Sonntag, 26. Oktober 2008

4. Die Soldaten: Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele

Um Krieg führen und Terror verbreiten zu können braucht es Menschen, die bereit sind, andere Menschen direkt zu töten und zu quälen. In welchem Zusammenhang steht jetzt diese Bereitschaft zu Krieg bzw. blindem Gehorsam (ggf. trotz inneren Widerwillens) mit eigenen Kindheitserfahrungen?
Es gibt dazu einige sehr anschauliche Beispiele. Z.B. wurden die Securitas-Truppen des damaligen rumänischen Diktators Ceausescus, die grausam gegen das rumänische Volk vorgingen, aus ehemaligen Waisenhäusern rekrutiert. Gezielt wurden diese Kinder, deren Leben von Liebesentzug und Hoffnungslosigkeit geprägt war und deren Überleben von der erfolgreichen Unterdrückung ihres Schmerzes abhing, zum Töten erzogen. (vgl. Gruen, 2002b, S. 12)
Gezielt Waisenkinder für Gewaltakte zu trainieren, ist offenbar kein Einzelfall. In Sri Lanka wurden z.B. seit Mitte der 80er Jahre junge tamilische Mädchen, oftmals Waisen, systematisch von den oppositionellen "Befreiungstigern für Tamil Eelam" rekrutiert. Als "Birds of freedom" bezeichnet, wurden sie als Selbstmordattentäterinnen trainiert, weil sie die Sicherheitsmaßnahmen der Regierung besser unterlaufen konnten. (Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001)
Auch bzgl. Kindersoldaten gibt es solche Beispiele, wo Kinder gekidnappt, vergewaltigt und schließlich dazu gebracht wurden, wie Roboter andere Menschen zu ermorden. Dieser Sozialisierungsprozess auf Grundlage von Gehorsam und Terror zeigt deutlich, wie sehr die Auslöschung von Angst, Verletzlichkeit und Scham beim Kind durch Bestrafung zum Werkzeug des Unterdrückers werden kann. (vgl. Gruen, 2002b, S. 13)
Ein Bericht enthüllt, wie während der Ausbildung zum Elitesoldat von den Ausbildern gezielt Männer herausgesucht werden, um diese zu Folterern „weiterzuqualifizieren“. „Ein hohes Destruktionspotential, große Gehorsamsbereitschaft und ausgeprägte Selbstwertprobleme scheinen hierfür eine gute Voraussetzung zu sein. Der Aufwand, einen jungen Mann mit stabilen psychischen Voraussetzungen zum Folterer auszubilden, ist viel zu hoch. Insofern ist es einfacher und billiger, Personen auszuwählen, die bereits gewisse Auffälligkeiten in ihrer Persönlichkeit aufweisen. Solche jungen Männer kommen häufig aus ländlichen Gebieten und haben keine gute Ausbildung genossen. In ihrer Kindheit haben sie meist schon Erziehungsmaßnahmen erfahren, die ihr Selbstwertgefühl schwer geschädigt haben, was sie für die geforderten Grausamkeiten prädestiniert.“ (Heckl & Boppel, 1998)
Untersuchungen der Psychiaterin Isabel Cuadros ergaben, dass 60% der kolumbianischen Guerilleros in ihrer Kindheit körperlich misshandelt wurden. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39) Diese und weitere Informationen über die weit verbreitete familiäre Gewalt und den Kindesmissbrauch in Kolumbien bringen sie zu folgender Schlussfolgerung: „Der Krieg ist nicht, wie häufig behauptet, die Ursache, sondern das Resultat der familiären Gewalt“ (ebd. S. 38) Kolumbien führt seit langem weltweit die Gewaltstatistiken an.
Der NS-Staat und seine Erziehungsideale in Familie und Schule/Jugend sind ein weiteres Lehrstück dafür, wie Kinder und Jugendliche für kriegerische Ansichten und Handlungen gezielt sozialisiert werden können („Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“): Bedingungslose Gefolgschaft, unentwegte Begeisterung, blinder Glaube an die Autorität, Zucht, Opferbereitschaft, Unterwerfung, Vaterlandliebe, Aufgabe der eigenverantwortlichen Identität und weicher (weil schwacher) Gefühle waren die Ideale des Regimes und seiner Anhänger. (vgl. Benz, 1992a) „Jedes Kind ist eine Schlacht.“, so Hitler wörtlich 1934 in einer Rede vor der NS-Frauenschaft. (zit. n. Gruen, 2002a, S. 20) Langendorf (2006) schreibt zur Instrumentalisierung der Kindheit während dieser Zeit: „Die Erziehung sollte die Kinder für den Krieg gebrauchsfertig machen, andererseits wurde der Krieg als Mittel der Erziehung gebraucht.“ (Langendorf, 2006, S. 273) Das nationalsozialistische Erziehungssystem „(...) ist systematisch darauf angelegt, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu verhindern und zu einem Machtkampf werden zu lassen, der mit der Selbstaufgabe des Kindes enden muss, das von seinen Grundbedürfnissen abgeschnitten von früh zur Fühllosigkeit erzogen wird. (...) Kinder, die mit solchen Defiziten aufwachsen, sind durch die Ersatzangebote des Staates umso leichter zu manipulieren. Das ungeborgene Kind kann eine sekundäre Geborgenheit darin suchen, dass es dem Führer „gehört“, nicht den Eltern, nicht sich selbst.“ (ebd., S. 278) Ein derart bösartiges und destruktives System, wie es das NS-System war, weiß natürlich auch, wie man Gewalt und Empathielosigkeit erzeugt. Dies sollte gerade auch im Gesamtkontext dieses Textes zu denken geben...

Eine englische Studie von Henry V. Dicks weist auch auf den möglichen Zusammenhang von (sozialisierter) Persönlichkeitsstruktur und politischer NS-Ideologie hin. 1000 deutsche kriegsgefangene Soldaten wurden dabei in den Jahren 1942-1944 befragt. 36 % der Befragten waren Nazis (11 % „aktive“ und 25 % Nazis „mit Vorbehalt“), 40 % waren unpolitisch, 15 % passive und 9 % aktive Anti-Nazis. Die ersten 36 % zeigten eine signifikante Ablehnung von Zärtlichkeit und Muster einer großen Identifikation mit autoritären, bestrafenden und auf Gehorsam bedachten Vätern, ohne dass sie Zweifel oder Kritik an diesen äußerten. Die Gefangenen dagegen, die sich durch eine gute Beziehung zu einer liebenden Mutter auszeichneten, waren auch am wenigsten der Nazi-Ideologie verfallen, während die Männer mit hohen „Nazi-Werten“ keine liebevolle Beziehung zur Mutter oder zu Frauen im allgemeinen hatten. (vgl. Gruen, 2002a, S. 123ff)
Wirth (2006) weist bzgl. des Balkankrieges in den 90er Jahren darauf hin, dass die Massenvergewaltigungen und die besondere Brutalität der serbischen Soldaten eng mit den (durch verschiedene Studien nachgewiesenen) hohen Raten von Inzest, sexuellem Missbrauch und der massiven Gewalt gegen Kinder in der serbischen Gesellschaft verknüpft sind. (vgl. Wirth, 2006, S. 327ff) Traditionell war und ist die häusliche Atmosphäre in vielen Familien der Balkanländer durch ein hohes Maß an Brutalität gegen Kinder und Frauen gekennzeichnet bzw. ist die Familienstruktur patriarchal-autoritär ausgerichtet. Die Rolle des Vaters – und damit auch die der Söhne – ist durch eine unduldsame und aggressive „männliche“ Haltung definiert. Die Erziehung der Söhne steht in der Tradition eines „männlich-aggressiven, kämpferischen Volkes“ und hat zum Ziel, aus den Knaben „mutige Krieger“ zu formen, deren „Clan-Gewissen“ durch die Auffassung charakterisiert ist, nur ein Soldat sei ein richtiger Mann. „Mannesehre und Heldentum bilden die Grundpfeiler des Normen- und Wertesystems bei den Kulturen des Balkan.“ (ebd., S. 326)
Puhar (2000a) beschreibt ausführlich die Geschichte der Kindheit und deren weiteres Nachwirken im ehemaligen Jugoslawien: „Meine Arbeit enthüllte eine Welt, in der Babys straff gewickelt wurden und die von Magie und Aberglauben regiert wurde, dominiert von bösen Geistern, welche Projektionen der elterlichen Böswilligkeit darstellten. Babys konnten nur "gerettet" werden vor diesen projizierten dämonischen Gefühlen, indem auf sie gespuckt wurde, oder indem man sie an einem Fuß, kopfunter, über ein offenes Feuer hielt oder für eine kurze Zeit in den Ofen schob. Wie bei Kindern im Mittelalter wurde an den Brustwarzen der Babies so oft gesogen und herumgezogen, dass sie sich bald entzündeten, blutig und gangränös wurden. Als die Kinder aufwuchsen, wurden sie den üblichen mittelalterlichen Bestrafungen unterworfen: sie wurden zusammengeschlagen, mussten Urin trinken, wurden mit brühend heißem Wasser begossen, und so weiter. Diese unangenehmen Tatsachen der Kindheit waren Realität im Slowenien des neunzehnten Jahrhunderts, aber sie sind immer noch Realität in großen Teilen des übrigen Jugoslawien im zwanzigsten Jahrhundert.“ (Puhar, 2000a, S. 108) Puhar schildert (im historischen Rückblick, aber mit aktuellen Bezügen) die Lebenswirklichkeit im ehemaligen Jugoslawien als ein Leben der Grausamkeit und Destruktivität, voll von Hass und Misshandlung. Die Folge wäre „eine Haltung fatalistischer, würdevoller Resignation, kombiniert mit militanter Aggressivität und gefühlloser Brutalität.“ (ebd., S.135; siehe ausführlich zur familiären Gewalt auf dem Balkan auch Puhar 2000b)
Interessant ist auch, dass Puhar die (offiziellen) Säuglingssterblichkeitsraten (als grobe Indizes des Standes der Sorge um die Kinder) von 1989 zur Analyse für politisches Verhalten bzw. zur Differenzierung heranzieht. Säuglingssterblichkeitsraten auf 1000 Einwohner: Slowenien (8,5), Kroatien (12,7), Montenegro (15), Bosnien (19,9), Serbien einschließlich Kosovo (20,2), Mazedonien (37,9), und Kosovo (50,7). Entsprechend verliefen die kriegerischen Auseinandersetzungen entlang dieser Linie, mit den geringstem Gewaltaufkommen in Slowenien („nur“ 10 Tage Kampf), mit einer erheblichen Steigerung in Kroatien, mit einer Explosion der Gewalt in Bosnien bis zu einem „völlig selbstmörderischen“ Krieg der Serben. (vgl. ebd., S. 110ff)

Bzgl. Slowenien – das Land mit dem niedrigsten Gewaltaufkommen während des Bürgerkrieges – fällt insbesondere auch auf, dass in diesem Teil Jugoslawiens nie die kommunalen oder Gemeinschafts-Familien (bekannt als Zadrug), vorherrschend waren. Dieser Familientyp „(...) bedeutete ein Leben der konstanten Kriegführung“ (vgl. Puhar, 2000b, S. 144; siehe ausführlich zur Zadrug auch Puhar, 2000a) „Während zur Jahrhundertwende die Eltern in den meisten Teilen Europas auf Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Leistungswillen insistierten (und diese Ziele nach und nach mit immer weniger strengen Methoden erreichten), galt für das einfache Leben in den sogenannten Zadrugas des Balkan das Gegenteil.“ Puhar, 2000b, S. 144) Kurz gesagt: In Slowenien entwickelten sich – im Gegensatz zum restlichen Jugoslawien - fortschrittlichere Erziehungspraktiken und es ist naheliegend hier Zusammenhänge zur verminderten Gewaltbereitschaft während des Balkankrieges zu sehen.

In neueren Zeiten ist der internationale Terrorismus eine große Bedrohungen für den Frieden. Wirth (2006) weist dazu auf den Zusammenhang von frühen und häufigen Traumatisierungen und Terrorismus hin. „Wir wissen einiges über die Selbstmordattentäter unter den Palästinensern. Vor allem die Jugendlichen, die sich für die Selbstmordattentate zur Verfügung stellen, sind von Kindesbeinen an einer permanenten Traumatisierung ausgesetzt. Sie erfahren ihr ganzes Leben lang extreme Formen von Gewalt, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Das hat sie abstumpfen lasen.“ (ebd., S. 376) Dazu kommt laut Wirth auf Grund des enormen Ausmaßes der Gewalt auch eine kollektive Traumatisierung der kollektiven Identität der Gruppe. Dies treibt viele zum Fanatismus und in entsprechende terroristische Ausbildungslager. Die künftigen Selbstmordattentäter werden dort systematisch extremen psychischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt, „die an Methoden der Gehirnwäsche, der Folter und der „künstlichen“ Traumatisierung erinnern. (...) Unter solchen Exrembelastungen kommt es zu einer Traumatisierung bzw. Retraumatisierung, die mit intensiven Gefühlen der Angst, der Scham, der narzisstischen Entwertung, der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden ist. Als Ausweg bietet sich nun die vorbehaltlose Identifikation mit der Gruppe, dem Führer und der Gruppen-Ideologie an. Ergebnis ist ein fanatischer Anhänger, ein heiliger Krieger, der alles „Gute“ ausschließlich in der Sekten-Ideologie findet und alles „Böse“ und Hassenswerte auf den Feind abgespalten hat.“ (ebd., S.378ff; siehe dazu auch 4.1)
Auch deMause hat eindringlich auf die „extrem missbrauchenden Familien der Terroristen“ hingewiesen. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff) Kinder, die heranwachsen, um islamische Terroristen zu werden, sind laut deMause Produkte der innerfamiliären Gewalt und eines frauenfeindlichen, fundamentalistischen Systems. „Von Kindheit an ist den islamischen Terroristen beigebracht worden, jenen Teil in sich selbst umzubringen – und in weiterer Übertragung auch bei anderen -, der selbstsüchtig ist und gerne persönliches Vergnügen und Freiheiten hätte. Bereits in ihren von Gewalt und Schrecken beherrschten Elternhäusern –und nicht erst später in den terroristischen Trainingscamps – lernen sie von Anfang an, Märtyrer zu sein und für Allah zu sterben.“ (ebd., S. 42ff)

Am deutlichsten wird o.g. These - „Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele“ – allerdings durch zwei (qualitative) Studien belegt: Mantell (1978) und weiter unten nachfolgend Roeder (1977).
Mantell kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Erziehungsstile im Elternhaus zwischen den von ihm untersuchten Kriegsdienstverweigerern und Kriegsfreiwilligen (US-Spezialeinheit: Green Berets) signifikant unterscheiden. (vgl. Mantell, 1978) Das Familienleben der Kriegsdienstverweigerer wurde von den Befragten als überwiegend ruhig, freundlich, entspannt und sanft, ebenso wie stabil und sicher geschildert. Jedem Familienmitglied wurde große Bewegungsfreiheit und Ausdrucksfähigkeit zugestanden. Keiner der Befragten wurde körperlich schwer bestraft. Der Großteil wurde selten oder nie geschlagen. Zudem wurde in der Familie allgemein die „humanitäre Sozialethik“ und individuelle soziale Verantwortung betont und gleichzeitig auch gelebt.

Der Erziehungsstil bei den Kriegsfreiwilligen war dagegen autoritär, kalt und brutal. Mit der Ausübung körperlicher Strafen wurde in den jeweiligen Situationen meist gnadenlos – teilweise sogar verstärkt - fortgefahren, selbst wenn die Kinder schon offen ihr Leid zeigten. Es gab zudem wenig Raum für eigene Gefühle und Meinungen. Feinfühligkeit und Zärtlichkeit wurde in diesen Familien vor allem für Jungen/Männer als Zeichen der Schwäche gesehen und unterbunden. Äußerlich waren diese Familien intakt, gefestigt und sozial akzeptiert, was der inneren Wirklichkeit allerdings nicht entsprach. (vgl. ebd., S. 38ff+73)
Während ihrer Kindheit kamen diese Kriegsfreiwilligen mit einem Wert- und Erziehungssystem in Berührung, das mit dem (späteren) Militärleben gut zu vereinbaren war. Interessant ist auch, dass die überwiegende Mehrheit der Freiweilligen der Meinung war, ihre Eltern hätten sie „gut erzogen“, der Grossteil hielt die Eltern sogar für „immer gerecht“. Dieser Idealisierung stehen die geschilderten Erfahrungen gegenüber. Außerdem hatte kein einziger der erwachsenen Befragten eine enge Beziehung auch nur zu einem Elternteil. Die Gefühle ihren Eltern gegenüber reichten vom einem vagen Gefühl bis zu völliger Distanz. (vgl. ebd., 128ff) Die Idealisierung der Eltern diente offensichtlich der Abwehr schmerzhafter Gefühle. Die Beziehungen der Freiwilligen zu anderen Menschen war auch allgemein oberflächlich, ungebunden und utilitaristisch. Sie interessierten sich selten für die Gefühle anderer, so wie sich früher niemand für ihre Gefühle interessiert hatte. Ihnen fehlte offensichtlich die Fähigkeit zu Mitgefühl. Dementsprechend sahen sie sich auch als „gemietete Gewehre“, als bezahlte Killer, die sich keinen Gedanken darüber machten, für wen sie arbeiten und wen sie eliminieren. (vgl. ebd., S. 164 + 265)
Nachfolgend möchte ich im Kontext von Familie und Militär/Krieg ein etwas längeres, eindrucksvolles Zitat von Mantell anbringen, das wie kein anderer Text meiner Recherchen zum Ausdruck bringt, wie sehr die Ausschaltung des Mitgefühls vom Militär gewollt ist, damit Krieg überhaupt funktionieren kann und wie die Familie den Grund und Boden dafür liefert. (Mantell wurde von einem Oberst des entsprechenden Militärstützpunktes gebeten, die psychologische Situation der Soldaten zu erläutern):
„Mantell: Der Soldat in den Special Forces war seit früher Kindheit an sehr harte, strenge und willkürliche Disziplin gewöhnt (...) in Form von Peitschenhieben, Einschüchterungen, Schlägen (...) In Ihren Familien gab es wenig bis keine Wärme (...) Strafen nahmen gewalttätige Formen an (...) Da gab es Waffen in der Familie (...) Sie sind seit früher Kindheit an die Verwendung von Waffen gewöhnt (...) Sie haben gejagt und die Waffen verwendet, um zu töten (...) Sie hatten keine starke Bindung an irgend etwas außerhalb der Familie (...) Die Familien waren isolierte Einheiten (...) Es gab keine positiven emotionalen Bindungen innerhalb der Familie, die zum Ausdruck gebracht wurden (...) Obwohl sie während der Jugendzeit häufig Geschlechtsverkehr hatten, hatten sie keine emotionalen Bindungen an diese Mädchen (...) Sie gaben nicht an, tiefe Freundschaften mit irgend jemandem gehabt zu haben (...) Der Armeedienst macht ihnen Spass (...) Sie respektieren alle Zweige der Exekutive und wissen deutlich, was ihnen passieren kann, wenn sie etwas Kriminelles tun (...) Sie haben viele Menschen getötet, Männer, Frauen und Kinder in Vietnam und haben keine Schuldgefühle oder Alpträume (...)

Oberst X: Wissen Sie, Sie haben den Amerikanismus in seiner besten Form beschrieben. Aber irgendwie haben Sie ihn verdreht, so dass es fast abschätzig klingt. Wir sind so stolz, diese Art von Individuum in den Special Forces zu haben, es ist unglaublich.“ (ebd., S. 302)

Die bundesdeutsche Untersuchung von Roeder (1977), in der 49 Soldaten und 52 Verweigerer mehrstündig befragt wurden, ergab ein sehr ähnliches Ergebnis, das ich ebenfalls relativ ausführlich darstellen möchte. In der Untersuchung wird deutlich, in welchem hohen Maße die Familie und die jeweiligen Erziehungsstile die spätere Einstellung zur Gesellschaft und insbesondere auch zur Bundeswehr bestimmen können.
Die untersuchten Freiwilligen sahen sich als Kind mit strengen Verhaltensrichtlinien und Gehorsamsforderungen durch ihre Eltern konfrontiert. Selbstständiges Verhalten und Denken der Kinder war nicht erwünscht. Es gab körperliche Strafen (die Eltern betrachteten körperliche Züchtigungen als normales Erziehungsmittel) und vor allem auch sparsame Zuwendungen, um die Anpassung des Kindes an ihre persönlichen Bedürfnisse zu erreichen. In einem Fallbeispiel - Günter L. – kam die Bedeutung psychischer Gewalt anschaulich zur Sprache. G.L.: „Das Schlimmste war immer, mein Vater hat an sich wenig geschlagen, aber das Schlimmste war immer, wenn meine Eltern dann nicht mit mir geredet haben, das war für mich das Schlimmste.“ (Roeder, 1977, S. 91) Der Vater hat nach G.L.`s Aussage bis zu einer Woche (!) lang nicht oder kaum mit ihm gesprochen, um eine Unterwerfung zu erreichen. Hier wird zum Einen deutlich, wie extrem verletzend psychische Gewalt wirken kann. Zum Anderen werden mögliche Forschungsfehler aufgezeigt. Günter L. ist nach eigener Aussage relativ wenig geschlagen worden. Da bei wissenschaftlichen Befragungen i.d.R. die psychische Gewalt nicht oder kaum abgefragt wird, wäre er bei anderen Untersuchungen als der von Roeder evtl. als „selten misshandelt“ eingestuft worden. Dies hätte zu Verwässerungen im Ergebnis geführt.

Oftmals berichteten die Freiwilligen, dass innerhalb der Familie generell wenig miteinander gesprochen wurde. In keiner Familie der Freiwilligen gab es flexible, demokratische Konfliktlösungen, Widersprüche wurden verleugnet oder bagatellisiert und ihre Austragung durch autoritative Anweisungen oder stillschweigende Manipulation unterdrückt. Die Freiwilligen lassen sich als selbstunsicher charakterisieren, die, da spontanes, innerlich selbstständiges Verhalten innerhalb ihrer Familien nie erprobt wurde, stark abhängig waren von Normen- und Handlungsrahmen. Entsprechend schreibt Roeder: „Es lässt sich sagen, dass bei dem Entschluss, Zeitoffizier oder Berufssoldat zu werden, der strukturelle Aspekt der Bundeswehr dort die größte Rolle spielte, wo in der Herkunftsfamilie ein starres Rollenschema bestand, das dem einzelnen nur geringen Handlungsspielraum gab und wenig Möglichkeiten zur Selbstentfaltung ließ.“ (ebd., S. 88)
Die Freiwilligen erfuhren von ihren Vätern auch mehr oder weniger Gleichgültigkeit und Ablehnung. Auffallend war hier, dass die Freiwilligen trotz weniger positiver Erfahrungen mit ihren Vätern immer wieder versuchten, die Beziehung zu diesen zu beschönigen, ähnliches ergab auch Mantells Untersuchung (Stichwort: „Identifikation mit dem Aggressor“). Roeder schreibt: „Da die Eltern von niemanden in Frage gestellt oder kritisiert wurden, identifizierten sich die Freiwilligen bald mit deren Befehlsgewalt, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass sie erlittene Strafmaßnahmen billigten, sie als „gesund“ bezeichneten und unter Hinweis auf deren Effektivität rechtfertigten.“ (ebd., S. 100) Die Soldaten nahmen väterliche Gewaltausbrüche letztlich als selbstverständlich hin, diese galt es nicht zu hinterfragen. Entsprechend glaubten die Freiwilligen auch in ihrem späteren Leben, dass es kaum Sinn machen würde, sich sozial oder politisch zu engagieren oder einzumischen. „Die politische Apathie war von der persönlichen Erfahrung geprägt, dass es kaum Möglichkeiten gibt, auf die Umstände der eigenen Existenz grundlegend einzuwirken. Die bevormundende Erziehung (…) schuf hier einen Fatalismus, der alles Gegebene passiv hinnimmt und Wandel nur von Wundern erwartet.“ (ebd., S. 103)
Ähnlich wie in der Untersuchung von Mantell, hatten auch in dieser Untersuchung die Freiwilligen Beziehungsprobleme mit Frauen; eine tiefere, liebevolle Beziehung glückte ihnen kaum. Sie respektierten während ihres Dienstes die Autorität ihrer Vorgesetzten und schwiegen, auch wenn sie Anlass zu Kritik sahen (ähnlich, wie sie in ihren Familien immer alles hingenommen hatten.). Bei destruktiven Handlungen war es den Freiwilligen wichtig, dass diese formell nicht anfechtbar waren, nach anerkannten Regeln verliefen oder sogar juristisch abgedeckt waren. „Ohne Zweifel lag für sie eine der Attraktionen der Bundeswehr in deren Legitimation von direkter und indirekter Gewalt.“ (ebd., S. 102) Generell ließen sich die Freiwilligen kaum durch das Schicksal anderer Menschen beeindrucken, sie zeigten allgemein wenig Mitgefühl.
Von den Familien, in denen die untersuchten Kriegsdienstverweigerer aufwuchsen, lässt sich ein anderes Bild malen. Hier gab es lebhafte, vielseitige und gefühlsbetonte Kommunikation. Dabei wurde keine Harmonisierung der Beziehungen angestrebt, vielmehr wurde in auffallendem Maße Nichtübereinstimmung bei entscheidenden Fragen der Lebensführung und –einstellung akzeptiert und verbalisiert. In fast jeder Familie gab es ein Vorbild für Zivilcourage und nonkonformistische Entscheidungen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in diesen Familien war allgemein sehr stark. Eine unanfechtbare Machtposition nahm – im Gegensatz zu den Freiwilligen - keiner der Väter in den Familien der Verweigerer ein. Auffallend ist, dass die Verweigerer sich insbesondere auch mit weiblichen Vorbildern in ihren Familien (Mutter, Großmutter) identifizierten, was eine Distanz zu traditionellen männlichen Verhaltensmustern, bei denen körperliche Kraft und Aggressivität eine Rolle spielt, schuf. Die Verweigerer erlernte relativ früh Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Ihre Gefühlbindungen zu anderen Menschen waren häufig tief. Ihre Grundeinstellung ließe sich am Besten als Solidarität mit den Beherrschten statt Loyalität gegenüber den Herrschenden kennzeichnen. Die Verweigerer zeigten allgemein auch großes Einfühlungsvermögen. Roeder schreibt: „Die Fähigkeit, sich die Folgen eines Krieges in ihrer Bedeutung für die Betroffenen intensiv vorzustellen, war ein entscheidendes Kriterium für die Kriegsdienstverweigerung.“ (ebd., S. 99) und „Es lässt sich sagen, dass die Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung grundsätzlich gefühlsbetont war.“ (ebd., S. 107)
In Einzelfällen - Fallbeispiel „Albert D.“ S. 93ff - kam auch in den Familien der Verweigerer körperliche Gewalt durch den Vater vor. Interessant dabei ist, dass diese Gewalt eher die Ausnahme war und von – in Alice Millers Worten – einem „Helfenden Zeugen“ (i.d.R. der Mutter) offen abgelehnt wurde. Dazu kam in dem Beispiel von Albert D., dass der Vater seinem Sohn von seiner politischen Verfolgung und KZ-Haft berichtet hatte, auf Grund dessen er verbittert sei. Der Sohn verurteilte zwar die selten Schläge durch seinen Vater, brachte diese allerdings auch mit dessen Geschichte in Verbindung. Der Sohn verstand durch diesen offenen Umgang also, dass die Schläge nichts mit seiner Person zu tun hatten (Im Gegensatz dazu lautet erfahrungsgemäß in destruktiven, misshandelnden Familien die offene Botschaft gegen das Kind oftmals „Du bist schlecht und selbst schuld, wenn wir dich misshandeln!“, was i.d.R. erhebliche schädliche Folgen für die entsprechen Kinder hat und eine spätere Aufarbeitung erschwert), sondern mit der Geschichte seines Vaters und dessen Not zusammenhingen.
An diesem Fallbeispiel werden also drei Kernpunkte exemplarisch dargestellt, die für die Folgen und Verarbeitung von erlittener Gewalt meiner Auffassung nach wesentliche Bedeutung haben:
1. Intensität und Häufigkeit der Gewalt gegen Kinder niedrig oder hoch
2. An- oder Abwesenheit eines „Helfenden Zeugen“
3. Offenes Reden über evtl. bedeutende, destruktive Erlebnisse der Eltern oder Verdrängung/„Mauer des Schweigens“ (siehe dazu auch Kapitel
8.4)
Ich meine, dass diese drei Punkte gerade innerhalb der Gewaltforschung größerer Aufmerksamkeit bedürfen. Nach meinem Eindruck werden vor allem Punkt 2. und 3. oftmals übersehen bzw. übergangen.

Beide genannten Untersuchung sind auf Grund der relativ geringen Fallzahlen nicht verallgemeinerbar, können aber explorativ gesehen werden und zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und späterem Leben und Wirken.
Wenn man sich hineinversetzt in die Situation eines Soldaten in der Ausbildung, dann kommt mir als erstes der Gedanke auf, dass man als Mensch eine solch demütigende Behandlung eigentlich nicht gewohnt sein sollte und dass man diese freiwillig nicht mitmachen würde. Jedem, der einem im Alltag herumkommandieren möchte, demütigt und beleidigt sagt man, dass er oder sie bitteschön doch seinen Tonfall ändern mögen und man lässt solche Menschen einfach links liegen. In der Grundausbildung tun sich tausende Soldaten Tag für Tag und zwar weltweit eine solche Demütigung an, lassen sich Befehle gefallen und sich zum Befehlsempfänger machen.[1] Die Vermutung liegt nahe, dass diese Soldaten eben nicht sagen können: „Ich bin einen solchen Umgang mit mir als Mensch nicht gewohnt!“ und dies vermutlich auf Grundlage von bereits in der Kindheit eingetretenen Grenzen und der Verletzung ihrer Würde. So dass man den Satz im Extrem so umschreiben könnte: „Ich bin es gewohnt, gedemütigt und misshandelt zu werden, dies scheint die Normalität zu sein!“ Finden Soldaten in der Armee also ein „zu Hause“, wie sie es von früher kennen?

Nun ist der Militärdienst nicht in allen Ländern der Welt freiwillig bzw. kann diesem durch Alternativen wie z.B. dem Zivildienst entgangen werden. Doch selbst in totalitären Staaten wie der ehemaligen DDR gab es immer Menschen, die den Dienst an der Waffe trotz zu erwartender Repressalien durch das Regime verweigert haben, entweder durch Totalverweigerung oder durch den Dienstgrad „Bausoldat“. Trotz Geheimhaltung dieses „Dienstgrads“ gab es in der DDR jedes Jahr bis zu 400 „Bau- oder auch Spatensoldaten“, die durch diese Entscheidung ihre Zukunft in diesem Land verwirkt hatten. (vgl. Dokumentation „Dienen bei der NVA – Spatensoldaten“ auf Phoenix, 23.06.07) Für die Kriegsursachenforschung wäre es sicherlich aufschlussreich, solche Menschen, ihre Beweggründe und vor allem auch ihre Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien weiter zu untersuchen. (In o.g. Bericht wurde zumindest erwähnt, dass die „Bausoldaten“ meist christlich und überdurchschnittlich intelligent waren.)



[1] Seit Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht haben in Deutschland mehr als 8,1 Millionen junge Männer Grundwehrdienst geleistet. (Zeitraum 1957 – 2005) (vgl. www.bundeswehr.de / Geschichte der Wehrpflicht)



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