Montag, 27. Oktober 2008

3.3 Stalin: Ein Diktator, der einst als Kind „zu Stahl geschlagen wurde“

Der Biograph und Historiker Alan Bullock (1993) gibt ein - wenn auch kurzes - Bild davon, was Stalin (echter Name: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili) als Kind und Jugendlicher an Leid erfuhr. Auch Stalin hatte eine ähnliche Ausgangssituation wie Hitler: Er war das erste überlebende Kind nach zwei Fehlgeburten. Stalins Vater war laut Bullock „ein raubeiniger, gewalttätiger Mann, ein Trinker, der Frau und Kind schlug und kaum den Lebensunterhalt verdiente.“ (Bullock, 1993:, S. 15). Stalins Jugendfreund Iremaschwilli schrieb in seinen Memoiren: „Die ungerechten und schweren Prügel, die er als Knabe bezog, machten ihn so hart und herzlos, wie sein Vater es war. Da er überzeugt war, dass jeder, dem irgend jemand Gehorsam schuldete, seinem Vater gleichen müsse, entwickelte er bald eine tiefe Abneigung gegenüber allen, die ihm übergeordnet waren. Von klein auf wurde die Verwirklichung seiner Rachegelüste zu dem Lebensziel, dem er alles unterordnete.“ (zitiert nach ebd., S. 15)
Auch Neumayr (1995) beschreibt die väterliche Gewalt. Stalins Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Ebenso wurde Stalins Mutter häufig Opfer brutaler Prügel durch ihren Mann (vgl. Neumayr, 1995, S. 261) und der junge Josef sicherlich stummer und hilfloser Zeuge dieser Übergriffe.
1890 zerbrach schließlich die Ehe der Eltern. Stalin muss zu diesem Zeitpunkt 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein. In diesem Jahr sah der junge Josef seinen Vater zum letzten Mal. Der Vater wurde später zum Landstreicher und verstarb 1909 an Leberzirrhose. (vgl. Kellmann, 2005, S. 9)
Bullock schreibt weiter, dass der junge Stalin durch die „liebevolle Zuneigung“ und „Förderung“ seiner Mutter einen Ausgleich zu den väterlichen Misshandlungen gefunden hätte. Dies würde - trotz der kaum vorstellbaren Verbrechen, die Stalin später begangen hat - der Miller-These vom fehlenden „Helfenden Zeugen“ widersprechen. Bullock selbst bietet Hinweise, die eine andere Sprache sprechen. Stalins Mutter hatte eigene, egoistisch Pläne mit ihrem Sohn. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn Priester werden solle und setzte sich ihm gegenüber – auch entgegen den Vorstellungen des Vaters - eine ganze Zeit durch. Stalin absolvierte letztlich einige Jahre eine Ausbildung zum Priester. Wie einfühlsam und liebevoll ist eine Mutter, die ihren Sohn in einen Beruf zwingt, ohne auf seine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zu hören (und welche Gefühle musste Stalin gegen sie hegen, da er während seiner ungewollten Priesterausbildung erhebliche Verletzungen erlitt - siehe weiter unten)? Aus Bullocks weiteren Schilderungen lässt sich auch schließen, dass Stalin von seiner Mutter stark idealisiert wurde – ähnlich wie bei Hitler – und sie ihm vermittelte, dass er das Zeug für „Großes“ und „Bedeutendes“ hätte. Was für ein realistisches, authentisches Bild von ihrem Kind hat eine Mutter, die selbiges abgöttisch idealisiert? Hirsch (1994) spricht von emotionalem Missbrauch, wenn Eltern ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellen indem sie z.B. das Kind als Substitut des idealen Selbst sehen bzw. dem Kind auferlegen, all die unerfüllten Wünsche und Ideale der Eltern zu verwirklichen. (vgl. Hirsch, 1994: 52ff)

Diese Idealisierung und die Misshandlungen seitens Stalins Vater beschreibt Bullock als prägende Einflüsse, die sich entscheidend auf die Entwicklung von Stalins Persönlichkeit auswirkten. (vgl. Bullock, 1993, S. 17)
Den wesentlichsten Hinweis auf eine gestörte Beziehung zur Mutter bringt Bullock, als er berichtet, dass Stalin nach seiner Revolutionärslaufbahn seine Mutter nur noch wenige Male sah und 1936 nicht einmal zu ihrem Begräbnis erschien. Wie passt dieses Verhalten mit Bullocks Beschreibung einer „liebevollen Mutterbeziehung“ in Stalins Kindheit zusammen? Welche Gefühle musste Stalin gegenüber einer Mutter gehegt haben, die ohnmächtig die Prügel des Vaters duldete (laut Bullock wurde Stalin öfter in Anwesenheit der Mutter verprügelt)?

In einer aktuelleren Biographie über den „jungen Stalin“ weist Montefiore (2007) dagegen deutlich nach, dass Stalin nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Mutter häufig misshandelt wurde. (vgl. Montefiore, 2007, S. 66) Als Stalin seine Mutter später mit dieser Gewalt konfrontierte, soll sie nur gesagt haben, dass es ihm ja nicht geschadet hätte.
Auch deMause weist nach, dass Stalin von seiner Mutter geschlagen wurde (und Stalin wiederum seine eigenen Kinder schlug). (vgl. deMause, 2000b, S. 460) Kellmann schreibt einleitend in Stalins Biographie: „Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte.“ (Kellmann, 2005, S. 9) Aber auch ohne diese Informationen hätte Bullock einiges ableiten können, wie oben dargestellt.

Als Biograph eines Diktators ist er (wie auch andere Biographen von Diktatoren) letztlich auch eine Art Gewaltforscher. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass auch Gewaltforscher „blinde Flecken“ haben können und z.T. dazu neigen, traditionelle Mythen und Geschlechtsrollenvorstellungen (gewalttätiger Mann, friedfertige Frau) zu übernehmen. Ich vermute auch, dass während entsprechender Recherchen die Gefahr groß ist, auf die Vernebelungen und Scheinfassaden destruktiver Elternteile einerseits und die (überlebenswichtigen) Idealisierungen der Eltern durch das misshandelte Kind andererseits hereinzufallen. Destruktive Eltern halten bekanntlich vor sich und vor anderen das Bild aufrecht, sie seien die allerbesten und liebevollsten Eltern und alles, was sie tun, würde zum Wohle des Kindes geschehen (selbst wenn dies Gewalt gegen des Kind bedeutet). Entsprechend könnte dies den genauen Blick des Forschers trüben. Eine zusätzliche Frage ist auch, ob nicht manchmal evtl. eigene destruktive Kindheitserfahrungen der Gewaltforscher selbst einige „blinde Flecken“ ausmachen könnten. Zumindest finde ich es naheliegend, dass sich gerade auch Menschen mit eigenen Gewalterfahrungen an die Gewaltforschung machen. Zusätzlich möchte ich an diese „Forschungskritik“ anknüpfen, dass gerade die Kindesvernachlässigung und psychische Gewalt schwerer zu bestimmen und von Außen zu erkennen ist und von Forschern entsprechend (trotz schwerer Folgen für die Kinder) oftmals erst gar nicht in den engeren Blick kommt.

Um zurück zu Stalin zu kommen: Auch Stalins weiteres Leben als junger Mann in einem Priesterseminar war geprägt von Unterwerfungsritualen gegenüber Autoritäten, von Demütigungen durch die Mönche (z.B. ständiges Ausspionieren, Verfolgen, Anschwärzen und Durchsuchen seiner Privatsachen), von Ohnmacht und Gewalt. Fünf Jahre verbrachte er dort bis kurz vor seinem 20. Geburtstag und Bullock kommentiert diese Zeit u.a. mit dem Wort „Überlebenstraining“. (vgl. Bullock, 1993, S. 29) Stalin bedeutet nebenbei bemerkt übersetzt „Mann aus Stahl“. Welch tiefe Angst vor Hilflosigkeit, schmerzlichen Gefühlen und Ohmacht musste „Stalin“ empfunden haben, um sich so stahlhart und mächtig nach Außen zu präsentieren? Wie wenig Mitgefühl mit sich und somit auch mit anderen Menschen muss ein Mensch wie Stalin gehabt haben? Hier wird deutlich, wie Ohnmachterfahrungen in jungen Jahren das Leben eines Menschen entscheidend prägen können.

Am Rande erwähnen möchte ich noch, dass Josef auf Grund vieler Narben im Gesicht als Folge der Pockenkrankheit als „der Pockennarbige“ verspottet wurde. Und in der Pfarrschule von Gori – in die er erst mit 10 Jahren eintrat, vorher war er eher ein Straßenjunge – „sah sich der schäbig gekleidete Junge (…) den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt.“ (Kellmann, 2005, S. 10) Als Kind befiel ihn zudem eine Kinderkrankheit nach der anderen und mehrfach verunglückte er auf der Straße. „Er wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb.“ (ebd.) Ob die vielen Krankheiten und Unfälle bereits etwas mit (unbewusster) Selbstzerstörung als Folge der elterlichen Misshandlungen zu tun hatten, sei dahin gestellt. Weitere Niederlagen waren diese Erfahrungen und die Hänseleien durch andere Kinder alle mal.

Montefiore (2007) kennzeichnet Stalin übrigens mit Blick auf seine jungen Jahre als Kriminellen, der weder vor Bankraub, Schutzgelderpressung und Entführung noch Mord zurückschreckte. Van der Kolk. & Streeck-Fischer (2002) berichten aus einer Studie, dass 82 % der untersuchten Straffälligen als Kind misshandelt wurden (vgl. Kolk. / Streeck-Fischer, 2002, S. 1022ff) und Garbarino & Bradshaw (2002) stellen bzgl. Häufigkeitsstudien fest, dass 72 % bis 93% aller jugendlichen Straftäter körperliche Gewalt in der einen oder anderen Form erlebt haben. (vgl. Garbarino / Bradshaw, 2002 S. 911) Studien über jugendliche Mörder ergaben, dass 90 % nachweislich aus Familien mit gravierender emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauchsvergangenheit stammen. (vgl. deMause, 2005, S.113)
Im „Handwörterbuch der Kriminalität“ heißt es: „Die Erfahrung schwerer Gewalttätigkeit im Elternhaus steht in enger Beziehung zu dem Auftreten von sozialabweichendem Verhalten und Kriminalität im Kinds-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ (Schneider, 1998, S. 338)
Einen Zusammenhang zwischen selbst erlittener und später selbst ausgeübter Gewalt bzgl. Straftätern zu untersuchen und festzustellen, fällt der Forschung nicht all zu schwer. Solche Ergebnisse dürften auch in der Gesellschaft relativ wenig Aufsehen und Gegenkritik bewirken. Systematische Untersuchungen bzgl. Diktatoren und destruktiven politischen Entscheidungsträgern und Versuche, dergleichen Zusammenhänge auf diese zu übertragen, scheinen dagegen allem Anschein nach bisher in der (Gewalt-)Forschung eher wenig von Interesse zu sein. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass dort, wo vereinzelt auf solche Zusammenhänge hingewiesen wird, im Allgemeinen mit starker Kritik und Verleugnung reagiert wird. Dass ein einfacher Krimineller evtl. auf Grund seiner (Kindheits-)Geschichte so wurde, leuchtet vielen ein, aber einen Diktator (also einem politischen Kriminellen) mit der selben Schablone zu untersuchen, dass sei Schwachsinn und zu vereinfacht. Ist dem wirklich so?



Über Stalins Verbrechen und die Millionen Opfer seiner Diktatur ist viel geschrieben worden. Eine Information möchte ich noch anbringen: Stalin selbst hat seine Kinder geschlagen, so wie er einst geschlagen wurde (wie bereits oben erwähnt). DER SPIEGEL (vgl. Nr. 24, 11.06.2011, S. 65) schreibt, dass Stalins zweite Frau sich das Leben genommen hat, ein Sohn wurde zum Trinker, der andere wollte sich das Leben nehmen. Als das scheiterte, spottete Stalin "Haha, danebengeschossen!" Die Gefühlskälte und die Destruktivität eines politischen Führers wirft eben immer auch ihre Schatten auf das Private und die Familie. Menschen wie Stalin zerstören alles, was sie zerstören können. Da sie nie einen Hauch von Liebe und Zuwendung erfuhren, kennen sie nur die Rache und den Hass, sie kennen keine Gnade und kein Mitgefühl. Ihre Sprache und ihr Handeln ist vergiftet, so wie ihre Kindheit vergiftet war. Was wir in Menschen wie Stalin sehen, ist das Bild eines Menschen, der aber im Grunde wie eine Maschine ist und handelt und alles menschliche, zärtliche, liebevolle, lebendige und emotionale verloren hat.

Natürlich reicht die Psychopathologie der Regierenden nicht aus, um Kriege zu ermöglichen. In den nachfolgenden Kapiteln gehe ich ausführlich auf die Bedeutung von emotionalen Problemen bei Soldaten und im Volk ein. Ein psychisch kranker „Führer“ sagt letztlich viel über das emotionale Leben der Bevölkerung aus bzw. er verkörpert – mit den Worten von deMause - die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes.



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