Freitag, 8. Februar 2019

Die Kindheit des NS-Generaloberst Alfred Jodl

In meinem Buch habe ich die Kindheiten etlicher NS-Verbrecher (Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich) ausführlich analysiert und Gemeinsamkeiten herausgestellt. Wesentliche Merkmale der von mir untersuchten Kindheiten sind, dass bei allen Akteuren keine Belege für eine gewaltfreie und liebevolle Kindheit gefunden werden konnte, sondern ganz im Gegenteil deutliche Belege oder Indizien vorliegen, die auf eine äußerst destruktive und belastete Kindheit hinweisen (mit oft mehrfachen Belastungsfaktoren).

Die Biografie von Alfred Jodl habe ich erst jetzt durcharbeiten können. Insofern ergänze ich diese Analyse jetzt hier im Blog.

Alfred Jodl war einer der höchsten Militärs im NS-Staat und gehörte später zu den während der Nürnberger Prozesse Angeklagten. Der 1890 geborene Alfred Jodl stammt aus einer Familie mit langer militärischer Tradition. Sein Großvater, Vater, Onkel, Bruder und Schwiegervater waren allesamt bayerische Offiziere (Jodl 1976, S. 252). Entsprechend war auch der Weg von Alfred Junior vorbestimmt: „Vater wie Mutter – ehrgeizig – schienen entschlossen, ihn von vornherein zur Armee zu geben. (…) Vielleicht brauchten sie den – militärbegeisterten – Sohn nicht einmal zu drängen. Trotzdem hieß für ihn das Ganze: frühzeitige Zäsur. Gerade einmal dreizehnjährig, betrat er seinen Schicksalsweg, wurde er Zögling des bayerischen Kadettenkorps. Die Anstalt (…) forderte vollkommene Unterwerfung. Glockenschläge trieben zum Dienst, der Vor- und Nachmittage beherrschte; Kommandos regelten – bis auf knappste Pausen – jeden Schritt des Tages. Der Kadett war Soldat, und als Soldat hatte er zu traben und strammzustehen“ (Scheurig 1999, S. 10).

Alfred Jodl meinte später, dass er gerne Kadett gewesen sei: „Mit der strengen Disziplin fand ich mich rasch ab, das waren wir ja von daheim gewohnt“ (Jodl 1976, S. 90). Wie diese strenge Disziplin daheim in seiner Familie genau ausgesehen hatte, lässt sich nur erahnen. Jodl selbst bleibt diesbezüglich oberflächlich. Auf seine Mutter angesprochen sagte er: „Sie hasste alle faulen Menschen, denen sie furchtlos und offen ihre Fehler vorhielt. So waren mein jüngerer Bruder Ferdinand und ich einer scharfen Zucht unterworfen, der wir unendlich viel verdanken“ (Jodl 1976, S. 89). Strenge Disziplin, scharfe Zucht, eine Mutter, die „leicht reizbar“ (Scheurig 1999, S. 9) war und eine vom Militär durchzogene Familienlinie, all dies lässt Demütigungen, Unterwerfungsrituale und wohl auch Prügel – zumal Jodl Ende des 19 Jahrhunderts aufwuchs – mehr als wahrscheinlich erscheinen. Alfred Jodl selbst machte in dem oben zitierten Satz deutlich, dass er sich vollkommen mit dieser Strenge identifiziert hatte, indem er betonte, wie unendlich viel er dieser zu verdanken habe. Noch im Kindesalter wechselte er dann von einem strengen Zuhause in eine strenge Kadettenanstalt. All dies deutet auf eine sehr belastete Kindheit hin.

Zudem gibt es deutliche Hinweise auf das Miterleben von Gewalt während seiner Schullaufbahn und von selbst erlitten sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen: „Anerzogene Zucht ersparte dem Schüler Stockschläge und Strafen, doch Beichte, Kommunion und ein sadistisch prügelnder Religionslehrer irritierten ihn. Als er, auf dessen Zimmer bestellt, erleben musste, dass sich der Geistliche ihm zu nähern suchte, war er angewidert. Sofort spürte er, was später zunahm: seine Ablehnung der Kirche“ (Scheurig 1999, S. 10). Jodl im O-Ton dazu: „Bei mir hatte dann auch eine Rolle gespielt, dass mir als kleiner Bub ein junger Geistlicher zu nahegetreten war, und später bin ich dann aus der Kirche ausgetreten“ (Jodl 1976, S. 89).

Erwähnenswert scheint mir noch, dass die Familie den Tod von drei Mädchen im Kindesalter zu verkraften hatte (Scheurig 1999, S. 9). Nur Alfred und sein jüngerer Bruder wuchsen zusammen auf. Ob Alfred Jodl seine Schwestern kennengelernt und ihren Tod miterlebt hatte, ist der Quelle nicht zu entnehmen. Falls er ihren Tod miterlebt hatte, stellt dies an sich bereits ein schweres Kindheitstrauma dar. Wie sich der Tod von drei Kindern auf die Psyche der Eltern ausgewirkt hat, scheint nicht überliefert zu sein. Auch hier lassen sich starke Belastungen erahnen.

Ich möchte abschließend sagen, dass die Recherche und die Erkenntnisse über die Kindheiten der o.g. NS-Täter für mich ein schwer ausdrückbares Gefühl ausgelöst haben. Es ist wohl ein Mix aus Erstauen (über den recht leichten Zugang über klassische Biografien zu Infos über Kindheitserfahrungen, die mit viel Fleiß und einem Blick für Details und das Wichtige auch jeder Andere hätte zusammenfassen können) gepaart mit einem Zusatzerstaunen darüber, dass mir bisher keine einzige Arbeit bekannt ist, die diese Kindheiten bzgl. ihrer Parallelen analysiert und zusammengefasst hat (selbst jemand wie Alice Miller ging zwar davon aus, dass alle Kindheiten der NS-Täter destruktiv waren, aber sie hat nur einzelne Täter - vor allem Adolf Hitler - analysiert. Sicherlich lagen damals aber auch weniger Biografien vor). Wie kann das sein?  Gleichzeitig weiß ich, wie schwer die Widerstände in der Gesellschaft sind, sich den Kindheitshintergründen der NS-Zeit zu stellen. Mein Erstaunen ist also gepaart mit einem Wissen um dieses Schweigen. Gerade klassische Historiker schauen oft an den Kindheitshintergründen vorbei oder erwähnen sie beiläufig, drittrangig oder reden sie gering  (dazu habe ich ein eigenes Kapitel in meinem Buch geschrieben: "Das große Schweigen"). Gerade klassische Historiker verfügen aber über die Deutungshoheit der NS-Zeit. Wenn diese Akteure schweigen, traut sich auch kein Journalist an dieses Thema ran, denn Journalisten brauchen anerkannte Experten, die sie zitieren können.

Meine Analyse und Zusammenfassung über die Kindheiten von NS-Tätern ist im Grunde eine Sensation. Nicht, weil ich so toll bin! Sondern weil die Fakten einfach auf dem Tisch liegen und einen überdeutlich ins Auge stechen und bisher noch nicht zusammengefasst wurden. Das Ziel ist letztlich, dass diese Fakten zum Alltagswissen werden. Für mich gibt es keine "Entdeckungsreisen" mehr. Das Wissen um die Kindheitshintergründe der NS-Zeit ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Beschäftigung mit der Kindheit von Alfred Jodl "haute mich" insofern nicht mehr um, wie dies früher der Fall gewesen wäre. Dass seine Kindheit derart destruktiv war, ist einfach nur logisch und reiht sich ein in die Kindheiten seiner Mittäter.


Verwendete Quellen:

Jodl, Luise (1976): Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generalsoberst Alfred Jodl. Molden Verlag, Wien – München – Zürich.

Scheurig, Bodo (1999): Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie. Bublies Verlag, Schnellbach.