 1,5 %
häufig 0,7 %
sehr häufig 0,6 %

Mütter

selten 4 %
manchmal 1,9 %
häufig 0,6 %
sehr häufig 0,6 %


6 ... mich geprügelt, zusammengeschlagen.

Väter

selten 1,8 %
manchmal 0,8 %
häufig 0,6 %
sehr häufig 0,5 %

Mütter

selten 1,3 %
manchmal  0,8 %
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,4 %


Die Items der besonders schweren Gewalttaten wie.„mich gewürgt“ , „mir absichtlich Verbrennungen oder Verbrühungen zugefügt.“,  „mich mit einer Waffe, z. B. einem Messer oder einer Schusswaffe, bedroht.“ oder  „eine Waffe, z. B. ein Messer oder eine Schusswaffe, gegen mich eingesetzt“ führe ich hier der Übersicht halber und auch auf Grund der niedrigen Prozentwerte nicht auf. Die Werte liegen beim Würgen (max. ca. 0,5 % „selten“ bis min. 0,059 % „sehr häufig“) etwas höher als bei den anderen besonders schweren Gewalttaten (max. ca. 0,3 % „selten“ bis min. 0,037 % „sehr häufig“)

Gewalt gegen Kinder nimmt zu - zumindest laut den Medien

Der Journalist Stefan Niggermeier schrieb Ende 2008 einen kurzen Beitrag unter den Titel „Die Medien sind für mehr getötete Kinder“. Auslöser für seinen Beitrag waren in den Medien verbreitete Falschmeldungen über die (angeblich) gestiegene Zahl von Kindestötungen.

Letzte Woche wurde die Kriminalitätsstatistik vorgestellt und in diversen Medienbeiträgen aufgegriffen. Spätestens seit den Missbrauchs- und Misshandlungsfällen in Heimen und kirchlichen Einrichtungen wird in Deutschland überall über Kindesmisshandlung gesprochen. Und das ist auch gut so! Mir scheint es nur so zu sein, dass die richtige Mitte im Umgang mit dem Thema fehlt. Vor allem fehlt noch ein wirklich aufgeklärtes Bild in der Öffentlichkeit über die Geschichte der Kindheit, die Entwicklungstrends (belegt durch diverse Dunkelfeldstudien) hier in Deutschland und vor allem auch das Wissen um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der ganzen Welt.
Folgt man zumindest der Mehrheit der aktuellen Berichterstattung, dann müssen mit dem Thema weniger vertraute Leser und Leserinnen zu dem Schluss kommen, dass es in Deutschland immer mehr Gewalt gegen Kinder gibt oder dass es zumindest nicht besser wird. Hier und da wird zwar in manchen Beiträgen erwähnt, dass die Anzeigebereitschaft womöglich gestiegen sei, gedeckelt wird dieser Hinweis aber u.a. durch den Aufbau der Artikel, die Überschriften oder die Hinweise auf das Dunkelfeld. Kein einziger Artikel griff aktuelle Zahlen des KFN auf, was sich ja geradezu anbot, weil dort aktuell die größte deutsche Studie zu dem Thema überhaupt durchgeführt und veröffentlicht worden ist. (siehe meinen Beitrag „Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft“)

Wie auch immer. Hier nun einige Medienbeiträge, die mir aufgefallen sind (dazu kamen Beiträge im Radio, die ich hörte und die ähnlich formuliert waren) und die oft alleine schon durch die Überschriften und Untertitel klar machen, dass die historische Entwicklung der Gewalt gegen Kinder nicht gesehen wurde.


 „Misshandelt und missbraucht“ – Jeden Tag werden 40 Kinder Opfer von sexueller Gewalt – Fachleute sind entsetzt http://www.svz.de/nachrichten/deutschland-welt/panorama/misshandelt-und-missbraucht-id9750051.html

„Gewalt gegen Kinder nimmt dramatisch zu“
http://www.bild.de/politik/inland/kindesmissbrauch/gewalt-gegen-kinder-nimmt-zu-41000496.bild.html

„Kriminalbericht legt erschreckende Zahlen offen“
http://www.n24.de/n24/Mediathek/videos/d/6664776/kriminalbericht-legt-erschreckende-zahlen-offen.html

"Kinder weiterhin Opfer von Gewalt"
http://www.dw.de/kinder-weiterhin-opfer-von-gewalt/a-18461683

"Schockierende Statistik. Auch Sie kennen vermutlich ein Kind, das missbraucht wird"
http://www.focus.de/politik/deutschland/schockierende-statistik-auch-sie-kennen-vermutlich-ein-kind-das-missbraucht-wird_id_4691843.html

"Zahl der misshandelten Kinder nimmt zu" 
http://www.sueddeutsche.de/panorama/gewalt-gegen-kinder-zahl-der-misshandelten-kinder-nimmt-zu-1.2485615

"Misshandlung von Kindern nimmt zu"
http://www.deutschlandfunk.de/polizeiliche-kriminalstatistik-misshandlung-von-kindern.1818.de.html?dram:article_id=320246

"Erschreckende Bilanz - 2014 ist die Zahl der misshandelten Kinder gestiegen"
http://www.lokalkompass.de/luenen/ratgeber/erschreckende-bilanz-2014-ist-die-zahl-der-misshandelten-kinder-gestiegen-d553178.html


"Kindesmisshandlung ist eine chronische Krankheit" Die Zahl der Kindesmisshandlungen steigt stärker, als von der Polizei berichtet, sagt der Rechtsmediziner Michael Tsokos. Immerhin wird jetzt mehr hingesehen
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2015-05/kindesmisshandlung-statistik-gewalt-tsokos

Eine große Ausnahme war ein Bericht in der Tagesschau, der auf Grund der selben Ausgangsdaten (Kindestötungen und Anzeigen wegen sexueller Gewalt gegen Kinder sanken nämlich) zu folgendem Titel kommt:
Gewalt gegen Kinder in Deutschland nimmt ab. "Jedes betroffene Kind ist eines zu viel"
http://www.tagesschau.de/inland/kindesmisshandlung-103.html

Montag, 11. Mai 2015

Doku "Das radikal Böse"

Kürzlich hat das ZDF den Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ von Stefan Ruzowitzky gezeigt. (leider ist der Film bereits nicht mehr in der ZDF-Mediathek) Ruzowitzky ist studierter Historiker, hat sich in seinem Film aber sehr viel auf psychologische, vor allem auch gruppenpsychologische Thesen bzgl. der Ursachen des Holocaust eingelassen.
Ich möchte den Inhalt des Filmes gar nicht ausführlich besprechen. Der Film zeigt viele interessante Facetten und real wirkende menschliche Gruppenprozesse, deren Wirkungskraft ich gar nicht bestreiten möchte. Erstaunlich ist aber folgendes:
In dem Film kommen einige ausgesuchte Experten ausführlich zu Wort. Darunter auch der Psychiater Robert Jay Lifton, der ab den 1960er Jahren die Psychohistorie mit begründet hat. Lifton, von dem ich keine Arbeiten kenne, hat allem Anschein nach eine andere Herangehensweise an das Thema, als Lloyd deMause. Grundsätzlich bestand aber schon die Wahrscheinlichkeit, dass Stefan Ruzowitzky durch die Beschäftigung mit Lifton auch auf die Psychohistorie nach deMause gestoßen sein könnte. Ich weiß es nicht. Wie auch immer, wie immer fehlte in einer solchen öffentlichkeitswirksamen Doku die Besprechung von Kindheitseinflüssen. Ich warte immer noch auf den Tag, wo sich ein Regisseur ähnlich ernsthaft und ausführlich an die Ursachen extremer Gewalt macht und endlich einmal die Kindheitseinflüsse aufnimmt! Eine Doku, die Thesen von Arno Gruen, Alice Miller und Lloyd deMause ernsthaft aufgenommen hat, ist mir bisher nicht bekannt.

Für mich war „Das radikal Böse“ aber in einem Punkt doch noch interessant. Ich bin hin und wieder schon auf Berichte über Feldpostbriefe gestoßen, wo Kriegsverbrecher nach Hause schrieben.
Einen dieser Briefe habe ich schon in meinem Arbeitspapier erwähnt. Am 10. Oktober 1941 schrieb Walter Mattner an seine Frau in der Heimat über die Tötung von Juden:
Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt das: Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genau so, wenn nicht zehnmal ärger machen würden. (...)“

In „Das radikal Böse“ werden etliche ähnliche Briefe (darunter auch der oben erwähnte) zitiert, die die Täter nach Hause schickten. Die Täter des Holocaust waren ja mehrheitlich vor allem eines: Männlich. Die gezeigten Briefe belegen etwas, worüber ich in der Besprechung des Holocaust bisher keine direkte Forschung gefunden habe. Nämlich, dass die Ehemänner offensichtlich nicht davon ausgingen, dass ihre Frauen irgendein Problem mit dem Massenmorden haben würden. Sie schrieben locker drauf los, wie aus dem Urlaub.
Die Ehefrauen zu Hause haben keine Juden ermordet, aber sie stimmten dem Morden offensichtlich ohne jedes Gewissen zu , sonst hätten diese Männer keine so offenen Briefe schreiben können. „Das radikal Böse“ zeigt also ganz nebenbei etwas über verdeckte weibliche Täterschaft. Ein eigenes, interessantes und oft unbeachtetes Themenfeld. .