Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat Welt-Online (26.11.2015, "Die zerstörerische Macht der Kränkung") ein Interview gegeben. Anlass war sein neues Buch „Die Macht der Kränkung“. Haller hat bereits viel über „das Böse“, Serientäter und Verbrechen veröffentlicht.
Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.
In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter. Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann.
Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.
Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)
Freitag, 27. November 2015
Freitag, 20. November 2015
Attentat auf Henriette Reker. Die Kindheit des Täters.
In letzter Zeit habe ich mich in meinem Blog viel mit Rechtsextremismus befasst. Heute erfuhr ich etwas über die Kindheit von Frank S., der einen lebensgefährlichen Messerangriff auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ausgeführt und auch weitere Menschen verletzt hat. Die Tat wurde als rechtsextrem eingestuft.
Frank S. ist als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt worden, berichtet seine frühere Pflegemutter. Seine Hand war verbrannt, so die Frau, weil seine Eltern ein Bügeleisen auf ihn gepresst hatten. Er kam dann in ein Heim, später zu einer Pflegefamilie. "Auch seine Pflegefamilie hatte es den Schilderungen zufolge anfangs nicht leicht mit ihm. Laut der Pflegemutter soll er anfangs in ihrem Wagen randaliert und in der Familie jeden angespuckt haben." (Focus.de, 26.10.2015, "Freunde hatte er nie": So war die Kindheit von Reker-Attentäter Frank S.)
Die Kindheitshintergründe entschuldigen nichts (!), sie erklären aber den Hass und den Wahn des Täters. Solche Menschen fühlen sich durch Stimmungen in der Großgruppe berufen, etwas zu unternehmen. Wenn eine Gesellschaft zu einem beträchtlichem Teil aus Menschen besteht, die als Kind schwere Gewalt durch Elternfiguren erlebt haben (wie in Nah Ost oder in Afrika), dann kann unter bestimmten Umständen daraus mehr entstehen. Wenn sich Feindbilder finden, die emotional die meisten einst Gedemütigten ansprechend und sie sich emotional auf eine Art verbinden, steigt die Gefahr hin zu Krieg und Terror. Zu den Feindbildern müssen dann meist auch emotionale Bilder vom Opfer dazukommen. Ein Gefühl, "Opfer" der Feinde zu sein und sich wehren zu müssen. Aber auch ein "Opferkult", also das "Versprechen", dass man selbst auch umkommen könnte, für ein höheres Ziel und als ein Akt der Erlösung. Auch Frank S. war selbstmordgefährdet, ist in den Medien zu lesen. Selbsthass und Hass auf Andere sind zwei Seiten der selben Medaille. Ohne Selbsthass gibt es keinen Hass auf andere Menschen.
(Übrigens: Laut Medienberichten soll Frank S. gerufen haben "Ich tue es für Eure Kinder!". Vor den o.g. Hintergründen macht dieser Satz nochmal besonders nachdenklich.)
Frank S. ist als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt worden, berichtet seine frühere Pflegemutter. Seine Hand war verbrannt, so die Frau, weil seine Eltern ein Bügeleisen auf ihn gepresst hatten. Er kam dann in ein Heim, später zu einer Pflegefamilie. "Auch seine Pflegefamilie hatte es den Schilderungen zufolge anfangs nicht leicht mit ihm. Laut der Pflegemutter soll er anfangs in ihrem Wagen randaliert und in der Familie jeden angespuckt haben." (Focus.de, 26.10.2015, "Freunde hatte er nie": So war die Kindheit von Reker-Attentäter Frank S.)
Die Kindheitshintergründe entschuldigen nichts (!), sie erklären aber den Hass und den Wahn des Täters. Solche Menschen fühlen sich durch Stimmungen in der Großgruppe berufen, etwas zu unternehmen. Wenn eine Gesellschaft zu einem beträchtlichem Teil aus Menschen besteht, die als Kind schwere Gewalt durch Elternfiguren erlebt haben (wie in Nah Ost oder in Afrika), dann kann unter bestimmten Umständen daraus mehr entstehen. Wenn sich Feindbilder finden, die emotional die meisten einst Gedemütigten ansprechend und sie sich emotional auf eine Art verbinden, steigt die Gefahr hin zu Krieg und Terror. Zu den Feindbildern müssen dann meist auch emotionale Bilder vom Opfer dazukommen. Ein Gefühl, "Opfer" der Feinde zu sein und sich wehren zu müssen. Aber auch ein "Opferkult", also das "Versprechen", dass man selbst auch umkommen könnte, für ein höheres Ziel und als ein Akt der Erlösung. Auch Frank S. war selbstmordgefährdet, ist in den Medien zu lesen. Selbsthass und Hass auf Andere sind zwei Seiten der selben Medaille. Ohne Selbsthass gibt es keinen Hass auf andere Menschen.
(Übrigens: Laut Medienberichten soll Frank S. gerufen haben "Ich tue es für Eure Kinder!". Vor den o.g. Hintergründen macht dieser Satz nochmal besonders nachdenklich.)
Montag, 16. November 2015
Ein Kommentar zu den Terroranschlägen in Paris
Mein Kommentar zum aktuellen Terroranschlag in Paris nimmt Bezug auf zwei Artikel in der Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Der Politologe und Terrorismusforscher Asiem El Difraoui sagte aktuell in einem Interview mit der faz über die europäischen Dschihadisten:
„Man weiß nicht viel über sie, außer, dass ihre Radikalisierung wohl weniger mit Ideologie und Religion zu tun hat als mit psychologischen, familiären Traumata und mit ganz allgemeiner Sinnsuche, mit dem Finden einer neuen Gemeinde. Wobei das Erstaunliche ist, dass die spirituellen Elemente dabei nicht so wichtig scheinen: Es geht gar nicht darum, Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen. Sondern man wird gleich Dschihadist.“
(faz.net, 16.11.2015, „Warum gerade Frankreich angegriffen wurde“)
El Difraoui beschreibt hier ganz selbstverständlich, dass „familiäre Traumata“, wie er es nennt, eine psychische Grundlage oder Antriebskraft für islamische Extremisten sind. Erstaunlich ist es entsprechend eigentlich nicht, dass Religion oder „spirituelle Elemente“ kaum oder keine Rolle spielen. Es sind Menschen, die bereits voller (Selbst)Hass sind, die von Hass-Gruppen angezogen werden.
Einen Tag vor diesem Interview las ich ebenfalls in der faz einen Kommentar unter dem Titel "Im Weltkrieg" des faz-Herausgebers Berthold Kohler. Der Kommentar hat mich sehr aufgeschreckt. Er ist durchzogen von einem Bild, dass deMause regelmäßig in Zusammenhang mit Kriegen psychohistorisch analysiert hat: Einem Ungeheuer mit Tentakeln, gepaart mit einer Fantasie von der Geburt dieses Wesens. Diese Bilder drücken – nach deMause – ein Aufflammen traumatischer Kindheitserlebnisse (auch des Fötus) aus und legen den Grund, für kriegerische Aktionen (siehe dazu etwas ausführlicher hier). Sie zeigen vor allem auch auf, dass der verortete Feind ein legitimes Ziel ist, den man bedingungslos bekämpfen kann. Gut und Böse ist klar definiert, wenn man den Feind als „Ungeheuer“ ähnlich der Medusa oder einer Meeresbestie sieht. Der Autor schreibt:
„In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen. Das Ungeheuer hat viele Köpfe und Arme, die immerfort nachzuwachsen scheinen, wenn man sie abschlägt. Es trägt wechselnde Namen.“ (faz.net, 15.11.2015, "Im Weltkrieg")
Im weiteren Textverlauf fällt dann auch noch nachfolgender Satz (der ursprünglich übrigens im Untertitel bzw. der dickgedruckten Kopfzeile des Artikels stand, die nachträglich verändert wurde) „Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein.“
Glücklicherweise sind die Berichte in den Medien nach den Anschlägen extrem vielschichtig (auch wenn hier und da von Krieg die Rede ist). Europa ist emotional nicht mehr das Europa, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts war. Traumatische Kindheitserfahrungen nahmen stetig ab. Insofern bin ich zuversichtlich, dass Europa sich emotional nicht den Bildern anpasst, die im benannten Artikel heraufbeschworen wurden. Denn das wäre fatal, man würde kaum noch rational agieren, sondern in große Gefahr geraten, selbst zum Täter zu werden.
Der Politologe und Terrorismusforscher Asiem El Difraoui sagte aktuell in einem Interview mit der faz über die europäischen Dschihadisten:
„Man weiß nicht viel über sie, außer, dass ihre Radikalisierung wohl weniger mit Ideologie und Religion zu tun hat als mit psychologischen, familiären Traumata und mit ganz allgemeiner Sinnsuche, mit dem Finden einer neuen Gemeinde. Wobei das Erstaunliche ist, dass die spirituellen Elemente dabei nicht so wichtig scheinen: Es geht gar nicht darum, Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen. Sondern man wird gleich Dschihadist.“
(faz.net, 16.11.2015, „Warum gerade Frankreich angegriffen wurde“)
El Difraoui beschreibt hier ganz selbstverständlich, dass „familiäre Traumata“, wie er es nennt, eine psychische Grundlage oder Antriebskraft für islamische Extremisten sind. Erstaunlich ist es entsprechend eigentlich nicht, dass Religion oder „spirituelle Elemente“ kaum oder keine Rolle spielen. Es sind Menschen, die bereits voller (Selbst)Hass sind, die von Hass-Gruppen angezogen werden.
Einen Tag vor diesem Interview las ich ebenfalls in der faz einen Kommentar unter dem Titel "Im Weltkrieg" des faz-Herausgebers Berthold Kohler. Der Kommentar hat mich sehr aufgeschreckt. Er ist durchzogen von einem Bild, dass deMause regelmäßig in Zusammenhang mit Kriegen psychohistorisch analysiert hat: Einem Ungeheuer mit Tentakeln, gepaart mit einer Fantasie von der Geburt dieses Wesens. Diese Bilder drücken – nach deMause – ein Aufflammen traumatischer Kindheitserlebnisse (auch des Fötus) aus und legen den Grund, für kriegerische Aktionen (siehe dazu etwas ausführlicher hier). Sie zeigen vor allem auch auf, dass der verortete Feind ein legitimes Ziel ist, den man bedingungslos bekämpfen kann. Gut und Böse ist klar definiert, wenn man den Feind als „Ungeheuer“ ähnlich der Medusa oder einer Meeresbestie sieht. Der Autor schreibt:
„In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen. Das Ungeheuer hat viele Köpfe und Arme, die immerfort nachzuwachsen scheinen, wenn man sie abschlägt. Es trägt wechselnde Namen.“ (faz.net, 15.11.2015, "Im Weltkrieg")
Im weiteren Textverlauf fällt dann auch noch nachfolgender Satz (der ursprünglich übrigens im Untertitel bzw. der dickgedruckten Kopfzeile des Artikels stand, die nachträglich verändert wurde) „Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein.“
Glücklicherweise sind die Berichte in den Medien nach den Anschlägen extrem vielschichtig (auch wenn hier und da von Krieg die Rede ist). Europa ist emotional nicht mehr das Europa, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts war. Traumatische Kindheitserfahrungen nahmen stetig ab. Insofern bin ich zuversichtlich, dass Europa sich emotional nicht den Bildern anpasst, die im benannten Artikel heraufbeschworen wurden. Denn das wäre fatal, man würde kaum noch rational agieren, sondern in große Gefahr geraten, selbst zum Täter zu werden.
Donnerstag, 12. November 2015
Sendung: Wenn Eltern ihre Kinder schlagen
Ich habe kürzlich folgenden Beitrag gesehen:
WDR, 05.11.2015 (Sendereihe „Menschen hautnah“), „Nur ein Klaps auf den Po? - Wenn Eltern ihre Kinder schlagen“ (ein Film von Erika Fehse)
Eindrücklich wie auch erschreckend ist ein Ausschnitt, in dem SchülerInnen (viele mit Migrationshintergrund) verschiedener Altersgruppen aus einer Gesamtschule in Gelsenkirchen zusammen mit der zuständigen Sozialpädagogin das Thema Gewalt gegen Kinder besprechen. Alle anwesenden Kinder haben schon mal „einen Klaps“ von ihren Eltern bekommen. Die Mehrheit bewertet dies aber nicht als Gewalt. Als Gewalt wird von den SchülerInnen eher das bezeichnet, was man allgemein unter dem Begriff „Misshandlung“ (also schwere körperliche Gewalt) kennt. Einige SchülerInnen betonen, dass elterliche Gewalt etwas sei, was Folgen wie Prellungen, Blutungen u.ä. bewirken würde. Alles andere wäre keine Gewalt.
Eine Schülerin sagt wörtlich: „Ich habe ziemlich oft einen Klaps bekommen, aber das ist auch gerechtfertigt gewesen von meinen Eltern, weil ich wirklich meine Grenzen überschritten habe.“
Ein Schüler sagt: „Ich finde das o.k. Es ist unsere Schuld, wenn wir einen Klaps bekommen“ und eine neben ihm sitzende Schülerin stimmt zu. Ein Junge sagt: „Die Eltern wollen ja auch den Kindern nicht schaden, wollen das ja nur machen, damit die aufhören und später gut sind.“
Diese Kinder haben ihre Lektion gelernt. Man sieht fast ihre Eltern hinter ihnen stehen wie sie den Kindern eintrichtern: „Du bist schuld!“ „Das ist notwendig!“ „Das ist keine Gewalt, sondern meine Pflicht als Vater/Mutter, weil wir Dich ja lieben““ „Wir wollen nur Dein Bestes““. Die Kinder wiederholen quasi automatisiert diese klassische elterliche Lektion, die in Wahrheit eine Verdrehung der Wirklichkeit ist. Denn in Wahrheit ist ein „Klaps“ natürlich Gewalt und ein „häufiger Klaps“ ist „häufige Gewalt“. Dass diese Formen von Gewalt, die unterhalb der Misshandlung liegen, nicht folgenlos bleiben, zeigen die Aussagen der Kinder. Ist die Wirklichkeit eines Kindes erst einmal verdreht worden, ist sie vernebelt, dann wirkt dies auch später in anderen Kontexten. Beim Partner, Arbeitgeber oder auch „politischen Führer“, an dem man festhält, obwohl er einen schlecht behandelt, weil „der meint das doch nicht so, der ist nicht schlecht“. Dafür gibt es auch einen Fachbegriff „Identifikation mit dem Aggressor“. Natürlich ist auch die Gefahr groß, dass diese Kinder später, wenn sie selbst Eltern werden, Gewalt gegen ihre eigenen Kinder anwenden, weil dies ja – so haben sie leider gelernt – keine Gewalt sei, sondern eine erzieherische Notwendigkeit zum angeblichen Wohle des Kindes. Um so wichtiger finde ich es, dass diese Schule solche Kurse mit Kindern macht und versucht, die Vernebelung etwas aufzulösen.
Besonders eindrucksvoll fand ich einen Bericht im hinteren Teil des Films. In einem Kinderschutzteam wurde der Fall eines neun Jahre alten Jungen besprochen. Dieser sei bereits im Alter von drei Jahren von seinem Vater schwer misshandelt worden, bis hin zu Knochenbrüchen. Eine Fachfrau trägt vor, dass sie bei der Diagnostik diesem Jungen die Frage gestellt habe, was er machen würde, wenn er König von Deutschland wäre. Der Junge habe aufgeschrieben:
„Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich mir alle Pistolen der Welt kaufen, dann könnten Soldaten ausgebildet werden und dann könnten die mich beschützen vor denen, die mich angreifen.“
Diese Aussage ist erschütternd... Sie zeigt allerdings, warum es auch aus politischen Gesichtspunkten heraus wichtig ist, Kinder vor Gewalt zu schützen. Menschen, die als Kind sicher und geborgen aufwachsen durften, brauchen keine Waffen und Soldaten, um sich sicher zu fühlen.
Dagegen: Erwachsene, die einst verängstigte Kinder waren, „vergessen“ dies meist auf die eine oder andere Weise. Trotzdem wirkt – solange nicht therapeutisch aufgearbeitet – die alte Angst weiter und begünstigt destruktive oder gar schlimmstenfalls paranoid anmutende Entscheidungen oder Verhaltensweisen.
WDR, 05.11.2015 (Sendereihe „Menschen hautnah“), „Nur ein Klaps auf den Po? - Wenn Eltern ihre Kinder schlagen“ (ein Film von Erika Fehse)
Eindrücklich wie auch erschreckend ist ein Ausschnitt, in dem SchülerInnen (viele mit Migrationshintergrund) verschiedener Altersgruppen aus einer Gesamtschule in Gelsenkirchen zusammen mit der zuständigen Sozialpädagogin das Thema Gewalt gegen Kinder besprechen. Alle anwesenden Kinder haben schon mal „einen Klaps“ von ihren Eltern bekommen. Die Mehrheit bewertet dies aber nicht als Gewalt. Als Gewalt wird von den SchülerInnen eher das bezeichnet, was man allgemein unter dem Begriff „Misshandlung“ (also schwere körperliche Gewalt) kennt. Einige SchülerInnen betonen, dass elterliche Gewalt etwas sei, was Folgen wie Prellungen, Blutungen u.ä. bewirken würde. Alles andere wäre keine Gewalt.
Eine Schülerin sagt wörtlich: „Ich habe ziemlich oft einen Klaps bekommen, aber das ist auch gerechtfertigt gewesen von meinen Eltern, weil ich wirklich meine Grenzen überschritten habe.“
Ein Schüler sagt: „Ich finde das o.k. Es ist unsere Schuld, wenn wir einen Klaps bekommen“ und eine neben ihm sitzende Schülerin stimmt zu. Ein Junge sagt: „Die Eltern wollen ja auch den Kindern nicht schaden, wollen das ja nur machen, damit die aufhören und später gut sind.“
Diese Kinder haben ihre Lektion gelernt. Man sieht fast ihre Eltern hinter ihnen stehen wie sie den Kindern eintrichtern: „Du bist schuld!“ „Das ist notwendig!“ „Das ist keine Gewalt, sondern meine Pflicht als Vater/Mutter, weil wir Dich ja lieben““ „Wir wollen nur Dein Bestes““. Die Kinder wiederholen quasi automatisiert diese klassische elterliche Lektion, die in Wahrheit eine Verdrehung der Wirklichkeit ist. Denn in Wahrheit ist ein „Klaps“ natürlich Gewalt und ein „häufiger Klaps“ ist „häufige Gewalt“. Dass diese Formen von Gewalt, die unterhalb der Misshandlung liegen, nicht folgenlos bleiben, zeigen die Aussagen der Kinder. Ist die Wirklichkeit eines Kindes erst einmal verdreht worden, ist sie vernebelt, dann wirkt dies auch später in anderen Kontexten. Beim Partner, Arbeitgeber oder auch „politischen Führer“, an dem man festhält, obwohl er einen schlecht behandelt, weil „der meint das doch nicht so, der ist nicht schlecht“. Dafür gibt es auch einen Fachbegriff „Identifikation mit dem Aggressor“. Natürlich ist auch die Gefahr groß, dass diese Kinder später, wenn sie selbst Eltern werden, Gewalt gegen ihre eigenen Kinder anwenden, weil dies ja – so haben sie leider gelernt – keine Gewalt sei, sondern eine erzieherische Notwendigkeit zum angeblichen Wohle des Kindes. Um so wichtiger finde ich es, dass diese Schule solche Kurse mit Kindern macht und versucht, die Vernebelung etwas aufzulösen.
Besonders eindrucksvoll fand ich einen Bericht im hinteren Teil des Films. In einem Kinderschutzteam wurde der Fall eines neun Jahre alten Jungen besprochen. Dieser sei bereits im Alter von drei Jahren von seinem Vater schwer misshandelt worden, bis hin zu Knochenbrüchen. Eine Fachfrau trägt vor, dass sie bei der Diagnostik diesem Jungen die Frage gestellt habe, was er machen würde, wenn er König von Deutschland wäre. Der Junge habe aufgeschrieben:
„Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich mir alle Pistolen der Welt kaufen, dann könnten Soldaten ausgebildet werden und dann könnten die mich beschützen vor denen, die mich angreifen.“
Diese Aussage ist erschütternd... Sie zeigt allerdings, warum es auch aus politischen Gesichtspunkten heraus wichtig ist, Kinder vor Gewalt zu schützen. Menschen, die als Kind sicher und geborgen aufwachsen durften, brauchen keine Waffen und Soldaten, um sich sicher zu fühlen.
Dagegen: Erwachsene, die einst verängstigte Kinder waren, „vergessen“ dies meist auf die eine oder andere Weise. Trotzdem wirkt – solange nicht therapeutisch aufgearbeitet – die alte Angst weiter und begünstigt destruktive oder gar schlimmstenfalls paranoid anmutende Entscheidungen oder Verhaltensweisen.
Freitag, 6. November 2015
Neue KFN-Studie. Ein Plädoyer für gewaltfreie Erziehung, um Gesellschaften voranzubringen
Diese Studie muss man lesen! Das ist das Erste, was mir dazu einfällt.
Dass Christian Pfeiffer dieses Jahr in die USA gereist ist, um sich für eine gewaltfreie Erziehung einzusetzen und um die destruktiven Folgen von gewaltvoller Erziehung wissenschaftlich aufzuzeigen, hatte ich ja bereits berichtet. Jetzt hat er – auf englisch – einen entsprechenden Forschungsbericht verfasst. Und der hat es in sich.
Pfeiffer, C. (2015): The Abolition of the Parental Right to Corporal Punishment in Sweden, Germany and other European Countries. A Model for the United States and other Democracies? Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e.V.
Ich fasse nur kurz zusammen:
In dem Forschungsbericht wird u.a. aufgezeigt, wie stark (körperliche und sexuelle) Gewalt gegen Kinder in Deutschland rückläufig ist und wie elterliche Zuwendung ansteigt. Entsprechende Studien hatte ich hier im Blog bereits besprochen.
Ich möchte vor allem auf die Tabelle 1 auf Seite 17 hinweisen. Dort zeigt sich eindrucksvoll, wie sich die Wahrscheinlichkeit für diverse menschliche, destruktive Phänomene wie Gewaltverhalten, Drogen/Alkoholkonsum, Suizidgedanken oder auch den Wunsch, eine Waffe zu tragen durch schwere körperliche Gewalt und einer geringen elterlichen Zuwendung erhöht. Und umgekehrt zeigt sich, dass Gewaltfreiheit (wobei nur körperliche Gewalt gemessen wurde!) und elterliche Zuwendung ein positives Lebensgefühl/Vertrauen und Toleranz deutlich erhöht, während elterliche Gewalt diese Faktoren deutlich absenkt.
Das ganz Neue an diesem Forschungsbericht ist das, was die Grafiken ab Seite 28 zeigen. Die Grafiken und gezeigten Zusammenhänge lassen den Schluss zu, dass die körperliche Bestrafung von Kindern eine Auswirkung auf das Strafbedürfnis einer Gesellschaft hat. Die Zahlen von Strafgefangenen pro 100.000 Einwohnern und Exekutionen nehmen entsprechend den körperlichen Strafen an US-Schulen bzw. der entsprechenden Legalität von schulischen Körperstrafen zu. (Wobei die schulischen Körperstrafen bzw. die Rechtslage vermutlich auch Rückschlüsse auf das Strafverhalten zu Hause zulassen.) Ich will dies nicht weiter kommentieren, mensch lese bitte selbst in der Studie nach.
Die Studie versteht sich – so lese ich es deutlich heraus – als ein direkter Aufruf an die USA, ihre Erziehungspraxis grundlegend zu verändern, um positive Effekte auf die Gesellschaft zu bewirken.
Dass Christian Pfeiffer dieses Jahr in die USA gereist ist, um sich für eine gewaltfreie Erziehung einzusetzen und um die destruktiven Folgen von gewaltvoller Erziehung wissenschaftlich aufzuzeigen, hatte ich ja bereits berichtet. Jetzt hat er – auf englisch – einen entsprechenden Forschungsbericht verfasst. Und der hat es in sich.
Pfeiffer, C. (2015): The Abolition of the Parental Right to Corporal Punishment in Sweden, Germany and other European Countries. A Model for the United States and other Democracies? Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e.V.
Ich fasse nur kurz zusammen:
In dem Forschungsbericht wird u.a. aufgezeigt, wie stark (körperliche und sexuelle) Gewalt gegen Kinder in Deutschland rückläufig ist und wie elterliche Zuwendung ansteigt. Entsprechende Studien hatte ich hier im Blog bereits besprochen.
Ich möchte vor allem auf die Tabelle 1 auf Seite 17 hinweisen. Dort zeigt sich eindrucksvoll, wie sich die Wahrscheinlichkeit für diverse menschliche, destruktive Phänomene wie Gewaltverhalten, Drogen/Alkoholkonsum, Suizidgedanken oder auch den Wunsch, eine Waffe zu tragen durch schwere körperliche Gewalt und einer geringen elterlichen Zuwendung erhöht. Und umgekehrt zeigt sich, dass Gewaltfreiheit (wobei nur körperliche Gewalt gemessen wurde!) und elterliche Zuwendung ein positives Lebensgefühl/Vertrauen und Toleranz deutlich erhöht, während elterliche Gewalt diese Faktoren deutlich absenkt.
Das ganz Neue an diesem Forschungsbericht ist das, was die Grafiken ab Seite 28 zeigen. Die Grafiken und gezeigten Zusammenhänge lassen den Schluss zu, dass die körperliche Bestrafung von Kindern eine Auswirkung auf das Strafbedürfnis einer Gesellschaft hat. Die Zahlen von Strafgefangenen pro 100.000 Einwohnern und Exekutionen nehmen entsprechend den körperlichen Strafen an US-Schulen bzw. der entsprechenden Legalität von schulischen Körperstrafen zu. (Wobei die schulischen Körperstrafen bzw. die Rechtslage vermutlich auch Rückschlüsse auf das Strafverhalten zu Hause zulassen.) Ich will dies nicht weiter kommentieren, mensch lese bitte selbst in der Studie nach.
Die Studie versteht sich – so lese ich es deutlich heraus – als ein direkter Aufruf an die USA, ihre Erziehungspraxis grundlegend zu verändern, um positive Effekte auf die Gesellschaft zu bewirken.
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