Montag, 28. Oktober 2013

US-Drohnenkämpfer und der "Zombie-Modus"

Bei jedem Einsatz schaltet der Drohnenpilot Brandon Bryant auf „Zombie-Modus“ um, wie er sagte.
Die Berichte über schwer belastete bis hin zu traumatisierten Drohnenkämpfern häufen sich. Bryant hat 1.626 Menschen getötet, mehr als ein normaler Frontkämpfer je töten könnte...

Ich habe schon Berichte über diese Drohnenkämpfer gelesen, die deutlich machen, dass diese Art des Krieges den Feind nicht unsichtbarer und ferner macht, sondern diese Piloten ihnen manchmal näher kommen, als dies ein Kämpfer je könnte. Manchmal werden die „Ziele“ wochenlang beobachtet, die Drohnenkämpfer lernen sie kennen, sehen ihre Gewohnheiten, ihre Besuche, ihren Tagesrhythmus und dann kommt der Befehl zum Abschuss… Das besonders verrückte dabei ist zudem, dass diese Kämpfer tagsüber aus ihrem zivilen Leben heraus zu ihrem „Job“ gehen, dort töten und anschließend zu Hause gemeinsam mit Kind und Frau zu Abend essen. Dies kann in der Tat (wie letztlich auch jede andere Art von gezieltem Tötungsakt) nur funktionieren, wenn diese Menschen auf innerliche abgespaltene  Elemente zurückgreifen oder gar in eine andere Persönlichkeit wechseln können. Auf „Zombie-Modus“ umschalten nannte dies Bryant. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Soldat als Kind elterliche Gewalt erfahren hat, wahrscheinlich sogar in schwerer Form. Gesund aufgewachsene, als Kind geliebte Menschen haben keinen „Zombie-Modus“ auf den sie zurückgreifen können.

Samstag, 19. Oktober 2013

Martin Miller: Das wahre "Drama des begabten Kindes". Eine kritische Besprechung

Ich habe jetzt das Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes`. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“ von ihrem Sohn Martin Miller veröffentlich 2013 im Kreuz Verlag gelesen. Der Hauptgrund für mich, das Buch zu lesen, war letztlich der Untertitel und einige Interviews, die Martin Miller gab. Der Untertitel macht bereits die Sicht des Sohnes deutlich (was er auch in Interviews wiederholte). Er sieht Alice Miller und deren destruktiven Umgang mit ihm vor allem vor dem Hintergrund ihrer Traumatisierungen im Krieg. Diese Konzentration auf diesen Punkt sehe ich hingegen kritisch. Aber dazu im Textverlauf mehr. Ein weiterer Grund für mich, das Buch durchzusehen, war, dass die Gefahr besteht, dass das Buch dahingehend missbraucht wird, Alice Millers Bücher und ihre Thesen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Nach dem Motto: Einer die derart bösartig mit ihren Kindern umging, kann mensch doch eh nichts glauben, schon gar nicht, wenn sie über Kindheit und Kinderschutz schreibt.

Martin Miller bringt mit einem Satz sein ganzes Anliegen auf den Punkt: „Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin.“ (S. 25) Ihm geht es vor allem um seine ganz persönliche Geschichte, darum, die Schweigemauer darum abzubrechen und endlich öffentlich zu machen, wie schlimm es ihn als Kind mit dieser hoch verehrten Frau erging. Dazu hat er das volle Recht. Gleichzeitig betont er, dass das Werk seiner Mutter von enormer Bedeutung ist (auch für seine eigene Arbeit als Psychotherapeut). Wer Millers Werk auf Grund dieses Buches nun grundsätzlich ablehnt, der hat weder den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen noch das Anliegen ihres Sohnes verstanden.

Ich möchte nur kurz skizzieren, was Martin Miller als Kind erlitten hat, da es mir vordergründig darum geht, den Untertitel des Buches zu kritisieren. Um es zusammenzufassen: Martin Millers Kindheit war ein Albtraum. Sein Vater war ihm gegenüber verachtend, cholerisch, autoritär und misshandelte ihn körperlich. Zudem fühlt sich Martin durch seinen Vater in sehr verschleierter Weise auch sexuell missbraucht.  Alice Miller schützte ihren Sohn nicht vor den Quälereien durch den Vater. Zwischen den Eltern herrschte zudem fast immer Streit bzw. geradezu ein Ehekrieg. Alice scheint als Mutter oft abwesend, sehr beschäftigt, vernachlässigend und herzlos gewesen zu sein. Am ersten Schultag ihres Sohnes kam sie nicht auf die Idee, ihn zu begleiten, was er ihr später vorwarf. Die Eltern sprachen miteinander nur polnisch, was Martin nicht verstand, er  hatte nur (Schweizer-)Deutsch gelernt, was seine Isolation noch verstärkte.
Seine Mutter gab Martin sofort nach der Geburt zu einer Bekannten zur Pflege. Nach zwei Wochen holte seine Tante ihn zu sich, da Martin sich in einem sehr schlechten Zustand befand;  rückblickend sagte eine Verwandte: „Wenn wir dich nicht geholt hätten, wärest du gestorben.“ (S. 117) Dort blieb er ca. ein halbes Jahr, seine Eltern blieben Fremde für ihn. Mit ca. 6 Jahren wurde Martin für zwei Jahre in ein Kinderheim gegeben, nachdem seine Schwester mit einem Downsyndrom geboren worden war und die Familie daraufhin förmlich explodierte, wie Martin schreibt. (S. 72). Auch als Martin erwachsen war, verfolgte ihn seine Mutter weiter. „Sie gab mir tatsächlich das Gefühl, ein Monster zu sein, das sie vernichten wollte.“ (S. 24) Alice Miller hatte ihren erwachsenen Sohn später zudem in eine Therapie gedrängt. Sie bekam Tonbandaufnahmen der Therapiestunden geschickt und versuchte auf deren Grundlage wiederum ihren Sohn zu manipulieren. Ein ungeheuerlicher Verrat. Nachdem der Konflikt mit seiner Mutter weiter eskalierte, stand Martin schließlich kurz vor dem Suizid.

Alice Miller war als Mutter eine Katastrophe und hat total versagt, was sie in späteren Briefen an ihren Sohn auch zugestand. Der Sohn betrachtet all die Familienprobleme vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust (Alice Miller war Jüdin und wurde in Polen verfolgt. Ihr Vater starb im Getto) und ihrer Traumatisierung im Krieg. Daher auch der Untertitel des Buches. Ich sehe dies kritisch. Mehr noch, ich fühle mich geradezu verpflichtet, etwas dazu zu schreiben, weil Martin Miller als Sohn von Alice Miller durch diese Tendenz in seinem Buch etwas ausblendet, worüber seine Mutter ihr Leben lang geforscht und geschrieben hat: Die ungemein destruktiven Folgen von elterlicher Destruktivität.

Das Buch beginnt mit einem Brief von Alice Miller an ihren Sohn im Jahr 1987. Sie schrieb:
Warum brauchte ich 30 Jahre, um die Augen zu öffnen? Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie systematisch die Liebe und das Leben in mir zerstörte und später das Gleiche mit meiner Schwester und meinem Neffen tat? Weil die Verdrängung der Schmerzen aus der Kindheit so unheimlich stark + weil ich, um sie aufrechtzuerhalten, lernen musste, nichts zu merken, nicht zu fühlen + den verlogenen Versicherungen, sie würden mich `lieben`, zu glauben. (…) Meine Mutter war ein grausamer Mensch, sie hat das Leben ihrer beiden Kinder ohne eine Spur des schlechten Gewissens zerstört und hielt sich für liebend und sorgend. “ (S. 10, 11) Nur wenige Seiten weiter schreibt ihr Sohn Martin: „Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebende Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.“ (S. 22) Ab Seite 31 geht er dann auf ihre Familie und Kindheit etwas vertiefend ein und bleibt dabei zunächst auf der Ebene, die seine Mutter ihn immer vermittelte. Die streng religiöse jüdische Erziehung, die von Alice Miller als autoritär und stumpf erlebt wurden, beschreibt auch der Sohn. Und er schreibt, wie bei ihm Wut und Verbitterung ankam, wenn seine Mutter darüber berichtete. (vgl. S. 32) Erst ab Seite 42 kommt Martin etwas mehr auf den Punkt, dass seine Mutter als Kind einsam war, ihre Eltern als schlimm empfand und Züchtigungen (was auch immer das genau an Gewalt bedeutet haben mag) der Mutter ausgeliefert war.  Gleich danach beginnt das Kapitel „Verleugnetes Trauma- die Überlebende“ (S. 47ff), in dem es um die Holocaust-Erfahrungen seiner Mutter geht. 
Und auch im restlichen Teil des Buches nimmt die schlimme Kindheit von Alice Miller kaum oder eigentlich gar keinen Platz mehr ein. Und das, obwohl er erneut einen Brief seiner Mutter abdruckt, der deutlicher nicht sein könnte und, in dem sie u.a. schreibt: 
Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht . (…) Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch (…). Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ (S. 132) Martin kommentiert dies nicht, sondern eröffnet gleich auf der nächsten Seite 133 das Kapitel „Der Sohn als Verfolger – die Macht des Kriegstraumas“  (Auf der Buchrückseite hat der Verlag übrigens die Inhaltsangabe mit dem groß gedruckten Satz "Im Schatten des Krieges" kommentiert; eigentlich hätte es heißen müssen: Im Schatten der Eltern und des Krieges.) Das Buch endet schließlich nach weiteren diversen Ausführungen mit einem Nachwort des Traumatherapeuten Oliver Schubbe, der sich getreu der Aufmachung des Buches auf die Nachwirkungen kriegsbedingter Traumatisierungen auf die nächste Generation konzentriert und nur allgemein auf Kinderschutz und die entsprechenden Mahnungen von Alice Miller hinweist. 

Es ist zusammenfassend absolut erstaunlich und geradezu nachlässig, dass nun gerade der Sohn von Alice Miller die destruktive Kindheit seiner Mutter nicht nur nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sie an die Seite schiebt, zugunsten ihrer Kriegstraumatisierungen. (Auf Seite 65  + 66 fragt sich Martin auch, warum sein Vater ihm Gewalt antat und fügt an, dass dieser wohl die Spannungen in der Beziehung zu seiner Mutter auf diese Art an ihm ausagierte. Er kommt gar nicht auf die Frage, ob sein Vater als Kind auch misshandelt worden ist, was mehr als wahrscheinlich ist.) Komplett fehlt auch ein verknüpfender Hinweis oder Gedanke. Die Frage, wie sich kindliche Traumatisierungen im Elternhaus UND Kriegstraumatisierungen miteinander zu einer gefährlichen Masse verknüpfen können, taucht gar nicht auf. Alice Miller erlebte den Holocaust ab ihrem 16. Lebensjahr. Ihre Psyche und ihr Gehirn waren in sofern schon sehr weit entwickelt. Der Holocaust traf allerdings auf einen Menschen, der als Kind ungeliebt war. Alice Miller muss das  Leben und die Welt als einen einzig dunklen und grausamen Ort erfahren haben. Kaum ein Forschender, der sich mit den Folgen von Kriegstraumatisierungen befasst, stellt die Frage, wie als Kind geliebte Menschen traumatische Erfahrungen wie Krieg verarbeiten. Ich persönlich vermute sehr stark, dass es deutliche Unterschiede bzgl. den Menschen gibt, die als Kind durch Eltern ungeliebt waren.  Wer als Kind elterliche Liebe, Geborgenheit und Glück und keine elterliche Gewalt erfahren hat, besitzt einen unschätzbaren Schatz und ein Gefühlsleben, an das sich auch nach z.B. Kriegserfahrungen wieder erinnert werden bzw. auf das  erneut aufgebaut werden kann. Hätte eine als Kind geliebte Alice Miller, die allerdings zum Holocaust-Opfer wurde, ihren Sohn genauso destruktiv behandelt? Meine Vermutung; Nein, das hätte sie nicht. Erst der Misch aus beiden traumatischen Erfahrungen tötete ihr Gefühlsleben in so weit ab, dass sie ihren Sohn derart psychisch misshandeln konnte und sein Leiden nicht sah, nicht nachfühlen konnte.

Abschließend möchte ich noch schreiben, dass Alice Miller und ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern  ein weiteres Lehrstück dafür ist, wie aus Opfern TäterInnen werden können. Dass eine so bedeutsame Kindheitsforscherin ihre eigene Geschichte an ihren Kindern wiederaufführte, zeigt die ungeheure destruktive Kraft von Lieblosigkeitserfahrungen. Alice Miller und das Zeugnis ihres Sohnes haben in tragischer Weise die Thesen belegt (Entwicklung vom Opfer zum Täter), die Miller ihr Leben lang bearbeitet und veröffentlicht hat. Das Buch ihres Sohnes ist wiederum bzgl. dem starken Einfluß von Kindheitserfahrungen auf eine Weise blind geblieben.

Samstag, 12. Oktober 2013

Eine Kritik an Volker Ullrichs Biografie über Adolf Hitler

Der Publizist Volker Ullrich hat eine große Hitler Biografie (mit über 1000 Seiten) vorgelegt, die aktuell in vielen Medien besprochen wird: „Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939“ erschienen 2013 im Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Hinweis vorweg: Da ich das Buch als E-Book durchgesehen habe und bei meiner Ausgabe keine Möglichkeit der Seitenanzeige vorliegt, zitiere ich nachfolgend leider ohne genaue Seitenangabe...

Wesentliches Ziel dieser Biografie ist erklärter Maßen, die Leere um Hitlers Leben/Privatleben und seine privaten Eigenschaften zu füllen. Ullrich beschreibt zunächst, wie viele Autoren die Person Hitler als eine Art leere Hülle beschreiben, als einen Menschen, der privat nicht greifbar zu sein scheint. „In diesem Buch soll nun versucht werden, dieses Bild zu korrigieren. Es bemüht sich um den Nachweis, dass die behauptete Leere von Hitlers Existenz jenseits seiner politischen Aktivitäten ein Trugschluss ist.“, schreibt er.
Ich folge bekanntlich den Gedanken von Arno Gruen (in seinem Buch "Der Fremde in uns"), der Hitler als eine „Nicht-Identität“ sieht, als einen Menschen, der in der Tat innerlich absolut leer ist und der als Kind keinen empathischen Kern herausbilden konnte. Insofern sind die grundsätzlichen Beobachtungen und Einschätzungen anderer Biografen im Kern (sie erkennen die menschliche Leere aber nicht die Ursachen dafür) absolut richtig: Jemand, der im Grunde keine ganze und eigene Identität besitzt, der wird auch nicht greifbar. Menschen ohne Identität sind zudem oftmals gute Rollenspieler (was Hitler in Perfektion betrieb), weil sie ihr innere leeres Blatt je nach Belieben und Situation „bemalen“ können. Ullrich sieht dies offensichtlich anders. Und es verwundert insofern auch nicht, dass er sehr bemüht ist, Hitlers Kindheit als durchaus normal und als nicht sonderlich traumatisch zu beschreiben. Er braucht einen möglichst normalen, nicht persönlichkeitsgestörten Hitler, um ihm ein privates, menschliches Leben einzuhauchen (etwas, dass Hitler in meinen Augen nie besessen hat)

Ullrich befasst sich entsprechend nur kurz (in Kapitel 1 „Der junge Hitler“) mit der gewaltvollen Familienatmosphäre bei den Hitlers. Das ist das eine. Aber mehr noch, er interpretiert die Gewalterfahrungen klein. „Im Kreis seiner Familie wirkte Alois Hitler als strenger, leicht aufbrausender Hausvater. Von seinen Kindern forderte er unbedingten Respekt und Gehorsam und Griff, wenn sie ihm nicht entgegengebracht wurden, gern zum Rohrstock.“, schreibt Ullrich zunächst.
 Vor allem der älteste Sohn hatte unter dem Jähzorn zu leiden, so der Autor weiter, „aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein. Dass er `jeden Tag eine richtige Tracht Prügel` bekommen habe, wie seine Schwester Paula bei einem Verhör im Mai 1946 berichtete, dürfte indes eine Übertreibung sein.“ Warum er dies als „Übertreibung“ interpretiert, erklärt er gleich im nächsten Satz; nämlich, weil Hitlers Vater sich „im Grunde wenig um die Erziehung der Kinder“ kümmerte und sich nach seiner Arbeit lieber mit anderen Dingen außerhalb der Familie befasste. Aha. Ein oft abwesender Vater ist also gleich auch ein Vater, der seine Kinder nicht täglich misshandeln kann? Dieser Gedankengang scheint mir wenig logisch. Faktisch wohnte und schlief Hitler Vater zu Hause. Wenn er seine Kinder misshandeln wollte, dann reichten dafür auch täglich 15 Minuten. Zudem schreibt Bavendamm (2009, S. 100) dass sich Alois sen. (Hitlers Vater) 1895 pensionieren ließ und dadurch „die innerfamilären Spannungen eskalierten“, da er sich jetzt auch tagsüber zeitweise zu Hause aufhielt. Adolf war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt!

Grundsätzlich finde ich aber auch die Zweifel an der Aussage von Hitlers Schwester unangebracht.
Erstens: Warum sollte sie bei so etwas lügen? Ich sehe da kein Motiv. Außerdem sei angemerkt, dass sie in einem späteren Zeitungsartikel ihrer Mutter und deren Erziehung die Schuld an Adolf Hitlers Werdegang zuschob. „Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist mein Bruder vor allem durch unsere Mutter verdorben worden.“ (Zdral 2005, S. 201) Paula machte die Schuld der Mutter darin aus, dass in ihrer Erziehung eine „festere Hand“ und „ein paar kräftige Ohrfeigen“ gegenüber Adolf gefehlt hätten.  (ebd., 201+202) Stattdessen habe die Mutter in Adolf immer nur den Stärksten und Größten von allen gesehen. Paula war also selbst stark mit dem Aggressor identifiziert (wie so Viele ihrer Zeit) und sah in Schlägen gegen Kinder eine Möglichkeit, diese von bösem Verhalten abzubringen. Dazu passt auch, was Paula vor dem o.g. Auszug über tägliche Prügel sagte: „Mein Bruder Adolf forderte meinen Vater zu extremer Strenge heraus und erhielt dafür jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.“ (ebd., S. 39) Die Schuld für die Prügel liegen dieser Aussage nach also im Verhalten des Kindes Adolf, dass dazu „herausforderte“. Paula hatte offensichtlich kein Problem mit der Erziehung durch Schläge. Nochmal: Warum sollte sie bei so etwas also lügen? Warum sollte sie eine schwere Misshandlungsgeschichte als „Übertreibung“, wie Ulrich schreibt,  den Interviewern auftischen?
Zweitens: Es gibt hinreichend andere Belege für die väterliche Gewalt. (siehe z.B. online ausführlich hier, wobei es schon erstaunlich oder auch bezeichnend ist, dass dieser quellenbasierte und in sich logische Text in einem nur halb-seriösen Verlag wie Kopp erscheinen musste und nicht woanders.) Ullrich selbst fügt den o.g. Zweifeln die Fußnote 79 an. Er zitiert darin Kubizek – einen Freund Hitlers-, der  berichtete, Hitler hätte gesagt, dass Auseinandersetzungen mit seinem Vater „oftmals“ mit Prügeln endeten. Ullrich zitiert in der selben Fußnote auch die Aussage einer Hitler Sekretärin (die ich ebenfalls hier ausführlich zitiert habe), die Hitlers Erzählung von 32 väterlichen Schlägen in einer Misshandlungssituation wiedergab. Dann fügt Ullrich noch den Autor Bavendamm als "relativierende" Quelle an und verweist auf Seite 114f.

Schaut man sich diese relativierende Quelle genau an, kommt man vom einen Erstaunen zum nächsten. Der Historiker Bavendamm beginnt seine Schilderungen damit, dass er von „angeblich reichlichen und harten Körperstrafen“ spricht. (Bavendamm 2009, S. 114) Wohlgemerkt, er schreibt „angeblich“. Die Zweifel des Autors rühren her von sich widersprechenden Aussagen – wie er schreibt - von Adolfs Stiefgeschwistern, seiner Schwester Paula und dem späteren Vormund Adolfs Josef Mayrhofer. Letzterer hat geäußert, dass er nicht daran glaube, dass die Kinder durch Alois sen. geschlagen worden seien. Der Zeitzeuge bestätigt aber im selben Satz, dass oft geschimpft, gepoltert und mit Schlägen gedroht wurde. „Aber Sie wissen ja selber, bellende Hunde beißen nicht.“, fügte er dann noch an. (ebd.).  Die Vermutung dieses Zeugen, dass nicht geschlagen wurde, obwohl er selber Hinweise für sehr bedrohliche Situationen gab, wird von Bavendamm als Indiz für weniger handfeste Misshandlungen genommen. Das finde ich mehr als fragwürdig. Zudem, selbst in der damaligen Zeit war es unangebracht, Schläge – dabei auch gerade schwere Misshandlungen - in der Gegenwart von Gästen zu verabreichen. Diese erfolgten, wenn die Familie wieder unter sich war. Was Familienmitglieder berichteten fügt der Zweifler Bavendamm gleich im Anschluss an:
Adolfs Halbschwester Angela Hammitzsch berichtete 1945, ihr Vater habe seinen Sohn Adolf „zwei- bis dreimal pro Woche verhauen“. (ebd.) Paula berichtete, wie schon oben erwähnt, von täglichen  Prügel, auch dies wird hier vom Autor zitiert. William Patrick Hitler sprach davon, dass Adolf „oft von seinem Vater verprügelt“ wurde, allerdings nicht so oft und heftig, wie der Bruder Alois Hitler jr. (ebd.) Danach zitiert Bravendamm noch Hitlers Sekretärin, die von den schon oben erwähnten 32 Schlägen und davon berichtete, dass Hitler zufolge sein Vater ihn bei „jeder sich bietenden Gelegenheit“ geschlagen habe. (ebd.) Abschließend schreibt der Autor. „Angesichts all dieser Aussagen fällt es schwer, Dauer und Gewicht der körperlichen Misshandlungen, die Adolf durch seinen Vater erlitten hat, richtig einzuschätzen und zuverlässige Aussagen darüber zu machen, welche psychischen Folgen diese Züchtigungen für den Bub möglicherweise gehabt haben.“ (ebd., S. 115)
Ich weiß nicht wie es anderen LeserInnen geht, aber mir kommen diese Schilderungen so vor, als ab ein Sehender sich blind stellt. Aus Aussagen wie „zwei- bis dreimal pro Woche“, „täglich“, „oft“ und „bei jeder Gelegenheit“ bis hin zu 32 Schlägen und einmal „ich glaube nicht“ von einem Nicht-Familienmitglied wird sich „widersprechende Aussagen“, die Grund zu Zweifeln lassen. Das verstehe wer will, ich verstehe es nicht. Alle o.g. Quellen bzw. Zeugenaussagen von Familienmitgliedern belegen den Tatbestand der nicht seltenen sondern häufigen Misshandlung. Ob dies nun täglich oder wöchentlich war, oder manchmal  einige Wochen täglich und einige nur einige Tage pro Woche, spielt dabei keine all zu wesentliche Rolle. Häufige Misshandlungen haben immer schwere Schäden für das Kind zur Folge. Bavendamm schreibt zwei Seiten weiter auch: „Ein oder zweimal kam es wohl auch zu echten Gewaltexzessen.“ (ebd., S. 116) und „Als Adolf von seinem Vater dabei erwischt wurde, wie er sich für seinen Fluchtversuch zusammen mit zwei Freunden ein Floß baute, wurde er so schlimm zusammengeschlagen, dass man wohl befürchten musste, er sei getötet worden.“ (ebd., S. 117) Letztere Aussage stammte wiederum von William Patrick Hitler, der an anderer und oben zitierter Stelle sagte, Adolf sei nicht so hart geschlagen worden, wie Alois jun. Immerhin relativiert sich Havenmann an einer Stelle selbst. "Narzisstische Kränkungen (...) und hin und wieder auch eine heftige Tracht Prügel musste Adolf gewiss einstecken, das raue Klima, das Alois zu Hause um sich verbreitete, soll nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden." (ebd., S. 117) Ja was denn nun? Also war Adolf  doch ein schwer misshandeltes Kind, wenn auch nur durch eine Quelle belegt täglich geprügelt? Streiten wir jetzt um tägliche oder wöchentliche Prügel?

Um hier abzuschließen und wieder auf den eigentlichen zu kritisiernden Autor Volker Ullrich zurückzukommen: Eine so merkwürdige Fußnote wie die Nr. 79 ist mir noch nie untergekommen. Sie unterstützt zunächst die These, dass Hitler ein schwer misshandeltes Kind ist, obwohl sie Zweifeln bzgl. der Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen im Text angefügt ist. Diese Fußnote hätte Sinn gemacht, wenn nur der Autor Bavendamm genannt worden wäre, da dieser die Zweifel teilt. Eine genaue Durchsicht der Argumente Bavendamms wiederum bringt mich zu den gleichen Fragezeichen, die sich schon bei Ullrich auftaten. Insofern muss ich mich gleich wieder verbessern: Auch der Hinweis auf den Autor Bavendamm macht kaum Sinn, um Zweifel an der Misshandlungsgeschichte Hitlers zu stützen.  

Nach Volker Ullrichs Besprechung der Vater-Sohn-Beziehung folgt in seinem Buch dann die Darstellung, dass Hitlers Mutter liebevoll war und sie ihm einen Ausgleich zu der Strenge des Vaters bot. Ich verweise dabei erneut auf Arno Gruen ("Der Fremde in uns"), der diese Mutter-Kind-Beziehung als deutlich gestört analysiert hat. Schließlich wird Ullrich nochmal überdeutlich in seiner Ablehnung von zu viel Kindheitseinflüssen auf die Entwicklung von Menschen wie Hitler. Er schreibt:
Die ersten Lebensjahre  gelten nach den Annahmen der Psychoanalyse als entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Nur wenige Historiker, Psychohistoriker zumal, haben daher der Versuchung widerstanden, im jungen Hitler bereits Züge des späteren Monsters entdecken zu wollen. So hat man etwa die Gewalterfahrung, der das Kind durch den Vater ausgesetzt gewesen sei (Persönliche Anmerkung: Er schreibt hier nicht „ist“, zweifelt also erneut), als eine der Ursachen für die mörderische Politik des Diktators interpretiert. „ (Persönliche Anmerkung: Diesem Satz schließt er die Fußnote 85 an und verweist u.a. auf Alice Millers „Am Anfang war Erziehung“ und Christa Mulacks „Klara Hitler“. ) Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. Ein autoritär-repressiver Vater und eine liebevoll-ausgleichende Mutter – diese Konstellation war in Mittelstandsfamilien um die Jahrhundertwende keineswegs ungewöhnlich. Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben. Jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen. Wenn es ein Problem gab, dann war es wohl nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an mütterlicher Zuwendung und Nachsicht. (…)“
Diesen Abschnitt muss man erst einmal sacken lassen. Irgendwie scheint Ullrich ja doch deutlich anzuerkennen, dass Adolf Hitler einen autoritären, gewaltvollen Vater hatte, die besondere Schwere der Gewalt zweifelt er allerdings wie oben beschrieben an. Und da Gewalt gegen Kinder und eine autoritäre Erziehung damals „normal“ waren, war also auch Hitler „normal“, ein ganz „normal“ misshandeltes Kind eben. Ja, so war das damals.
Ullrich hat Millers „Am Anfang war Erziehung“ gelesen. Insofern trifft doch die Feststellung über die Normalität der Gewalt gegen Kinder um 1900 genau eben die Thesen von Alice Miller.  Denn Hitler konnte nur Erfolg haben, weil auch die Massen keine liebevolle, sondern eher eine gewaltvolle und lieblose Kindheit erlitten hatten. Ullrich scheint dies hier auszublenden. Weil fast alle Menschen damals Gewalt erlebten, waren alle normal, sprich der Norm entsprechend. Also sprechen wir bitteschön nicht weiter über die Kindheitseinflüsse auf politisches Verhalten. Und außerdem waren da ja noch die ganz „normalen“ Mütter um 1900, die „liebevoll-ausgleichend“ agierten. Dem entgegen stehen psychohistorische Forschungen von deMause (2005, S.212-255), die belegen, dass Frauen die gesamte Geschichte hindurch brutal und grausam zu Kindern waren. In diesem Blog habe ich etliche Zahlen zusammengestellt, die deutlich zeigen, dass Mütter in vielen Ländern sogar häufiger Gewalt gegen Kinder anwenden, als Väter. Und dies ist nicht ein moderner Trend, sondern letztlich ein deutlicher Ausläufer der Geschichte, denn Kinder waren historisch diejenigen, über die Frauen routinemäßig viel Macht hatten.

Abschließend möchte ich meinen Eindruck wiederholen, dass Ullrich (genau wie der Historiker Bravendamm) sich obwohl er sehen kann, blind stellt. Ich habe bisher viele Bücher von Historikern gelesen, die sich mit Diktatoren und ähnlichen Akteuren befassen und die entweder Berichte über eine gewaltvolle Kindheit ganz auslassen oder sie kurz erwähnen ohne diesen besondere Bedeutung zukommen zu lassen oder die Gewalt erwähnen, aber sie im Sinne der Zeit als wohlgemeinte Erziehung umdeuten. Ich habe noch nie Bücher wie die vonn Ullrich und Bravendamm in den Händen gehabt, in denen die Autoren verhältnismäßig ausführlich auf kindliche Gewalterfahrungen eingehen und diese dann mit Zweifeln und Geringwertung überschütten. Beides sind zudem aktuelle Bücher. Beide Autoren hätten heute die Möglichkeiten gehabt, sich mit den gut erforschten Folgen der Kindesmisshandlung auseinanderzusetzen. Das solche Biografien auch heute noch in dieser Art Kindheitseinflüsse gering reden, ist niederschmetternd. Zu hoffen ist, dass die jüngere Historikergeneration dies zuzkünftig anders händelt (Bavendamm ist Jahrgang 1938 und Ullrich 1943).



Ergänzend verwendete Quelle: 

Bavendamm, Dirk (2009): Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889-1914. Ares Verlag, Graz.

Restlichen siehe Links und Hinweise im Text