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Mittwoch, 30. September 2015

Offener Brief an UNICEF-Deutschland

Sehr geehrte Damen und Herren des Vorstandes,
sehr geehrte Frau Dietz,

ich bin etwas unsicher, an wen ich mein Anliegen adressieren soll. Am liebsten würde ich es an alle Entscheidungsträger bei UNICEF senden. Ich richte diese Anfrage also an den Vorstand von UNICEF-Deutschland wie auch gesondert an die in Deutschland für Kinderrechte zuständige Mitarbeiterin Lena Dietz.

Vor etwas über einem Jahr wurde die Studie „Hidden in Plain Sight“ von UNICEF veröffentlicht.

Mir ist aufgefallen, dass in der entsprechenden deutschen Pressemitteilung (http://www.unicef.de/presse/2014/report-gewalt-gegen-kinder/56138), der deutschsprachigen Zusammenfassung der Studie (http://www.unicef.de/blob/56142/c4a3b7a18083ccea986417b86169d03f/zusammenfassung-unicef-report-hidden-in-plain-sight-data.pdf) wie auch in der englischsprachigen Originalstudie zwar auf die Folgen der (meist elterlichen) Gewalt gegen Kinder eingegangen wird, die politischen Folgen aber ausgeklammert wurden. Gesellschaftliche Folgen wurden durch UNICEF in der Studie maximal thematisch in Hinsicht auf die sozialen und ökonomischen Kosten wie auch bzgl. z.B. Kriminalität erfasst.
Bzgl. der möglichen individuellen Folgen oder Folgeschäden wurde in der Studie ein weites Feld eröffnet. Auch in dieser Hinsicht fehlte mir eine deutliche Übertragung, die auch bei der Leserschaft wie auch der Presse ankommt. Das Ausmaß der Gewalt ist in vielen Regionen extrem groß. Entsprechend weit verbreitet müssen auch die Folgeschäden in den entsprechenden Gesellschaften als Ganzes sein. Viele Probleme und soziale Schieflagen in der Welt stehen insofern in einem ursächlichen Zusammenhang mit leidvollen Kindheiten. Darauf wurde leider nicht mit deutlichen Worten hingewiesen.

Gewalt zieht Gewalt nach sich. Wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass misshandelte Kinder Gewalt als normal ansehen oder sogar akzeptieren und diese auch in der Zukunft gegen die eigenen Kinder anwenden.” wird der UNICEF-Exekutivdirektor Anthony Lake in der deutschsprachigen Zusammenfassung zitiert. Was ich nicht verstehe ist, warum diese Erkenntnis nicht ins Politische übertragen wurde? Auch Politiker waren einst Kinder, ebenso Soldaten, wie auch Beamte, Medienleute und all die anderen wichtigen Entscheidungsträger, die in einer Gesellschaft Wege bestimmen, öffnen oder auch versperren.

In der o.g. Studie wurden 23 Länder gesondert erwähnt und herausgestellt, weil dort mehr als 1 von 5 Kindern (bis in die Spitze sogar fast jedes zweite Kind wie z.B. im Jemen) besonders schwere elterliche Gewalt erlebt. Und das gilt, der Studie folgend, ja auch nur für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen, die Gewaltraten für die gesamte Kindheit wird entsprechend höher liegen. Ich habe der bewusstmachenden Übersicht halber nachfolgend einmal die Daten für diese 23 Länder aufgeführt:

Jemen
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
 körperliche Gewalt:  86 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
 psychische Gewalt: 92 %

Ägypten
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
 körperliche Gewalt:  82 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
 psychische Gewalt: 83 %

Chad
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
 körperliche Gewalt:  77 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
 psychische Gewalt: 71 %

Afghanistan
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
 körperliche Gewalt:  69 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
 psychische Gewalt: 62 %

Demokratische Republik Kongo
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
 körperliche Gewalt:  80 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
 psychische Gewalt: 82 %

Zentralafrika
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
 körperliche Gewalt:  81 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
 psychische Gewalt: 84 %

Vanuatu
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
 körperliche Gewalt:  72 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
 psychische Gewalt: 77 %

Nigeria
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
 körperliche Gewalt:  79 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
 psychische Gewalt: 81 %

Tunesien
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
 körperliche Gewalt:  74 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
 psychische Gewalt: 90 %

Niger
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
 körperliche Gewalt:  66 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
 psychische Gewalt: 77 %

Guinea-Bissau
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
 körperliche Gewalt:  74 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
 psychische Gewalt: 68 %

Liberia
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
 körperliche Gewalt:  69 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
 psychische Gewalt: 62 %

Mauretanien
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
 körperliche Gewalt:  78 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
 psychische Gewalt: 82 %

Kamerun
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
 körperliche Gewalt:  78 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
 psychische Gewalt: 87 %

Irak
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
 körperliche Gewalt:  63 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
 psychische Gewalt: 75 %

Kongo
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
 körperliche Gewalt:  69 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
 psychische Gewalt: 80 %

Staat Palästina
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
 körperliche Gewalt:  76 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
 psychische Gewalt: 90 %

Algerien
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
 körperliche Gewalt:  75 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
 psychische Gewalt: 84 %

Marokko
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
 körperliche Gewalt:  67 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
 psychische Gewalt: 89 %

Syrien
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
 körperliche Gewalt:  78 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
 psychische Gewalt: 84 %

Elfenbeinküste
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
 körperliche Gewalt:  73 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
 psychische Gewalt: 88 %

Dschibuti
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
 körperliche Gewalt:  67 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
 psychische Gewalt: 57 %

Jordanien
 körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
 körperliche Gewalt:  67 %
 besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
 psychische Gewalt: 88 %

Ist denn niemanden aufgefallen, dass gerade diese 23 Länder weitgehend die aktuellen politischen „Sorgenkinder“ umfassen? Wo Krieg herrscht oder herrschte, Terroristen rekrutiert werden, Demokratie ein ferner Traum ist und/oder sozial enorm instabile Verhältnisse bestehen usw.?

In der medialen Besprechung der Studie war Caroline Fetscher vom Tagesspiegel die Einzige, die deutliche Worte gefunden und auch die politischen Dimensionen erfasst hat, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeuten. Am Schluss ihres Textes schreibt sie:
 „Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.“ (http://www.tagesspiegel.de/politik/unicef-studie-ueber-gewalt-gegen-kinder-blitzableiter-der-eigenen-eltern/10665534.html) Ich möchte ergänzen, dass Kriege und Krisen zunächst einmal natürlich gewaltbereite Menschen brauchen, dazu kommt aber auch, dass es Massen an Menschen braucht, die ohnmächtig verharren und das schon im Vorfeld der Eskalation. Auch hier wird eine weite Verbreitung von Kindesmisshandlung ihre Wirkung entfalten.

Der bekannte Psychoanalytiker Arno Gruen hat 2001 für sein Buch “Der Fremde in uns” den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. In dem Buch wird eindrücklich dargestellt, wie elterliche Gewalt und Gehorsamsforderungen das Fundament für Kriege darstellen. Gruen zieht dabei in seinem Buch auch schwerpunktmäßig einen Zusammenhang zwischen Kindheit und NS-Zeit.  Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat dies thematisch noch deutlicher formuliert und die Kindheit in Deutschland um 1900 nachgezeichnet - siehe online z.B. hier http://psychohistory.com/articles/the-childhood-origins-of-the-holocaust/ oder in seinem Buch “Das emotionale Leben der Nationen”. (Die deutschsprachige Psychohistorie ist unter www.psychohistorie.de erreichbar).

Merkwürdiger Weise gehören diese Erkenntnisse immer noch nicht zum Allgemeinwissen. Ich selbst habe meine Gedanken zu dem Thema in einem wissenschaftlichen Arbeitspapier unter dem Titel “Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an” für die UNI Köln (http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_2012_4.pdf) zusammengefasst.

Die gedankliche Verknüpfung von Kindheit und Politik wird nur von wenigen Menschen schwerpunktmäßig erforscht und besprochen. Spätestens seit Veröffentlichung der o.g. sehr wichtigen und aufrüttelnden UNICEF-Studie muss sich dies ändern. Ich möchte dringend anregen, dass sich UNICEF dieser Thematik annimmt. UNICEF ist nicht nur zuständig, sondern hätte auch die notwendigen Ressourcen und die entsprechende Öffentlichkeit dafür.

 Nach meinem Eindruck sind die Ergebnisse der o.g. UNICEF-Studie in Deutschland medial weitgehend verpufft, nachdem alle großen Zeitungen kurz darüber geschrieben haben. Ich denke, dass eine Verknüpfung der Studienergebnisse mit politischen Prozessen evtl. mehr mediale Aufmerksamkeit gebracht hätte. Wenn sich führende UNICEF-Botschafter oder Verantwortliche vor die Presse stellen und deutlich anmerken, dass Kriege und Terror offensichtlich etwas mit Kindesmisshandlung zu tun haben, dann wäre das Medienecho sicher größer gewesen. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn diese Botschaft bei politischen Entscheidungsträgern deutlich ankommen würde, wäre evtl. die politische Motivation höher, deutlich mehr in den Kinderschutz zu investieren, nicht nur aus humanitären, sondern ergänzend auch gezielt aus präventiven Gründen heraus. Den Zielen von UNICEF wäre somit sehr gedient.
Mich würde interessieren, wie UNICEF-Deutschland dazu steht?

Dieses Schreiben veröffentliche ich zeitnah auch in meinem Blog - www.kriegsursachen.blogspot.de - als Offen Brief, um meine LeserInnen darüber zu informieren. Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Sofern Sie ihr Einverständnis bzw. keine Ablehnung dazu signalisieren, werde ich diese dann auch im Kommentarbereich online veröffentlichen.

Viele Grüße und danke für Ihre wichtige Arbeit!

Sven Fuchs

Mittwoch, 10. September 2014

Weltweit größte Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder: Vor aller Augen erleidet die Mehrheit aller Kinder Gewalt.

UNICEF hat vor Kurzem die bisher größte Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt veröffentlicht: United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in PlainSight: A statistical analysis of violence against children. New York.

Erfasst wurde körperliche (inkl. Kindestötungen), sexuelle und psychische Gewalt. Das Thema Vernachlässigung wurde besprochen, aber weniger aussagekräftig und zahlenbasiert. Zunächst einmal muss ich schreiben, dass eine solch umfassende Studie überfällig war. Dass weltweit eine Mehrheit der Kinder Gewalt erlebt, ist spätestens jetzt umfassend  in einem einzigen Papier ersichtlich. Gewalt gegen Kinder ist somit auch der häufigste Gewaltakt von Menschen gegen Menschen an sich.

Die Studie wurde in allen großen deutschen Medien besprochen. Allerdings wurden dabei selten tiefgehender die Zahlen besprochen, obwohl es ja gerade diese Zahlen sind, die uns alle aufschrecken sollten. Insofern halten die Medien sich auf eine Art an die Linie, die UNICEF mit dem Titel „Hidden in Plain Sight“ (in etwa „Verborgen vor aller Augen“) eigentlich angeprangert hat. Und einzig Caroline Fetscher vom Tagesspiegel  hat auch die politischen Dimensionen erfasst, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeutet. Am Schluss ihres Textes schreibt sie: „Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.

Auch ich kann nicht alle Punkte der Studie besprechen, ziehe aber die – wie ich meine – wichtigsten nachfolgend heraus:

- 6 von 10 Kindern (fast eine Milliarde Kinder) werden der Studie folgend  regelmäßig von Erziehungspersonen geschlagen. (Dies ist der Durchschnittswert für alle tabellarisch aufgeführten Länder. Die meisten Kinder werden in Afrika und  im Nahen Osten geschlagen.)

- Die meisten Kinder erleben zusätzlich psychische Gewalt. Überhaupt ist die psychische Gewalt in fast allen Ländern, die tabellarisch (S. 196ff) miteinander verglichen wurden, die häufigste Form von Gewalt gegen Kinder überhaupt. (Die meiste psychische Gewalt erleben Kinder in Afrika und in arabischen Staaten mit Werten ab ca. 80 % mit in der Spitze bis zu ca. 90 %; der Durchschnitt für alle erfassten Staaten beträgt ca. 7 von 10 Kindern)

- In 58 Ländern erleben 17 % der Kinder regelmäßig schwere körperliche Gewalt (Schläge gegen den Kopf, Ohren oder ins Gesicht oder harte wiederholte Schläge) durch Eltern/Pflegepersonen. In 23 Ländern (dazu unten mehr) erleben  mindestens 20 % der  Kinder schwere körperliche Gewalt; mit bis an die Spitze Werten von über 40 % bei einzelnen Ländern.

- Mit einem Gegenstand werden fast 30 % aller Kinder in den tabellarisch erfassten Ländern geschlagen.

- 120 Millionen Mädchen weltweit (mehr als eine von zehn) wurden vergewaltigt oder zu anderen sexuellen Handlungen gezwungen. Das größte Ausmaß an  sexueller Gewalt gegen Mädchen findet  sich in afrikanischen Ländern (mit mehr als 10 %), das geringste Ausmaß (weniger als 1 %) in Europa und den sogenannten CIS-Staaten (Russland und umliegende Staaten). Jungen werden ebenfalls Opfer von sexueller Gewalt, aber in einem deutlich geringeren Ausmaß. Nur in wenigen Ländern (z.B. Uganda mit 7 %) finden sich hohe Opferraten entsprechend der selben Definition, die bei Mädchen angesetzt wurde.
(Ich  muss an dieser Stelle gleich anmerken, dass ich die Zahlen zur sexuellen Gewalt  in diesem Fall etwas anzweifle. Methodik und Definitionen – vielleicht auch der Anspruch, Studien vergleichbar zu machen - scheinen hier stark zu wirken. Einzelstudien zeigen deutlich höhere Raten von sexueller Gewaltbetroffenheit. Was die UNICEF Studie allerdings bestätigt ist das starke regionale Gefälle. In Europa sind Mädchen am Sichersten vor sexueller Gewalt, in vielen afrikanischen Ländern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sexuelle Gewalt erleben, am größten; das zeigen auch andere Studien. )

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Die UNICEF Studie hat leider einige Schwachstellen. Eine wesentliche Schwachstelle ist in meinen Augen, dass für viele Länder, für die statistisch vergleichbare Daten vorliegen, nur das Gewaltverhalten innerhalb eines Monats vor der Befragung (Befragung von Erziehungspersonen) erfasst wurde. Die Zahlen sagen demnach nichts über die Gewalterfahrungen in der gesamten Kindheit aus. Es ist allerdings klar zu sagen, dass die Studie entsprechend vor allem routinemäßig widerkehrendes Gewaltverhalten erfasst hat. Entsprechend zeigen nachfolgend von mir beispielhaft aufgeführte Zahlen grundsätzliches Erziehungsverhalten auf.
Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits ist, dass nicht die Häufigkeit der Gewalt abgefragt wurde (täglich, wöchentlich oder einmal im Monat?) Dabei ist doch gerade die Häufigkeit von erlebter Gewalt auschlaggebend bzgl. der Schwere der Folgeschäden.
Zudem wurden Erziehungspersonen zum Gewaltverhalten befragt, die Kinder im Alter zwischen 2 und 14 Jahren haben. Wenn beispielsweise Eltern mit vielleicht 2 Jahre alten Kindern angeben, dass sie keine Gewalt angewendet haben, heißt dies nicht, dass das Kind gewaltfrei aufwächst. Vielleicht wird es erst ab 5 Jahren geschlagen. Zumindest wurden in der Studie auf Seite 103 drei Altersgruppen aufgestellt (2 -4, 5 – 9 und 10 – 14 Jahre) und Zahlen bzgl. körperlicher und /oder psychischer Gewalt aufgeführt. Diese Tabelle legt nahe, dass die im restlichen Teil der Studie oft genannten Durchschnittswerte nicht das reale Ausmaß an Gewalterfahrungen von Kindern angeben. Große Unterschiede in den Altersgruppen gibt es z.B. in Costa Rica, wo 56 % der 2 – 4 Jährigen Gewalt erlebten, aber nur 38 % der 10 – 14 Jährigen. Der Durchschnittswert für Costa Rica liegt entsprechend bei 46 %. In den meisten anderen Ländern sind die Zahlen nicht ganz so weit auseinander, aber auch dann gibt es statistische Einflüsse.  In Afghanistan z.B. erlebten 63 % der 2 – 4 Jährigen Gewalt, die beiden anderen Altersgruppen waren jeweils zu 78 % betroffen. Der Durchschnittswert für Afghanistan beträgt in der Studie  entsprechend 74 %.

Nachfolgend habe ich einmal die Zahlen zu den 23 Ländern zusammengestellt, die die höchsten Raten an schwerer körperlicher Gewalt aufweisen. Die meisten dieser Länder weisen auch ansonsten die mit höchsten Raten an körperlicher und psychischer Gewalt auf. (Und die meisten dieser Länder stehen für Krisen, schwere Konflikte und soziale Probleme) Vor allem ein besonders krisengeplagtes Land fällt dabei etwas heraus und besonders auf: Afghanistan. Bzgl. allgemeiner Raten von körperlicher und psychischer Gewalt liegt das Land eher im unteren Drittel. Mit ca. 38 % von (regelmäßiger) schwerer körperlichen Gewalt betroffenen Kindern gehört Afghanistan allerdings zu den Spitzenreitern an brutaler Gewalt gegen Kinder. Da die Folgeschäden für Kinder u.a. besonders vom Schweregrad der Gewalt abhängen, sind es gerade diese Zahlen, die bei der Bewertung von Ländern und der Situation der Kinder betont werden müssen.

Hier nun die ausgesuchten Zahlen (kategorisiert nach den Prozentsätzen zur schweren körperlichen Gewalt innerhalb eines Monats vor der Befragung; entnommen Tabelle 5.2 auf Seite 97, Tabelle 5.4 auf Seite 99 und Tabelle ab Seite 196)

Yemen,
körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
körperliche Gewalt:  86 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
psychische Gewalt: 92 %

Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  82 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %

Chad
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt:  77 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
psychische Gewalt: 71 %

Afghanistan
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt:  69 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
psychische Gewalt: 62 %

Demokratische Republik Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt:  80 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
psychische Gewalt: 82 %

Zentralafrika
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt:  81 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
psychische Gewalt: 84 %

Vanuatu
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt:  72 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
psychische Gewalt: 77 %

Nigeria
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  79 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
psychische Gewalt: 81 %

Tunesien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt:  74 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
psychische Gewalt: 90 %

Niger
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt:  66 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
psychische Gewalt: 77 %

Guinea-Bissau
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt:  74 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
psychische Gewalt: 68 %

Liberia
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt:  69 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 62 %

Mauretanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt:  78 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 82 %

Kamerun
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt:  78 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 87 %

Irak
körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
körperliche Gewalt:  63 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 75 %

Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt:  69 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 80 %

Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt:  76 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %

Algerien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
körperliche Gewalt:  75 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
psychische Gewalt: 84 %

Marokko
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  67 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 89 %

Syrien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
körperliche Gewalt:  78 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 84 %

Elfenbeinküste
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  73 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
psychische Gewalt: 88 %

Dschibuti
körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
körperliche Gewalt:  67 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 57 %

Jordanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
körperliche Gewalt:  67 % 
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 88 %

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Ab Seite 106 in der UNICEF Studie wurden ergänzend einzelne Studien besprochen, die Zahlen zu europäischen Ländern wie u.a. Italien, Deutschland, Frankreich, Schweden, Großbritannien, aber auch Canada, USA oder China beinhalten. Die dort aufgeführten Daten sind nur bedingt mit den Daten über Schwellenländer vergleichbar, da letztere methodisch ganz anders aufgebaut sind. Grundsätzlich deutet sich klar an, dass körperliche Gewalt, dabei vor allem auch schwerere Formen, in Schwellenländern häufiger vorkommt, als z.B. in West-/Nordeuropa.
Die von UNICEF aufgeführten Studien zeigen eine eher etwas geringe Gewaltbetroffenheit von Kindern in den USA (demnach wird ca. jedes dritte Kind in den USA geschlagen). In Anbetracht dessen, dass ich diverse Studien für die USA zusammengestellt habe, die deutlich höhere Raten zeigen, halte ich die vorgestellten Zahlen für die USA nicht für allgemein gültig und wundere mich etwas über die Auswahl.
Auch für Kenia wurden Daten in diesem Anhang aufgestellt, die den Zahlen in den tabellarischen Aufstellungen für Schwellenländer entgegenstehen. In Kenia erleben demnach über 60 % der Kinder schwere körperliche Gewalt (eine Zahl fern ab der oben besprochenen Daten); 82 % der Mädchen und 97 % erleben leichtere Formen von körperlicher Gewalt. Diese Zahlen entsprechen auch dem, was ich hier im Blog über afrikanische Länder zusammengestellt habe (dabei vor allem zwei Studien vom "African Child Policy Forum"), wenn junge Erwachsene nach Gewalterfahrungen in der gesamten Kindheit befragt werden.
Dies läßt mich zum Schluss noch einmal wiederholen, dass die oben besprochenen Zahlen der UNICEF Studie (zum Gewalterleben innerhalb eines Monats vor der Befragung) die absolute Untergrenze an Gewalterfahrungen von Kindern weltweit angeben.

Samstag, 3. März 2012

Kindheit von Jassir Arafat

Jassir Arafat wurde 1929 in eine Zeit und in eine Region geboren, die ihm die klaren Feindbilder quasi mit in die Wiege lag. Dass diese von Außen vorgegebenen Feindbilder bei ihm auch auf fruchtbaren Boden fielen, wird an Hand seiner Kindheit deutlich. (Wie schon oft erwähnt ist meine Grundthese, dass wirklich geliebte Kinder Freund-Feind-Schemata in ihrem späteren Leben entsprechend kritisch gegenüberstehen und insbesondere nicht mit gezielter mörderischer Gewalt gegen andere Menschen vorgehen können, so wie dies Arafat während seiner Zeit als Terrorist und Guerillakämpfer tat.)
1933 – Jassir ist zu dieser Zeit ca. vier Jahre alt – stirbt seine Mutter an einer Nierenerkrankung. (vgl. Sadek, 2006, S. 23) Sie hinterlässt drei Töchter und vier Söhne. Der Vater heiratet darauf ein zweites mal, aber die Ehe scheitert bereits nach einigen Monaten, wie Sadek berichtet. Eine andere Quelle (Rubin & Rubin, 2003, S. 13) belegt, dass diese zweite Frau die Kinder schlecht behandelte (was auch immer sich hinter diesem „schlecht“ verbergen mag.) Zu seiner Entlastung schickt der Vater seine beiden jüngsten Kinder (eines davon ist Jassir) nach Jerusalem in die Obhut eines Onkels, über dessen Erziehungsstil man in den verwendeten Quellen nichts erfährt. Er erlebt somit gleich zwei schwere Trennungen hintereinander, den Verlust der Mutter und die Trennung von seinen Geschwistern, seinem Vaters und der vertrauten Umgebung. Zwischen 1933 und 1937 verbringt Jassir seine Kindheit bei dieser Jerusalemer Familie.

Im April 1936 beginnt ein landesweiter palästinensischer Generalstreik und in der Folge auch ein bewaffneter Aufstand, der von den Briten brutal niedergeschlagen wird. Der junge Arafat erlebt diesen Aufstand aus nächster Nähe mit, bei dem auch sein Onkel verhaftet wird. 1937 kehren Jassir und sein jüngerer Bruder zurück zu ihrem Vater nach Kairo, der inzwischen ein drittes Mal geheiratet hat. Beide kommen in die Obhut ihrer zwölf Jahre älteren Schwester Inam. „Die neue Stiefmutter können die Kinder nicht ausstehen. Die dritte Ehe des Vaters erweist sich abermals als Fehlschlag, sie vertieft den Graben zwischen dem Vater und seinen Kindern. Abd al-Rauf bleibt ihnen als disziplinierender, autoritärer Vater in Erinnerung.“ (Sadek, 2006, S. 25) Was sich alles an Gewalt hinter den Worten „disziplinierend“ und „autoritär“ verbirgt, erfährt man vom Biographen leider nicht. Laut UNICEF erlebten – Grundlage sind Daten aus den Jahren 2005-2007 - in Prozent der Kinder (2-14 J.) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) in den besetzten palästinensischen Gebieten 95 % und in Ägypten 92 %. (vgl. UNICEF 2009, S. 8) Wenn schon heute noch fast alle Kinder in dieser Region Gewalt erfahren, dann wird auch der 1929 geborene Arafat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gewalt erfahren haben, vermutlich auch noch in heftigerer Form, als die heutigen Kinder, da sich die Erziehungspraxis im historischen Rückblick stetig verschlechtert.
Arafat selbst erwähnte seinen Vater nie, mit dem er nachweisbar keine enge Beziehung hatte. Neben der autoritären Art wird auch die jahrelange Trennung vom Vater ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Vater und Sohn sich nicht gerade nahe standen.
Arafats Schwester erinnerte sich, dass ihr Bruder bereits als Kind seine Spielkameraden in militärische Gruppen einteilte und ihnen befahl, die Straßen rauf und runter zu marschieren. Wenn ein Kind aus der Reihe tanzte, wurde es von Arafat mit einem Stock geschlagen. (vgl. Brexel, 2004, S. 13) Hier findet sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass auch Arafat selbst mit einem Gegenstand geschlagen wurde und dies im „Spiel“ wiederaufführte. Alles in allen ergibt sich das Bild einer sehr traurigen Kindheit.



Quellen:

Brexel, B. 2004: Yasser Arafat. Rosen Publishing Group, New York.

Rubin, B & Rubin, J. C. 2003: Yasir Arafat: A Political Biography. Oxford University Press, New York.

Sadek, H. 2006: Arafat. Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

UNICEF 2009: Progress for Children. A Report Card on Child Protection; http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/PFC_2009/Progress_20for_20Children-No.8_20LoRes_EN_USLetter_08132009.pdf