Donnerstag, 26. November 2020

89 Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und KEIN Wort zum Thema Kinderschutz!

Die Bundesregierung hat am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. 1 Milliarde Euro wird zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. 

Ich ahnte es schon nach den ersten Presseberichten und habe mir heute nun den Maßnahmenkatalog im Detail angeschaut: Es gibt keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz geht, keine! 

Dazu würde gehören: Prävention von Kindesmisshandlung in all ihren Formen und von häuslicher Gewalt in Verbindung mit „Elternbefähigungsprogrammen“. Dazu würde gehören, dass die Gesellschaft „traumasensibel“ und „traumainformiert“ wird. Das Wissen um Ausmaß und Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) muss gesamtgesellschaftlich zum Allgemeinwissen werden. Alle Menschen sollten darüber aufgeklärt werden, dass Psychotherapien helfen können, die Folgen von traumatischen Erlebnissen abzumildern und sie sollten wissen, wie man an solche Therapieplätze kommt. Der „Kreislauf der Gewalt“ gehört besprochen. Eltern (Elternführerschein?) sollten aufgeklärt werden, welche Verhaltensweisen Kinder schädigen und wie sich dies lebenslang auswirken kann. Eltern sollten darüber aufgeklärt werden, dass eigene destruktive Kindheitserfahrungen oft an die nächste Generation weitergebeben werden. Eltern sollten Hilfsangebote aufgezeigt werden. Alle wichtigen Infos zum Thema Kindesmisshandlung müssen standardmäßig in die Ausbildung von Lehrkräften und ErzieherInnen verankert werden. Und und und….! Es gäbe sooo viel zu tun, was Gewalt und Extremismus den Boden entzieht, aber kein Wort in dem Katalog der Bundesregierung! 

Und: Das schöne ist, dass diese Maßnahmen "nette Nebeneffekte" hätten: z.B. weniger Gesundheitsprobleme, weniger Suchtmittelmissbrauch, weniger Kriminalität und letztlich - das wird die Politik besonders interessieren - weniger gesamtgesellschaftliche Kosten. Eine von der WHO finanzierte Studie aus dem Jahr 2019 kalkuliert die jährlichen Kosten, die auf Grund belastender Kindheitserfahrungen (ACEs) entstehen, auf 581 Milliarden $ in Europa und 748 Milliarden $ in Nord Amerika. Was sind dagegen schon 1 Milliarde Euro aus dem aktuellen Maßnahmenkatalog der Bundesregierung?

Leider ist das gesamtgesellschaftliche Ausblenden von Kindheitserfahrungen meine Dauererfahrung bei dem Thema und gleichzeitig auch mein Antrieb für meine Arbeit in dem Bereich. In meinem Buch habe ich dazu bereits ausführlich etwas im Kapitel „Das große Schweigen“ geschrieben. 

Ein Paradebeispiel ist für mich auch das 2020 vom Bundeskriminalamt herausgebrachte „Handbuch Extremismusprävention“.  In dem über 750 Seiten starken Handbuch gibt es keinen Beitrag, der schwerpunktmäßig auf die familiäre Sozialisation und Kindheit von Extremisten schaut. Und nur in einem einzigen Beitrag (von Brahim Ben Slama) wird dieses Thema überhaupt in den Blick genommen und als mögliche Ursache für eine Radikalisierung verortet; allerdings auch nur mit wenigen, knappen Ausführungen, die im Gesamtkontext nicht ins Gewicht fallen. Der Extremismusforscher und Leiter des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Matthias Quent, hat Ende 2020 das Buch „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ herausgebracht. Keine dieser 33 Fragen richtet sich auf die Kindheit und Familie. Die Frage, woher eigentlich der Hass kommt, wird in dieser Hinsicht nicht von Quent beantwortet. Die Beispiele ließen sich unzählige Male fortführen. 

Es verwundert daher auch nicht, dass die Bundesregierung das Thema „Kindheit und Rechtsextremismus“ nicht auf dem Zettel hat. Sie wird von WissenschaftlerInnen beraten und leider gibt es da in Deutschland keinen Fokus auf die Kindheitsursprünge von Extremismus. Auch die NS-Zeit wurde bisher nicht wirklich umfassend aufgearbeitet, trotz der Ende der 1930er Jahre beginnenden Arbeiten um Horkheimer und seiner „Studien über Autorität und Familie“ und trotz des „Geschwister-Scholl-Preises“ 2001 für Arno Gruen und sein Buch „Der Fremde in uns“. 

Es ist zum Heulen!

Dabei ist das Ganze paradox! Es gibt mittlerweile etliche Forschungsarbeiten, die zentral die familiäre Sozialisation und Kindheit von RechtsextremistInnen in den Blick genommen und hieraus Schlüsse gezogen haben. Ergänzt wird dieses Bild durch einzelne, autobiografische Buchveröffentlichungen ehemaliger RechtsextremistInnen und mehr noch durch Medienberichte über einzelne rechte GewalttäterInnen (siehe auch meinen Blog). Kriminologische SchülerInnenbefragungen runden das Bild ab. Sie zeigen einen Zusammenhang zwischen destruktiver Erziehung und (rechts-)extremistischen Einstellungen auf.

Destruktive, ja oftmals sogar traumatische Kindheitshintergründe scheinen demnach DIE zentrale Gemeinsamkeit von RechtsextremistInnen zu sein. Ihre Kindheitshintergründe ähneln somit eher denen von (gut erforschten) Risikogruppen wie z.B. allgemeinen/unpolitischen (Gewalt-)StraftäterInnen oder PsychiatriepatientInnen.  

Diese „Sehen-Wollen“ und „Erkenntnisse-Sammeln“ bezogen auf die tieferen Ursachen von Gewalt und Extremismus auf der einen Seite (denn die Einzelarbeiten und Einzelstudien gibt es ja!) und dieses fehlende Sprechen darüber, die fehlende Öffentlichkeit, der fehlende Fokus der Wissenschaft und am Ende eben auch die fehlenden, nachhaltigen Maßnahmen auf der anderen Seite sind paradox, aber wahrscheinlich wiederum mit Kindheitserfahrungen zu erklären. Destruktive Kindheitserfahrungen sind derart weit verbreitet und haben unsere menschliche Geschichte stets dominiert, so dass wir nur Stück für Stück und gut dosiert darauf schauen können. Die Gesellschaft als Ganzes muss erst einmal so weit sein, dass sie es auch erträgt, wirklich hinzuschauen. Ich bin mir sicher, dass wir hier in Deutschland auf dem Weg sind. Es wird noch eine Weile, aber nicht mehr ewig dauern, bis der Damm bricht und das Thema breit auf den Tisch kommt, inkl. der psychohistorischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Wir kennen das auch aus der Psychoanalyse: Die Wahrheit will einfach an Licht und sich ausdrücken. Dafür brauchen wir einen stabilen Rahmen und auch den Willen. Da sich in Deutschland Kindheit stetig entwickelt hat, friedlicher, gewaltfreier und demokratischer wurde und wird und seit den 1980er Jahren parallel das psychotherapeutische Angebot massiv ausgebaut wurde (und dadurch immer mehr Menschen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten konnten), werden wir diesen Weg bald gehen können. Ich bin gespannt, wann es so weit ist. Aber, ich bin und bleibe auch sehr ungeduldig und trage meinen Teil zur Aufklärung bei: Steter Tropfen höhlt den Stein


Montag, 23. November 2020

Terror von Links - Die Kindheit von Peter-Jürgen Boock

Peter-Jürgen Boock war das erste (frühere) RAF-Mitglied, mit dem ich mich befasst habe. Ich wurde am 18.10.2007 auf ihn aufmerksam, als ich in dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“ sah, in der auch Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer-Entführung und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so „lebendig gefühlt“ habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Ich hatte damals bereits viel vom dem Psychoanalytiker Arno Gruen gelesen, der immer wieder beschrieben hat, wie sich einige Mörder im Angesicht des Leids anderer Menschen „lebendig“ fühlen. Gruen sah dabei ursächlich einen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen. Insofern spekulierte ich alleine auf Grund der o.g. Aussage von Boock schon früh, dass bei Boock wahrscheinlich traumatische Kindheitshintergründe zu finden sind. 

Erstmals bestätigt fand ich diese Vermutung Anfang 2015, was ich in einem Blog-Beitrag kurz ausgeführt hatte. Allerdings gab es bis dahin nur oberflächliche Infos über seine Kindheit. Vertiefende Infos fand ich während meiner Recherchen für mein Buch. Auf Seite 189 habe ich darin kurz die destruktive Kindheit von Boock beschrieben: von der frühen Trennung von seinen Eltern, dem häufigen Alkoholkonsum des Vaters, der dann nicht selten grob wurde (was vermutlich auch Gewalt bedeutete) und von der - auf Antrag der Eltern – Unterbringung des 17-Jährigen Peter-Jürgen in einem geschlossen Jugendheim in Glückstadt, wo die Erzieher, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Zöglinge mit Gummiknüppeln verprügelten. 

Nach der Buchveröffentlichung fand ich weitere Informationen. Wuschnik schreibt, dass Boock schon früh versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen (da war er ca. 16 Jahre alt). 1969, nach dem er auf Grund von Drogendelikten in Jugendarrest kam, unternahm er erneut einen Selbstmordversuch (Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 198). Diese Info alleine deutet auf schwere Belastungen hin. Und sie zeigt auch (ganz nach Arno Gruen), wie sehr Hass auf andere Menschen mit Selbsthass zu tun hat. 

Am 19.11.2020 wurde aktuell ein langes und interessantes Interview mit Peter-Jürgen Boock im „ZEIT-Magazin“ (Nr. 48) veröffentlicht. Es tun sich weitere Abgründe bezogen auf die Kindheit von Peter-Jürgen auf. (Ich habe dies, nebenbei bemerkt, schon mehrmals in der Vergangenheit mit Blick auf Massenmörder, Diktatoren oder Terroristen erlebt: Je länger man recherchiert, je mehr man über die Kindheit dieser Leute in Erfahrung bringt, desto schlimmer wird das Gesamtbild, das man erhält. Früher war ich dann immer geradezu platt, weil ich meine Thesen bestätigt fand („Gänsehaut“): „Das gibt es doch gar nicht!“. Heute und beim Fall Boock nehme ich die neuen Infos sehr nüchtern auf: „Natürlich hatte er eine solch schlimme Kindheit! Wie konnte es auch anders sein? Denn als Kind geliebt und geborgen aufgewachsene Menschen werden keine Terroristen!“) 

Hier nun die wesentlichen, neuen Infos aus dem o.g. ZEIT-Magazin-Interview: 

- Seine frühe Kindheit verbrachte Peter-Jürgen auf der Halbinsel Eiderstedt bei seiner Großmutter. Seine Eltern lebten und arbeiteten in Hamburg und kamen nur alle 2-3 Monate mal vorbei. Boock bezeichnet diese Zeit bei der Großmutter als glücklich. Was er im Rückblick übersieht und wohl sicher auch nicht selbst emotional einordnen könnte ist, dass er als kleines Kind einst von den Eltern verlassen wurde. Dies war ganz sicher eine schwere Belastung für das Kind, auch wenn er danach mit der Großmutter eine gute Zeit hatte. 

- Mit 7 Jahren zog er dann zu seinen Eltern nach Hamburg. Dies war wohl ein schwerer Schnitt, nicht nur wegen der Trennung von der Großmutter, denn als Sohn eines Beamten (sein Vater war Berufssoldat) und mit einem von den Eltern aufgezwungenen Anzug, den er tragen musste, wurde er zur Zielscheibe für andere Kinder, die ihn häufig verprügelten oder ihm auflauerten. 

- Mit ca. 10 oder 12 Jahren suchte er sich dann Freunde, die seinen Eltern nicht genehm waren, darunter auch der spätere Chef der Hamburger Hells Angels. Stück für Stück scheint er dann seinen Eltern entglitten zu sein. Auf die Frage, ob er einen brutalen Vater hatte, antwortete Boock: „Ja.“ Ich gehe insofern davon aus, dass der Vater auch Gewalt gegen seinen Sohn anwandte (was sich schon bei meinen vorherigen Recherchen andeutete – siehe oben). 

- Ein extremes Trauma erlebte er im Alter von 12 Jahren. Er besuchte einen Onkel und dessen Bekannter vergewaltigte Peter-Jürgen. Nachdem Peter-Jürgen seinem Onkel alles erzählt hatte, verprügelte dieser den Bekannten. Der Onkel rief auch die Eltern an und erzählte ihnen alles. Seine Eltern, so sagt Boock, reagierten zu Hause im Grunde gar nicht. Die Vergewaltigung und die Folgen daraus wurden totgeschwiegen. Daraufhin wollte Peter-Jürgen nur noch fliehen, was er auch immer wieder tat. 

- Seine Eltern ließen ihn dann zur Fahndung ausschreiben und er kam, nachdem er aufgegriffen worden war, nach Glückstadt in das Jugendheim (wie oben bereits geschildert). Dass in dem Heim Gewalt vorherrschend war, hatte ich ebenfalls bereits berichtet. Neu war für mich noch einmal der blanke Sadismus der Erzieher (laut Boock aggressive, ehemalige Kriegsversehrte und invalide Heringsfischer). Boock bezeichnet die dortigen Methoden als Folter. Die Erzieher stellten sich in zwei Reihen auf und die durchlaufenden Zöglinge wurden dann von beiden Seiten verprügelt. Besonders krass fand ich die Schilderungen über das „Mumienmachen“. Boock dazu: „Man wurde eingewickelt in so Leinenzeug, aus dem Segel gemacht wurde. Das wurde eingepinselt mit so einem Kalkzeug, das wir Zahnpasta nannten. Das zog sich dann langsam zusammen, bis man das Gefühl hatte zu ersticken. Es war grauenhaft. Es ging langsam, 20, 30 Minuten“ (ZEIT-Magazin, 19.11.2020, Nr 48, S. 20) 

- Später kam Peter-Jürgen dann in ein anderes Heim in Rengshausen und wurde auch dort gleich in einen Strafbunker gesteckt. Aus diesem Heim heraus wurde er dann von Baader, Ensslin und Proll quasi "rekrutiert". 

An dieser Stelle wird auch noch einmal die Bedeutung des Zufalls deutlich, etwas, was ich in meinem Buch bei der Genese von Tätern oder auch Terroristen sehr betont habe. Boock selbst sagt in dem Interview, dass er, wenn seine Eltern ihn nicht zur Fahndung ausgeschrieben hätten und er folglich nicht im Heim gelandet wäre, evtl. Konzertveranstalter geworden wäre, wie so viele der jungen Ausreißer, mit denen er damals in Holland in einer Kommune lebte. 

Natürlich wird nicht aus jedem misshandelten und traumatisierten Kind später ein Terrorist! Bei Boock kam der Zufall bzw. die Begegnung mit Baader & Co. dazu, ebenso der Zeitgeist und die damalige Stimmung im Land. Der Fall Boock zeigt aber, wie so viele andere auch (inkl. Boock habe ich mittlerweile die destruktiven Kindheiten von 16 RAF-TerroristInnen skizziert: siehe dazu in Dynamische Psychiatrie, Vol. 53 (2020), Heft 2-3 bzw. in meinem Buch und hier im Blog), dass destruktive Kindheitshintergründe die Wurzeln des Übels sind. Mit Blick auf seinen Fall kann man auch zugespitzt sagen, dass die Gesellschaft erntet, was sie sät. Die Gesellschaft steht in der Verantwortung, Kinder vor Gewalt und Übergriffen zu schützen und Hilfen anzubieten, wenn dieser Schutz nicht gelingen konnte. Wer wundert sich ernsthaft, wenn solch traumatisierte Menschen später Unheil bringen können? 

Boocks Kindheit soll und kann trotz allem nichts entschuldigen! Das werde ich nicht müde zu betonen. Wenn man das ganze Interview im ZEIT-Magazin ließt, wird allerdings auch deutlich, dass dieser Mensch auch durch seine Taten sich selbst und sein Leben bestraft und schwer belastet hat. Eigene Taten können weitere Traumatisierungen auch für die Täter bedeuten. Im Fall Boock wird dies mehr als deutlich. 


Montag, 9. November 2020

Gewalt durch Mütter/Stiefmütter gegen junge Frauen/Jugendliche in der Welt

Männergewalt im privaten Rahmen war und ist erfreulicherweise seit Jahren immer wieder Thema in Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Natürlich bleibt das Thema trotz der Öffentlichkeit weiterhin schambeladen und – gerade im privaten Raum – auch oftmals immer noch ein Tabu. Auch Frauengewalt (inkl. sexuellen Missbrauch) ist in den letzten Jahren Stück für Stück mehr in den Fokus gerückt. Allerdings bleibt Frauengewalt nach meinem Eindruck häufig immer noch ein „Tabu im Tabu“.

Beim Thema Frauengewalt gegen Kinder und Jugendliche stört mich vor allem die fehlende öffentliche Klarheit bezogen auf die Daten und Fakten. Bereits im Jahr 2012 hatte ich hier im Blog den Beitrag „Kindesmisshandlung: Mütter als Täterinnen“ verfasst. Und in meinem Buch habe ich dem Thema ein eigenes, kurzes Kapitel gewidmet, weil es einfach wichtig ist, um die Realitäten zu wissen. Die Realität ist, dass nachweisbar in vielen Ländern dieser Welt häusliche, körperliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mehrheitlich von Frauen ausgeht (in Deutschland ist das Gewaltverhältnis in etwa ausgeglichen). Das soll die Männergewalt nicht gering reden und relativieren! Es ist einfach eine Feststellung, um die Mann und Frau wissen muss, damit Prävention auch greifen kann. 

Gewaltverhalten an sich und Gewalt gegen Kinder insbesondere steht nachweisbar in einem starken Zusammenhang zu eigenen Gewalterfahrungen (vor allem in der Kindheit). Insofern wäre es schon ein Wunder, wenn Frauen, die ja stark von Gewalt in vielen Kontexten betroffen sind, die Gewalt nicht in der einen oder anderen Form an Menschen, über die sie viel Macht haben, weitergeben. Und als Mütter/Stiefmütter verfügen Frauen naturgemäß über viel Macht über Kinder und Jugendliche. 

 Ich möchte den Blick hiermit auf mütterliche Gewalt gegen junge Frauen/Jugendliche im Alter zwischen 15 und 19 Jahren richten. Meine Quelle dafür ist: 
United Nations Children’s Fund (UNICEF) (2014): A Statistical Snapshot of Violence against Adolescent Girls. UNICEF, New York. 

UNICEF hat vergleichbare Daten für insgesamt 33 Länder (keine Industrienationen!) erfasst. Die meiste körperliche Gewalt gegen junge Frauen ging von Intim-Partnern UND Elternteilen aus. Wobei in dieser Lebensphase Gewalt durch Elternteile oftmals häufiger vorkommt, als Gewalt durch Intim-Partner. Von den 33 Ländern erlebten in 27 Ländern die jungen Frauen mehr Gewalt durch die Mutter/Stiefmutter als durch den Vater. In 2 Ländern war das Gewaltverhältnis gleichmäßig verteilt. Nur in 4 Ländern übten die Väter/Stiefväter mehr Gewalt aus, als die Mütter/Stiefmütter.

Bezogen auf die oben erwähnten 27 Länder, habe ich die durchschnittliche TäterInnennennung ausgerechnet. Im Schnitt erlebten 35,5 % der jungen Frauen Gewalt durch Mütter/Stiefmütter und 23 % durch Väter/Stiefväter in den Ländern, in denen mehrheitlich Mütter/Stiefmütter Gewalt ausüben. Ausgeklammert bleibt wohlgemerkt das Gewalterleben vor dem 14. Lebensjahr, das erfahrungsgemäß deutlich höher ausfällt, als im Jugendalter. 

In manchen Ländern sind die Unterschiede im Gewaltverhalten zwischen Müttern/Stiefmüttern und Vätern/Stiefvätern besonders groß. In Kambodscha beispielsweise übten 63% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 30 % der Väter. In Indien (einem sehr bevölkerungsreichem Land) übten 41% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 18 % der Väter. In anderen Ländern wiederum waren die Unterschiede nicht ganz so groß: In Uganda übten beispielsweise 26% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen 21 % der Väter. Auf den Philippinen übten 33% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen 28 % der Väter. 

Ein Land aus den 4 oben erwähnten Ländern, in denen mehr Gewalt durch Väter/Stiefväter ausgeht, fällt ganz besonders aus der Reihe: Ägypten. In Ägypten übten 48% der Väter/Stiefväter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 26 % der Mütter. Dieser Sachverhalt ist erklärungsbedürftig, da andere Studien ein sehr hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Ägypten an sich feststellten und auch die große Mehrheit der Mütter (ebenso wie die Väter) Gewalt gegen Kinder ausübten. Vermutlich wird den Männern in den (weiterhin stark) patriarchalen Familien Ägyptens mehr Gewalt speziell gegen ältere Kinder zugestanden, als den Müttern. Dies ist aber nur eine Vermutung. 

Die gezeigten Daten machen klar, dass die Welt ein Problem auch mit Frauengewalt hat! Elterliche Gewalt gegen Kinder/Jugendliche ist die häufigste Form zwischenmenschlicher Gewalt überhaupt. Gewalt gegen Kinder ist zudem besonders folgenreich. Und bei dieser Gewaltform machen Frauen kräftig mit. Darum muss die Welt wissen und dagegen muss die Welt gezielt Präventions-Programme auffahren.

Donnerstag, 5. November 2020

Gewalt gegen Kinder in Kanada (und Unterschiede im Vergleich zu den USA)

Die politischen Vorgänge in den USA bis hin zur aktuellen Wahl beschäftigen mich stark. Ja sie belasten mich auch, weil wir aus Europa "Zuschauer" eines offenen, politischen Wahns sind. Viele irrationale Prozesse (inkl. einer Tendenz zur Selbstzerstörung) sind in den USA am Werk, die meiner Auffassung nach auch viel mit dem zu tun haben, wie Kindheit in diesem Land war und ist. Auch am Beispiel der Kindheit von Donald Trump wird dies überdeutlich. Aber auch mit Blick auf Zahlen und Daten zum Thema Kindheit in den USA (siehe "Kindheit in den USA", "Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten" und ergänzend ein Hinweis in meinem Twitter-Account auf eine Studie aus dem Jahr 2019 mit 18.845 Befragten). Ebenso wie mit Blick auf sonstige Bedingungen, wie fehlender gesetzlicher Mutterschutz in den USA (was bzgl. Industrienationen nur in den USA so zu finden ist) oder hohe Arbeitsbelastung vieler Eltern, um die eigene Existenz in einem Land mit schlechter sozialer Absicherung zu sichern. 

Ich möchte den Blick einmal vergleichend nach Kanada richten. Kanada steht im Vergleich zu den USA, zumindest nach meinem Kenntnisstand, für deutlich weniger destruktive, politische Prozesse (inkl. nach außen in Form von Kriegseinsätzen) und auch für soziales Engagement. Im GLOBAL PEACE INDEX steht Kanada aktuell auf Platz 6, die USA auf Platz 121... Kanada hat außerdem eine deutlich niedrigere Mordrate als die USA. Der aktuelle Präsident Justin Trudeau steht für Liberalismus und ist bekennender Feminist. Im Vergleich zu Donald Trump könnte der Unterschied kaum größer sein! 

Ich selbst bin im Alter von 21 Jahren (also vor ca. 22 Jahren) 3 Monate durch die gesamte USA und auch Kanada gereist (beginnend in New York von Ost über Süd nach West, dann beginnend über Vancouver durch Kanada und später wieder zurück in den Nord-Osten der USA und zurück nach New York). Ich erinnere mich sehr gut an regionale Unterschiede in den USA, auch was ungute Gefühle und Bedrohungsängste anging. Am unsichersten fühlte ich mich damals in Detroit, Los Angeles und in Teilen des Südens. Am sichersten und auch am lockersten war es in Seattle (wie gesagt, rein subjektiv empfunden). Aber mit dem Übertritt über die Grenze nach Kanada war es grundsätzlich anders. In Gesamtkanada fühlte ich mich sehr sicher und wohl. Im sehr französisch geprägtem Québec merkte ich schließlich, wie sehr ich Europäer bin und Europa vermisse. Auch dort fühlte ich mich sehr sicher. 

Für die Unterschiede in beiden Ländern gibt es sicher einige Erklärungen. Wie immer konzentriere ich mich mehr auf die Kindheit und diese ist in der Tat in Kanada deutlich gewaltfreier, als in den USA. 

Bzgl. der Gesetzgebung sind beide Länder gar nicht so unterschiedlich, wobei Kanada etwas besser dasteht. In beiden Ländern sind Körperstrafen gegen Kinder im Elternhaus legal, wobei Kanada die Gewalt etwas deutlicher beschränkt hat. In den meisten Schulen Kanadas sind Körperstrafen verboten, dagegen gibt es in den USA noch etliche Staaten, die Körperstrafen erlauben und auch praktizieren. 

Den wesentlichsten Unterschied zwischen beiden Ländern und dem Ausmaß von Gewalt gegen Kinder findet man im Elternhaus. Kanada bewegt sich – wie die Daten unten zeigen – deutlich auf das nordeuropäische Niveau zu. Nur noch eine deutliche Minderheit der Kinder wird im Elternhaus geschlagen und dies meist nicht häufig. Wobei zu beachten ist, dass die unten genannten Daten bzgl. der Aktualität auf dem Stand zwischen 2008 und 2013 sind. Es ist bei der Trendlage davon auszugehen, dass sich bis zum Jahr 2020 der Gewaltrückgang gegen Kinder noch weiter verbreitet hat. 

Der Rückgang von Körperstrafen gegen Kinder ist ein sehr bedeutender Faktor, um eine Gesellschaft in ihrem Sein zu bewerten (was ich hier im Blog schon oft betont habe). Eltern, die in der Lage sind, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen, bezeugen durch ihr Handeln bereits einen hohen emotionalen Entwicklungsstand. Gewaltfreiheit gegenüber Kindern bedeutet auf der einen Seite deutlich weniger schädliche Entwicklungsverläufe für die Kinder eines Landes, aber sie bedeutet eben auch, dass die Erwachsenen einen wichtigen Schritt in der psychosozialen Evolution gemacht haben. Dieser Schritt wurde von vielen Eltern und Erwachsenen in den USA noch nicht gemacht! Und dies erklärt meiner Auffassung nach auch ganz wesentlich politisch-soziale Unterschiede an sich zwischen den USA und Kanada. 

Hier nun einige Daten aus Kanada: 

In repräsentativen Befragungen wurden kanadische Eltern im Zeitraum zwischen 1994 und 2008 bzgl. ihres Strafverhaltens gegenüber Kindern erfasst. 1994 schlugen noch ca. 50 % der kanadischen Eltern ihre 2-5jährigen Kinder, bis 2008 sank die Rate auf ca. 30 %. Bei den 6-9jährigen Kindern sank die Rate von etwas unter 40 % im Jahr 1994 auf etwas über 20 % im Jahr 2008. Gleichzeitig nahm die Häufigkeit des Strafverhaltens stetig ab. Die meisten kanadischen Eltern, die ihre Kinder schlagen, tun dies eher selten. (Fréchette, S. & Romano, E. (2015): Change in Corporal Punishment Over Time in a Representative Sample of Canadian Parents. Journal of Family Psychology. Vol. 29, Nr. 4. S. 507-517.)

Speziell für die kanadische Provinz Québec wurden drei große Studien aus den Jahren 1999, 2004 und 2012 miteinander verglichen. Abgefragt wurde jeweils das elterliche Gewaltverhalten innerhalb eines Jahres gegen Kinder zwischen 0 und 18 Jahren. 1999 erlebten 47,7 %, 2004 42,9 % und 2012 34,7 % der Kinder mindestens einmal körperliche Gewalt im Elternhaus. Gleichzeitig sank die Zustimmungsrate zu Körperstrafen. 1999 stimmten beispielsweise noch 29,2 % der Eltern in Québec zu, dass manche Kinder geschlagen werden müssten, um eine Lektion zu lernen, 2004 war der Wert auf 25,7 % und 2012 auf 15 % gesunken. (Clément, M.-E. & Chamberland, C. (2014): Trends in Corporal Punishment and Attitudes in Favour of This Practice: Toward a Change in Societal Norms. Canadian Journal of Community Mental Health. Vol. 33, NO. 2. S. 13-29.)

Im Jahr 2013 wurden 500 Erwachsene in Ontario, die mit einem Kind im Alter von 6 Jahren oder darunter zusammenlebten, befragt. 72 % der Befragten glauben nicht, dass Körperstrafen gegen Kinder eine effektive Methode sind, diesen etwas beizubringen. 26 % glauben an den Nutzen von Körperstrafen. 68 % der Befragten hatten ihr Kind noch nie geschlagen. 27 % der Befragten hatten ihr Kind geschlagen. Nur 4 % hatten ihr Kind häufig geschlagen. (Best Start Resource Centre (2014): Child Discipline: Ontario Parents’ Knowledge, Beliefs and Behaviours, Toronto: Best Start Resource Centre)