Albert Speer – ehemaliger NS-Rüstungsminister, Lieblingsarchitekt und Vertrauter von Adolf Hitler – sagte in einem Interview in der ZEIT im Jahr 1979 mit dem Hitler Biografen Alan Bullock:
„Ich bin auch der Meinung, dass er (Anmerk.: gemeint ist Adolf Hitler) nicht einfach uns getrieben hat, sondern dass ihn etwas getrieben hat. Unerklärlich ist für mich immer noch der Einfluss, den Hitler auf die Menschen ausüben konnte. Ich rege immer wieder an, dass doch irgendwann einmal ein guter Psychoanalytiker dieses Problem durch die ganze Geschichte hindurch verfolgt, um einmal dem nahezukommen, was da eigentlich vor sich geht, (…) an all den vielen Erscheinungen in der Geschichte, einschließlich Hitler. Dieses Phänomen wird von der Geschichtsschreibung, soviel ich weiß, zwar berührt, aber es wird nicht als ein Kardinalspunkt betrachtet.“ (Michalka, 1980)
Was Hitler getrieben hat, habe ich versucht im Kapitel 3.2 an Hand der Beschreibung dessen traumatischer Kindheit darzustellen. Doch was hat das Volk getrieben, diesem Schlächter bedingungslos zu folgen?
Benz (1992b) geht von einer „Disposition zur Radikalität“ aus, die, wenn ungünstige individuelle und soziale Bedingungen zusammentreffen, von gesellschaftlichen Kräften instrumentalisiert werden kann. (vgl. Benz, 1992b, S. 28) Um gegen Kränkungen und Verletzungen[1] unempfindlich zu werden, machen sich Kinder immun gegen die eigenen Gefühle und vernachlässigen auf diese Weise ihr emotionales Empfinden auch gegenüber Dritten. Solche Kinder haben am eigenen Leibe gelernt, Schmerzen grundsätzlich zu ignorieren und überschreiten somit auch leichter die Schmerzgrenzen anderer. Die Fähigkeit zu Mitgefühl geht verloren.[2] Dazu kommt, dass für diese Kinder z.B. physische Stärke als Garant der ersehnten Überlegenheit und Unversehrtheit übermäßige Bedeutung bekommen kann bzw. sie sich auf die Seite des Starken und Mächtigen fantasieren und träumen können, hin zum Sieg über alle – Eltern, Erwachsene oder Kameraden -, die Anlass zu Enttäuschung, Verwirrung oder Kränkung boten.[3] Diese Kinder haben schlechte oder keine Voraussetzungen für die Überwindung ihrer radikalen Disposition. Kinder, die dagegen selbst Zugang zu eigenen Gefühlen haben (dürfen) und ggf. einzelnen Verletzungen ein positives Kräftereservoirs entgegenstellen können, statt entsprechende Gefühle verleugnen/verdrängen und abspalten zu müssen, sind grundsätzlich fähig, sich in die Lage anderer einzufühlen und bereit, gewisse Grenzen einzuhalten und ggf. radikales Freund-Feind-Denken zu modifizieren. Sie haben aus der erworbenen Fähigkeit, sich an eigenen Gefühlen zu orientieren, gute innere Voraussetzungen dafür, für radikale Ziele weniger oder nicht empfänglich zu sein. (vgl. ebd., S. 26ff)
Wie oben aufgezeigt wurden Kinder in der Vergangenheit – Ute Benz betont in ihrem Text vor allem die Wilhelminische und Weimarer Zeit, sowie den Nationalsozialismus - vor allem zur Härte gegen sich und andere erzogen (Jungen noch mehr, als Mädchen). Dabei geht es nicht nur um erfahrene rohe, körperliche Gewalt, sondern allgemein um die Erfahrung des Kindes, wie mit seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit, seiner Macht oder Ohnmacht und mit seiner Würde umgegangen wurde – gewalttätig, feindselig oder liebevoll und freundlich. In der NS-Zeit war das ideale Kind das ruhige, pflegeleichte Kind, das ggf. stundenlang sich selbst überlassen war, gleich ob es schrie oder still war und das vor allem sauber, ordentlich, tapfer, schmerzunempfindlich und absolut Gehorsam sein musste. So erlernten Kinder den spaltenden Umgang mit sich und der Welt als einzig dauerhafte Lösung, um sich zu retten bzw. zu überleben.
„Beim angepassten, pflegeleichten Kind vermutet später niemand die treibenden Kräfte aus abgespaltenen, vernichtenden Wutgefühlen und mörderischem Zorn, die gleichwohl ihren Niederschlag im sozialen und politischen Verhalten finden. Kinder, deren individuelle Impulse gehäuft übergangen werden, die nicht essen dürfen, wenn sie hungrig sind, und nicht weinen dürfen, wenn sie traurig sind, oder die nicht zornig werden dürfen, wenn sie sich geärgert haben, begreifen, längst ehe sie sich dessen bewusst werden, dass es aussichtslos ist, sich mit anderen als den erlaubten Bedürfnissen und Gefühlen zu zeigen. Sie sind beständig zur Vermeidung ihrer Empfindungen genötigt und vielfach zu rigoroser Abspaltung abweichender Bedürfnisse und unerwünschter Gefühle gezwungen. Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst wird jedoch unvermeidlich auch im Umgang mit anderen Menschen zur Grundhaltung. Wo Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft verfrüht durch Unterdrückung individueller Bedürfnisse entwickelt werden muss, gewinnt Zukunft eine besondere, politisch ausnutzbare Bedeutung: als Sammelbecken der Hoffnung auf Lohn für das Aushalten der gegenwärtigen Misere und der Hoffnung auf Gewinn von eigener Macht“ (ebd., S. 34)
DeMause (2005) meint: „(...) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005, S. 140) Er weist an Hand einer Fülle von Datenmaterial auch nach, dass die Gewalt und Vernachlässigung von Kindern im Deutschland um die Jahrhundertwende im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten um einiges erheblicher war. Das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19..Jahrhunderts wäre simpel gewesen: „Kinder können nie genug geschlagen werden.“ Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland 89 % aller Kinder geschlagen, über die Hälfte mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. ebd., S. 146ff) Die deutschen Kinder waren persönliche Sklaven ihrer Eltern. „Die strafende Atmosphäre deutscher Haushalte war so umfassend, dass man mit Überzeugung sagen kann, der Totalitarismus in den Familien führte zum Totalitarismus in der Politik.“ (ebd., S. 148) DeMause spricht in Folge dieser Gewalterfahrungen von abgespaltenen „Alter Egos“ (mehrere andere Ichs), diese sind letztlich wie (explosive) Koffer, in die die Menschen ihre traumatischen, abgespaltenen und urerträglichen Ängste und ihren Ärger packen. „Mit Ausnahme einiger Psychopathen und Psychotiker bewahren die meisten von uns ihre Koffer im Schrank hinter verschlossener Tür auf, scheinbar abseits unseres täglichen Lebens – aber dann verleihen wir die Schlüssel an emotional Delegierte, von denen wir abhängig sind, um die Inhalte ausagieren zu können und die es uns möglich machen, die Identifikation mit den Handlungen zu verleugnen.“ (ebd., S. 79) Hier sind einige interessante Aspekte benannt. Die sogenannten Verrückten sind demnach näher an ihrer echten psychischen Realität und Verzweiflung dran, sie haben - so man will - ihre Koffer ausgepackt. Dadurch können sie im Alltag nicht mehr so funktionieren, wie die ganz „normalen“ Menschen. (Arno Gruen beschreibt dies auch sehr anschaulich und ausführlich in seinem Buch „Der Wahnsinn der Normalität“ (1990), in dem – wie der Titel schon sagt – auch deutlich wird, dass diese „Koffer“ nicht wirklich verschlossen sind, sondern aus ihnen heraus beständige Destruktivität in den normalen Alltag wirkt.) Wenn allerdings die Umstände und vor allem emotional Delegierte (die Führer) das massenhafte Auspacken der Koffer legitimieren und ein Feind gefunden wird, kommt es zur Wiederaufführung des Traumas und letztlich zum Krieg. Dann werden plötzlich unzählige scheinbar ganz normalen Menschen zu offenen Wahnsinnigen.
Sozialpsychologische Experimente wie die Klassiker „Stanford-Prison-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Stanford-Prison-Experiment) und das „Milgram-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment) werden mit diesem Wissen verstehbar. Durchschnittlich ausgewählte VersuchsteilnehmerInnen, ohne besondere Auffälligkeiten, werden zu sadistischen Taten und bedingungslosem Gehorsam fähig, wenn durch den Versuchsaufbau ein Wechsel in ihr abgespaltenes Selbst ermöglicht wird. „Diejenigen, die damit fortfahren, Milgrams Experiment zu replizieren, und die immer noch darüber verblüfft sind, warum “banalste und oberflächlichste Erklärungen ausreichen, bei Menschen destruktives Verhalten auszulösen“, unterschätzen ganz einfach die Menge an Traumata, die die meisten Menschen erlebt haben, und die Effektivität von sozialer Trance, die es ihnen erlaubt, diese Schmerzen wiederaufzuführen.“ (deMause, 2005, S.84ff)[4]
Gruen ( 2002a) beschreibt die weiter oben bereits angedeuteten spaltenden Prozess als Folge destruktiver Erziehung sehr anschaulich und erweiternd. Kein Kind kann in dem Bewusstsein existieren, dass die Menschen, auf die es physisch und psychisch existentiell angewiesen ist (die Eltern), seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig oder gar grausam und unterdrückend gegenüberstehen. Diese Angst wäre, so Gruen, unerträglich, ja sogar tödlich. Ein Kind, das von seinen Eltern angegriffen wird und dessen Bedürfnisse frustriert werden, muss sich, um zu überleben, mit den Eltern arrangieren. Dazu wird das Eigene (vor allem eigene Empfindungen, Sicht und Empathie) als etwas Fremdes abgespalten, denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist dies die eigene Schuld des Kindes und der Angriff geschieht zu dessen „Wohle“.[5] Alles, was dem Kind eigen ist, wird somit abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors (das Eigene wird gehasst). Die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und die eigene Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern veranlassen könnten, dem Kind die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist die Identifikation mit den Eltern (bzw. den Aggressoren), das Übernehmen deren Werte, die Unterwerfung unter deren Erwartungen und eine schwammige, ungefestigte und unsichere Identität, die durch das Fremde, nicht das Eigene bestimmt ist. Unsere Menschlichkeit wird so letztlich zum Feind, sagt Gruen, der unsere Existenz bedroht und der überall – in uns selbst wie auch in anderen – bekämpft und vernichtet werden muss. (vgl. Gruen, 2002a, S. 14ff)
Gruen vertritt die These, dass es die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sind, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede. Das Eigene musste einst als fremd von sich gewiesen werden, dies wird zum Auslöser für die Notwendigkeit, Feinde zu finden und sie zu bekämpfen.[6] Alles, was beim Anderen/dem Feind an das verleugnete (abgespaltene) Eigene erinnert und die damit verbundene Scham, die Schmerzen, die Not oder kurz gesagt das eigene Opfersein, muss zerstört werden. Dagegen benötigt laut Gruen ein Selbst, das auf inneren Identitätsbezügen ruht und aus einer liebenden Beziehung zwischen Eltern und Kind entsteht, keine Feindbilder, um sich aufrechtzuerhalten. (ebd., S. 30+72)
Gleiches wie oben erwähnt gilt für erduldeten Schmerz, den man sich nicht zugestehen, den man nicht ausdrücken und fühlen durfte (der aber trotzdem nicht verloren geht). Dieser muss externalisiert und in Anderen gesucht werden (oder er wird nach Innen gerichtet; man tut sich selbst etwas an, verletzt sich selbst, wird krank, depressiv, verstrickt sich in Unfälle usw.). Hier liegt nach Gruen die wesentliche Ursache für den beeindruckenden Erfolg von Hitler. Das wahre Opfersein ihrer individuellen Geschichte konnten (oder wollten) Millionen Menschen nicht wahrhaben; sie waren aber bereit, sich als Opfer Anderer (als den Eltern) zu sehen und zu inszenieren. Diese Menschen konnten nur über den vermeintlichen Schmerz „schreien“, der ihnen angeblich von den „Fremden“, den Feinden angetan wurde. „Menschen bleiben solange für einen Hitler anfällig, wie sie nicht über ihren wahren Schmerz schreien konnten.“ (ebd., S. 30)
Der Mythos Hitler, ist – nach Gruen - nur durch das Bedürfnis der Vielen nach einem solchen Mythos und nach Erlösung von ihrem Opfersein zu erklären.
„Die Identifikation mit dem Aggressor führt dazu, dass Menschen (...) sich von dem Erlösung erhoffen, der sie zum Leiden brachte. Sie suchen jedoch nicht einen wirklich starken Führer, sondern eine Fiktion von Stärke. Diese war ja auch der Vater, auch der Mutter eigen, als sie das Kind unterdrückten, um sich selbst stark und bedeutsam zu fühlen. Deshalb hoffen solche Menschen, Erlösung bei dem zu finden, der Stärke verspricht, sie jedoch nicht besitzt. Was sie suchen, ist der grausame König oder die grausame Königin.“ (ebd., S. 106)
Miller (1983) spricht davon, dass man einen „unerlaubten Hass“ in sich trägt und begierig darauf ist, ihn zu legitimieren. Ein Hitler verstand es wie kein Zweiter, dem seit Kindheit aufgestauten Hass der Menschen ein Ventil zu bieten bzw. diesen zu legitimieren. Der „Fremde“ und Feind – in NS-Zeit vor allem der Jude - wurde dann schuld an allem, und die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben. (vgl. Miller, 1983, S. 196ff) In einem Artikel findet Miller weitere deutliche Wort zu diesem Themenkomplex: “Millionen einst gekränkter, gedemütigter Kinder, die sich nie bei ihren Eltern gegen die Zerstörung, gegen die Verletzungen ihrer Integrität wehren durften, werden durch den Krieg an die mehr oder weniger gut abgewehrte Geschichte ihrer eigenen Bedrohung erinnert. Sie fühlen sich aufgewühlt und verwirrt. Da ihnen aber die frühen Erinnerungen meistens und die dazugehörenden Gefühle immer fehlen, fehlt ihnen der Durchblick. Sie greifen, auf ihrer Flucht von der eigenen schmerzhaften Geschichte, zu den einzigen Mitteln, die sie als Kinder gelernt haben: zerstören oder sich quälen lassen, aber um jeden Preis blind bleiben. Blind fliehen sie vor etwas, das längst geschehen ist.“ (Miller, 1991)
Sehr deutlich wird die Identifikation mit dem Aggressor und die Suche nach äußeren Feinden (anstatt die eigenen Eltern anzuklagen) auch am Beispiel Balkankrieg. Wie im Kapitel 4. kurz dargestellt, waren und sind die Menschen im ehemaligen Jugoslawien als Kinder oftmals massiver Gewalt durch Eltern und Verwandte ausgesetzt. Slobodan Milosevic, selbst schwer traumatisiert wie schon beschrieben, wurde nun 1987 der große Führer der Serben, als er eine politische Rede hielt, in der er einen großen Aufschwung versprach: "Niemand hat das Recht, meine Leute zu schlagen! Ich verspreche Euch, mich darum zu kümmern: Niemand wird noch einmal geschlagen!" (Puhar, 2000b, S. 170) Es verwundert kaum, dass diese Botschaft bei den einst real geschlagen Menschen deutlich ankam und die Suche nach angeblichen äußeren Feinden gerade in dieser Region seine verheerende Wirkung fand. Puhar schreibt: „Diese markige Botschaft machte ihn im Nu zum Helden, zum charismatischen Führer, zum Kreuzfahrer, der versprach, zurückzuschlagen — und seine Leute liebten und bewunderten ihn dafür. Innerhalb weniger Monate war Serbien buchstäblich mit seinen Bildern bedeckt, Tausende von Leuten skandierten seinen Namen, begrüßten ihn als ihren Retter und versprachen ihm, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen.“ (ebd.) Puhar beschreibt, wie dies ein perfektes Beispiel für wechselseitige Hypnose sei: der Führer verzauberte die Menschen, die Menschen verzauberten ihren Führer. In der weiteren Folge inszenierten sich die Serben insbesondere als Opfer; Opfer der Slowenen, der Kroaten, der Albaner, des Westens usw. usf. Der weitere Verlauf ist bekannt....
Richter (1996) beschreibt weitere psychischen Entlastungsmomente auf der kollektiven Ebene. Feindeshass entlastet nicht nur von persönlichen, sondern auch von nationalen Selbstwertkonflikten und Niederlagen. Kränkungen, die ein Kollektiv erlitten hat, addieren sich zu den spezifischen individuellen Niederlagen und Minderwertigkeitserlebnissen und überformen den Projektionsvorgang. Richter macht dies u.a. am Beispiel der Niederlage der USA in Vietnam fest. Der spätere sowjetische Afghanistan-Überfall bot die Gelegenheit, die kränkenden nationalen Selbstzweifel und Verletzungen zu tilgen und „das Böse“ erneut im Außen festzumachen und dort zu bekämpfen. (vgl. Richter, 1996, S. 116ff)
Der ursprüngliche „Feind“ im Inneren des Menschen und der Gesellschaft soll durch den äußeren Feind vergessen gemacht werden. Mentzos (1995) spricht in diesem Zusammenhang von Pseudostabilisierung des Ich und von Gruppen. Seit dem „11. September“ wiederholte sich dies erneut, indem der amerikanische Präsident George W. Bush ungezügelt den erwähnten, gefährlichen Abwehrmechanismus vornahm: Die Spaltung der Welt in „gut“ und „böse“.
(Diese Spaltung der Umwelt ist auf der individuellen Ebene übrigens u.a. eine typische Folge von Kindesvernachlässigung und natürlich allen anderen Misshandlungsformen. - vgl. Motzkau, 2002, S. 715 - )
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Aspekt ansprechen, der auch auf gesamtgesellschaftliche Weise Bedeutung hat. Menschen wurden in der Vergangenheit (und werden auch heute noch) wie oben bereits dargelegt zum Still-Halten und Stil-Schweigen bzw. zum Gehorsam erzogen. Selbst offensichtlichem Unrecht (gegen Andere oder sich selbst) wird dann mit dem Erziehungsmotto: „Nur nichts beanstanden“, „kritiklos Bestehendes gutheißen“ oder „Immer ruhig sein und schweigen“ entgegnet. Die Realität wird somit letztlich verleugnet, was in einer potentiell bedrohlichen individuellen wie auch gesellschaftlichen Situation eine erhebliche Gefahr darstellt, da keine (rechtszeitige) Gegenwehr/-maßnahme erfolgt.( vgl. Bassyouni, 1990, S. 151) Eine typische Folge der Gewalt gegen Kinder ist der Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung. Wird dieses Vertrauen (später) nicht wieder aufgebaut, werden diese Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch in ihrem weiteren Leben als Erwachsene Probleme damit haben, Realitäten richtig einzuschätzen bzw. einfach sich selbst und den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Dies wurde von destruktiven Machtmenschen stets ausgenutzt (und wird es auch weiterhin, sowohl in individuellen Beziehungen[7] als auch auf gesellschaftlicher Ebene, wie ich meine). Deren destruktiven Ziele und Persönlichkeit wird von Menschen mit einer gestörten (Selbst-)Wahrnehmung) nicht (rechtzeitig) wahrgenommen.
Dazu kommt, dass Menschen, deren Grenzen oft überschritten wurden, laut Kraemer (2003) auch zu „chronischen Opfern“ werden können, indem sie sich mit der Opferrolle abfinden. Gesunde Aggressionen werden dann gänzlich nicht genutzt, dem Leben wird aus einer Haltung der Angst, Unsicherheit und Unzulänglichkeit heraus begegnet und eigene Grenzen werden nicht verteidigt bzw. der traumatisierte Mensch ist nicht in der Lage zu sehen, wer neue oder zusätzliche Grenzverletzungen begeht. Traumatisierte Menschen, die sich mit der Opferrolle arrangiert haben, werden sich in bedrohlichen Situationen tendenziell erneut als ohnmächtig erleben und Gegenwehrpotentiale nicht nutzen können. Sie erleben die Machtausübung und Grenzüberschreitung durch Andere (schlimmstenfalls) als „normal“, gerade wenn sie schon früh und häufig Machtmissbrauch erlitten haben. Menschen mit Ohnmachterfahrungen sind besonders anfällig, willkürlich operierenden Machtmenschen ausgeliefert zu sein. (vgl. Kraemer, 2003; S. 169ff) Insofern erklärt sich hieraus evtl. auch das massenhafte, stillschweigende Mitläufertum aus der NS-Zeit.
Somit ist hier im Kontext von Verletzungen im Kindesalter und Krieg neben den Täterpotentialen die zweite Seite angesprochen. Mit dem Aggressor identifiziert sein bedeutet entweder eine Entwicklung hin zum Täter oder ein resigniertes Verharren in der Opferrolle (die Grenzen zwischen beiden Polen können in der Realität natürlich auch fließend sein).
Diepold (1998) beschreibt diese zwei Grundmuster als Reaktion auf frühkindliche, schwere Traumatisierungen bzgl. Kindern wie folgt:
1. Aggressives-destruktives Verhalten: Das Aggressionspotential ist in ständiger Aktionsbereitschaft. Die Kinder sind auf Kampf eingestellt und greifen an, bevor sie selbst verletzt werden können.
2. Erstarrung, Depression und anklammerndes Verhalten: Vorherrschend ist z.B. eine eingefrorene Gestik und Mimik. Bei diesen Kindern ist das reiche Gefühlsleben mit den angeborenen Affekten erstarrt. Sie haben den emotionalen Dialog mit äußeren Objekten abgebrochen. (vgl. Diepold, 1998, S. 134ff)
Beide Seiten können letztlich unter gewissen Umständen gewalttätige bzw. kriegerische Entwicklungen und Machtmissbrauch bedingen. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 2. erinnert: Gewalt gegen Kinder ist keine Ausnahme, sie war und ist eher die Regel.
Diepold beschreibt bildlich und wahrlich erschreckend die innere Welt schwer traumatisierter Kinder. „Die innere Welt traumatisierter Kinder ist so, wie Hieronymus Bosch sie gemalt und Dante sie in seinem „Inferno“ beschrieben hat, oder der Mythos der Medusa sie erzählt: Gespenster und Geister, brennendes Feuer, Eiseskälte, Leichenstarre, von Kopf bis Fuss gespaltene Menschen, deren Fragmente sich zu ganzen Menschen zusammensetzen, Menschenleere und Einsamkeit, Spiele mit Leichenteilen, Unfälle und mörderische Aggressivität“ (ebd., S. 136)
Vielleicht liegt hier ein wesentlicher Teil der Antwort auf die im Zusammenhang von Krieg und Terror oft gestellte Frage, wie aus (scheinbar) ganz normalen Menschen aller sozialer Schichten, aus Nachbarn und Freunden in Kriegszeiten ganz plötzlich und über Nacht wahre menschliche Monster werden können. Und vielleicht sah auch die innere Welt des Kindes Adolf Hitler so aus. Hellhörig macht jedenfalls, dass über Hitler berichtete wird, er hätte das Bild der Medusa an seinen Wänden hängen gehabt und gesagt: „Diese Augen! Es sind die Augen meiner Mutter!“ (deMause, 2005, S. 154) Und wir wissen natürlich, dass Hitler als Erwachsener mit aller Gewalt die äußere Welt (mit Hilfe anderer Menschen) letztlich so formte, wie in Diepolds schrecklicher bildlicher Darstellung geschildert. Wenn man das „Phänomen Hitler“ (das ja nur ein Paradebeispiel für so viele andere ist) an Hand dessen traumatischer Kindheit erklärt, dann wird erfahrungsgemäß abwehrend geantwortet: „Das ist zu vereinfacht. Viele andere Menschen haben ja als Kind ähnliches erlebt, damit kann man Hitler also nicht erklären.“ Ich sage dann: „Eben, so viele haben ähnliches erlebt, genau das erklärt das „Phänomen Hitler“!
In Anbetracht dieser möglichen Folgen bzgl. schwer traumatisierter Kinder sollte dabei nicht vergessen werden, dass es in der Bevölkerung eine große Bandbreite von mehr oder weniger traumatischen Erfahrungen gibt (deren Auswirkung zusätzlich von vielen Faktoren wie z.B. Alter, Häufigkeit der Verletzungen, Nähe zum Täter/Täterin usw. abhängen). Es geht um „alltägliche Formen“ der Gewalt gegen Kinder bis hin zu Formen der Gewalt, die wir ohne weiteres als Folter und Terror bezeichnen können. Entsprechend unterschiedlich sind die Folgen. Arno Gruen spricht bzgl. der „Identifikation mit dem Aggressor“ stets davon, dass wir Menschen alle „mehr oder weniger“ von diesem psychischen Phänomen betroffen sind. Es geht mir in diesem Text hier nicht um die Stigmatisierung von schwer traumatisierten Menschen! Wir sitzen alle im gleichen Boot. Und wir Menschen sind durch diese Erkenntnisse aufgefordert, individuell entsprechende innere Prozesse und Blockaden zu bearbeiten und aufzudecken. (der „individuelle Gewinn“ kann dabei mit Verlaub ein Mehr an innerer Freiheit, Authentizität und Gefühlsleben sein) In unserer Gesellschaft geschieht dies i.d.R. mit Hilfe einer Psychotherapie. Die Politik wäre zusätzlich gefordert, diese „individuellen Prozesse“ in jeglicher Form zu fördern und zu unterstützen. Eine Streichung der Gelder für Beratungsstellen, soziale und psychologische Dienste usw. usf. ist nicht nur für den Einzelnen ein Fiasko, sondern kommt der Gesellschaft langfristig u.U. sehr teuer zu stehen.
„Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken“, so Adolf Hitler wörtlich. Ich möchte diesen Diktator mit meinen Worten als Abschluss dieses Kapitels verbessern: „Was für ein Unglück für die Welt, dass viele Menschen nichts fühlen.“
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[1] Hier geht es weniger um einmalige Verletzungen, sondern vor allem um eine Fülle von verletzenden Erfahrungen in den alltäglichen Beziehungen zur Umwelt. Ob schmerzliche Erfahrungen als vorübergehend und erträglich erlebt werden, hängt zusätzlich vom Reifegrad des Kindes und vor allem davon ab, ob dem Kind hinreichend angenehme Erfahrungen (besonders seitens der Eltern) als positives Kräftereservoir zur Verfügung stehen.
[2] Dazu ergänzend: „Empathie, normalerweise eine Facette der emotionalen Entwicklung des Kindes, wird in der emotional kargen Landschaft der vernachlässigenden Familie nicht vermittelt. Kinder entwickeln Empathie, indem sie dem Beispiel ihrer Eltern folgen. Sie werden Mitgefühl und Verständnis ausbilden, wenn ihre eigenen Bedürfnisse nach Mitgefühl und Verständnis befriedigt worden sind. Ohne Empathie können Kinder keinerlei dauerhafte Bindungen eingehen, und als Eltern tragen sie ein hohes Risiko, die eigenen Kinder zu vernachlässigen oder zu misshandeln.“ (Cantwell, 2002, S. 542) Oder eben u.a. auch kriegerisch zu handeln.
[3] „Wenn ich selbst ganz mächtig und böse bin, kannst du mir nicht schaden! Dann musst du vor mir Angst haben!“ Dies ist u.a. die Reaktion in der Fantasie des Kindes auf die Erfahrung lebensbedrohlicher Gewalt durch die Eltern. (vgl. Bassyouni, 1990, S. 44)
[4] Groß ist allgemein die Überraschung darüber, dass z.B. die NS-Täter oftmals ganz normale Menschen waren, manches mal sogar hoch gebildet wie z.B. die Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – eine Behörde, die den Judenmord maßgeblich organisierte. "Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent", resümiert der Täterforscher Gerhard Paul im SPIEGEL 11/2008 zur NS-Zeit. Nur wenn verstanden wird, dass Kindesmisshandlung in allen Schichten der Gesellschaft in erheblichem Umfang vorkommt, wird auch verstanden werden, warum auch TäterInnen aus allen Schichten stammen. Der SPIEGEL hat sich in seinem Titelthema über „Die Täter“ übrigens mit keinem Wort mit der Psychologie und destruktiver Erziehung befasst und das Feld mal wieder den HistorikerInnen überlassen.
[5] Destruktive Eltern stützen diesen Prozess i.d.R., in dem sie dem Kind direkt vermitteln, dass es selbst schuld sei, wenn es gedemütigt, misshandelt oder missbraucht wird oder das dies aus Liebe zu ihm geschehe. Schon in der Bibel steht: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.“ (Spr 3,12) Die Forderung nach bedingungslosem Gehorsam ist zusätzlich eng mit diesem Prozess verknüpft. Der Gehorsam gegenüber der (elterlichen) Autorität macht es fast unmöglich, die Wahrheit des ganzen Vorgangs (auch im späteren) Leben zu erkennen.
[6] Sehr anschaulich wird dieser Prozess auch von Bassyouni (1990) beschrieben; sie spricht u.a. von einem „Ur-Hass gegen einen gnadenlosen Feind“, der in Kindern durch Strafe, Unterwerfungs- und Gehorsamsforderung schon früh (in den ersten drei Lebensjahren) verankert wird. (vgl. Bassyouni, 1990, 35ff)[7] Die von Mantell (1978) untersuchten Kriegsfreiwilligen machen dies anschaulich. Die überwiegende Mehrheit idealisierte ihre Eltern, hielten sie sogar für „immer gerecht“. Im Krieg konnten sie dagegen ihre Hass- und Rachegefühle frei und „legal“ ausleben.
[7] Im „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ wird z.B. berichtet, dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, später mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch (Ex-)Partner erlitten wie Frauen ohne solche Erlebnisse. Frauen, die in Kindheit und Jugend selbst häufig oder gelegentlich Opfer von körperlicher Gewalt durch Erziehungspersonen wurden, waren dreimal so häufig wie andere Frauen später von Gewalt durch Partner betroffen. Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch Partner und viermal so häufig Opfer von sexueller Gewalt. (vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V., 2005, S. 659)
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Sonntag, 26. Oktober 2008
6. Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor
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