Mittwoch, 28. Januar 2009

Krieg der Kindergangs

Am Sonntag (25.01.2009) sah ich im Ersten den "Weltspiegel"-Bericht "Krieg der Kindergangs".
Es ging um den aufgegebenen Stadtteil Norris Green in Liverpool. Dort beherrschen Jugendgangs die Straße. „Sie handeln mit Crack und Heroin, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt, die meisten von ihnen bewaffnet. Jugendliche, die Krieg statt Fußball spielen, und die hier oben im Norden Liverpools jetzt die Macht übernommen haben.“, heißt es in dem Bericht.

„Was geht euch durch den Kopf wenn ihr mit den Waffen schießt?“, fragte ein Reporter.
„Glücklich. Das ist ein glückliches Gefühl. Ein normales Leben würde keiner mehr haben wollen, von uns keiner mehr. Viel zu langweilig. Wenn Du einmal in der Gang bist, willst du nicht mehr aufhören. Willst immer so weitermachen. So einfach ist das.“

Wer sich glücklich fühlt, wenn er auf andere schießt, zeigt deutlich, wie innerlich leer und tot er selbst bereits ist. Gefühlsregungen sind nur noch unter dem "Kick" von kriegsähnlichen Bedingungen möglich.

Eine solche Aussage erinnert mich auch wieder an einen Bericht, den ich bereits im Nachwort des Grundlagentextes erwähnt habe:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.

Lloyd deMause zitierte in seinem Buch den Gefängnispsychiater James Gilligan, der sein Leben damit verbracht hat, Kriminelle zu analysieren: „Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: "Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete." (vgl. deMause, 2005, S. 110ff)

Die Gefühle, die oben beschrieben werden, müssen dabei im Grund unecht und von ihrem eigentlichen Sinn her entleert und abgetrennt sein.

„sich glücklich fühlen“ = Ich schieße auf Menschen
“sich lebendig fühlen“ = Ich entführe und töte Menschen
„sich respektiert fühlen“ = Menschen mit Waffen bedrohen
Das ist schon ziemlich pervers...

Ich las einmal als Schüler - ich glaube in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ - von einem Hauptmann, der in etwa sagte: „Ich musste erst in den Krieg ziehen, um mein Leben zu lieben.“ Diese Stelle fällt mir hier wieder ein und sie beschreibt dasselbe Phänomen. Positive Gefühle werden mit Tod, Gewalt und Vernichtung vermischt. Dies erschreckt uns Menschen natürlich. Es wird aber verstehbar, wenn man sich bewusst macht, dass – so nehme ich stark an - einst auch die Eltern der Akteure positive Wörter und Gefühle mit Gewalt vermischten: „Ich schlage Dich und nenne dies Liebe“ usw. usf.
Ganz offensichtlich scheint es den Akteuren auch eine emotionale Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen, Gewalt anzuwenden. DeMause hat hier entsprechend den sehr gut passenden Begriff von "Giftcontainern" gewählt. Eigene unerträgliche innere Gefühle von Terror, Angst, Wut usw. all das Destruktive, was auf Grund früher kindlicher Gewalterfahrungen in den Menschen brodelt, wird in diese "Giftcontainer" gepackt; dies verschafft den Akteuren ein (kurzfristiges) "gutes Gefühl".

Ich denke, dass diese Gedanken u.a. sehr gut die beiden vorangegangenen Beiträgen zur "Irrationalität des Krieges" und zum "Gaza Krieg" ergänzen. Kriege müssen im Grundsatz immer auch emotional analysiert werden. Sonst wird sich dem jeweiligen Betrachter kein komplexes Bild der Wirklichkeit offenbaren.

Sehr deutlich wird der Zusammenhang der o.g. Gedanken zur kollektiven Gewalt auch durch folgendes: Als Deutschland Frankreich 1914 den Krieg erklärte, frohlockte eine deutsche Zeitung: "Es ist eine Freude zu leben, Deutschland jubelt vor Glück." (vgl. deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 133)
Nationen sind eben keine "technischen", "rationalen" Gebilde (so wie es die Sozialwissenschaft oft sieht), die für sich stehen. Sie bestehen aus Menschen, die alle eine Psyche und Emotionen haben. Wenn eine Mehrheit dieser Menschen, die eine Nation bilden, als Kind traumatische Erfahrungen machen musste, wird auch das "kollektive Glück" bei einem Kriegseintritt verständlich, so wie es auch für einzelne Mitglieder von Kindergangs und Kriminelle verständlich ist.

Freitag, 9. Januar 2009

Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche

Am 16.12. schrieb ich einen Text zur Irrationalität des Krieges. Wenig später begann Israel seinen Krieg in Gaza. Natürlich bin ich ein Mensch, der das ganze Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Dass diese militärische Operation der Israelis wenig Sinn macht, scheint allerdings eine leicht festzustellende Wahrheit zu sein, auch wenn man nicht über umfassendes strategisch-politisches Hintergrundwissen verfügt. Gerade auch wenn man sich in der Art mit dem Thema Krieg beschäftigt, wie ich dies hier tue, wird deutlich, warum Kriege so unverständlich und unsinnig erscheinen, warum uns die Reden, Sprüche und Entscheidungen der Regierungsführung Kopfschütteln lassen.

Oft sucht dann die Öffentlichkeit nach rationalen Erklärungen. Laut Israels Führung hat die Operation "Gegossenes Blei" zum Ziel, die Hamas entscheidend zu schwächen, wird berichtet. Sicherheit im Süden, das ist das eine „rationale“ Ziel. Darüber hinaus geht es darum, das Image eines starken Landes, das sich gegen jede Anfeindung mit Erfolg wehren kann, wiederherzustellen. (Auch die anstehenden Wahlen werden als Grund genannt. Dazu habe ich mich hier geäußert: "Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund?")
Im Ergebnis erreichen sie genau das Gegenteil: Die Extremisten werden mittel- bis langfristig Auftrieb bekommen und das Image von Israel in der Welt ist schwer angekratzt.
Ach ja, in der öffentlichen Debatte wird auch als eine „Logik“ dieser Militäraktion die Abstrafung der palästinensischen Bevölkerung genannt, mit dem Ziel, dass diese sich dann gegen die Hamas auflehnen soll. Nach dem Motto: “Seht her, mein Haus liegt in Trümmern meine Kinder sind verletzt oder tot und wenn Ihr Hamasleute keine Raketen auf Israel abgefeuert hättet, dann wäre dies nicht passiert, also jage ich Euch aus dem Land!“
Man fragt sich, wer ernsthaft eine solche Logik glaubt? Wenn ich wirklich eine Opposition gegen radikale Kräfte stützen will, dann unterstütze ich die zivilen Strukturen und die Bevölkerung. Dann helfe ich ihnen bei dem Aufbau einer lebenswerten Zukunft. Dann stelle ich mich selbst nicht als Feindbild zur Verfügung. Wie soll denn ein Palästinenser Kraft und Mut dazu sammeln, alternative Wege als die der Radikalen zu unterstützen, wenn sein ganzes Leben am Boden liegt und er kriegstraumatisiert in eine ungewisse Zukunft schaut?

Man fragt sich also, ob die Führung überhaupt an Frieden und Sicherheit interessiert ist? Oder ob sie den Konflikt auch für die nächste Generation am Laufen halten will, damit wieder aufeinander geschossen werden kann, damit wieder ein äußerer aktiver Feind bereit steht, damit weiterhin „Giftcontainer“ gefunden werden können?

Eine militärische Operation, die rein zur Verteidigung dient, nennt man wohl kaum „gegossenes Blei“ (übrigens laut Wikipedia - Stand 05.01.2009 - lehnt sich diese Bezeichnung an ein israelisches Kinderlied an, was ich schon mal sehr merkwürdig finde, gerade auch im Kontext dieses Blogs); man spricht nicht von einem „Kampf bis zum bitteren Ende“ (Verteidigungsminister Ehud Barak, vgl. ZEIT-Online, 31.12.2008, „Der Krieg nach dem Krieg“), wenn man „verhältnismäßig“ vorgehen möchte; da Militante wohl kaum damit aufhören werden, Israel regelmäßig mit Raketen zu beschießen, wird es wohl - wenn es nach der Außenministerin geht - kein Ende der Offensive geben; denn Zipi Livni hatte laut einem SPIEGEL-Online Artikel betont, Israel werde die Militäroffensive im Gaza-Streifen so lange weiterführen bis der Beschuss aufhöre (vgl. SPIEGEL-Online, 02.01.2009, Israel rüstet sich für "Tag des Zorns"); dass haufenweise Zivilisten in einem der am dichtesten bevölkertsten Landstriche der Welt getroffen werden, war sagen wir todsicher, die Botschaft des Staates Israel ließ dagegen am 28.12.2008 verlauten, dass es sich beim Großteil der Opfer der gegenwärtigen Militäroperation im Gaza-Streifen ohnehin um Terroristen der Hamas handele. Ein Hohn, wenn man sich im Rückblick vor Augen führt, dass schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! (vgl. Bericht "Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf")

An dieser Stelle möchte ich auf einen Text hinweisen, der erschreckende Ansichten und Verhaltensweisen von israelischen Soldaten während der 1. Intifada darstellt: „Wenn israelische Soldaten das Schweigen brechen“ von Dalia Karpe, 21.09.2007 (gekürzte Übersetzung einer akademischen Forschungsstudie von Nofer Ishai-Karen und dem Psychologieprofessor Joel Elzur der hebr. Universität, die im ALPAYIM-Magazin, Vol.31 veröffentlicht wurde). Vier kurze Auszüge:

Ilan Vilenda, ein israelischer Soldat: „Wir - israelische Soldaten - wurden dorthin gebracht, um Palästinenser zu bestrafen. (...) Unser Job war es, sie zu schlagen. Ich persönlich schlug zwei Jungen Ich benützte meine Hände oder den Gummiknüppel. Die erwachsenen Palästinenser schlugen wir stärker. Wir handelten wie Polizisten, aber wir handelten jenseits des Gesetzes.“

Soldat B.: “Es war meine erste Patrouille. Die andern schossen einfach wie verrückt. Ich begann, so wie sie zu schießen. Sie hetzten mich auf. Ich nahm meine Waffe und schoss. Keiner war da, der mir etwas anderes sagte.”

Soldat C: “Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe - ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.”

Soldat D: “Was großartig ist, ist dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.”

Hier zeigt sich exemplarisch insbesondere an Hand der Aussagen von C. und D., dass emotionale Gründe im Vordergrund stehen, wenn man sich mit den Akteuren in Ruhe unterhält. Vermutlich wird man in einigen Jahren ähnliche Aussagen von israelischen SoldatInnen bekommen, wenn man diese rückblickend zu ihrem Einsatz in Gaza befragt.
Man fragt sich was wohl die Führung bei ihrer Entscheidung zur aktuellen militärischen Aktion gefühlt hat? Meines Wissens nach werden Führungspolitiker von JournalistInnen selten oder nie nach ihren Gefühlen gefragt, was eine erhebliche Lücke darstellt. „Herr George W. Bush, was fühlten Sie, als sie den Befehl zum Angriff auf den Irak gaben?“ „Herr Ehud Olmert, was fühlten Sie, als Sie ihre Zustimmung zur Operation gegen die Hamas gaben?“ Nun sind Politiker Vollprofis und antworten vielleicht nicht so direkt, wie einfache Soldaten. Trotzdem wäre eine solche Fragestellung und die Reaktion interessant. Wenn dann z.B. als Antwort käme, „ich fühlte gar nichts“, dann wäre das auch eine sehr aussagekräftige Antwort.

Oft heißt es, bei einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Ich würde sagen, dass zuerst der rationale Verstand und das Mitgefühl stirbt und dann eine kollektiv psychotische Episode folgt.

Es gibt bei Kriegen eigentlich immer drei entscheidende Punkte, die das ganze schon vor der Offensive zur Niederlage machen.

1. Es werden insbesondere auch Kinder (die nächste Generation) traumatisiert.
2. Es sterben Zivilisten, was den Hass auf den Angreifer und den Extremismus nährt.
3. Eine Generation von jungen SoldatInnen wird durch die Kriegshandlungen traumatisiert und brutalisiert. Ihre Taten, Erlebnisse und Gefühle nehmen sie mit zurück in Ihre Heimat und in ihre Familien.

Hier noch einige kurze aussagekräftige Positionen zum Nachdenken:

Eyad al-Sarat (Leiter der einzigen Psychiatrie in Gaza) macht sich Sorgen - nicht nur wegen der aktuellen Situation, sondern auch wegen dem, was die gegenwärtigen Erfahrungen der Kinder im Gaza-Streifen in der Zukunft auslösen könnten. Denn die Kinder erlebten sehr bewusst mit, dass niemand ihre Sicherheit garantieren könne, nicht einmal die eigenen Väter. Das mache sie anfällig dafür, später radikaler Rhetorik anheimzufallen. "So schafft man neue Extremisten", sagt der Arzt. "Das ist Israels größter Fehler." (vgl. SPIEGEL-Online,
29.12.2008, „Jeder hat nur noch Angst“)

"Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt." Dr. Ralf Syring nach einem Besuch im zerstörten Gaza-Streifen.

Auf den Hinweis eines SPIEGEL Redakteurs, dass Israel die Raketenüberfälle von islamistischen Freischärlern ein für allemal beenden wolle antwortete der ehemalige UNO-Generalsekretär Butros Ghali: „Was das Militär jetzt tut, richtet hundertfachen Schaden an, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, natürlich auch für die Israelis.“ und an einer anderen Stelle sagte er: „Schon jetzt steht fest, dass der israelische Angriff auf Gaza eine Katastrophe ist. Diese Militäroperation verschafft den Fundamentalisten Auftrieb - nicht nur in Palästina, sondern auch in allen anderen arabischen Ländern. Ich wundere mich, dass Israel das nicht gemerkt hat.„ (SPIEGEL-Online, 03.01.2009, "Israel ignoriert die Tatsachen")

Die Rufe nach Frieden in der israelischen Bevölkerung sind laut aktuellen Berichten bisher sehr leise. Doch ausgerechnet 500 Bewohner des Städtchens Sderot haben eine Petition unterschrieben, in der die Armee aufgefordert wird, ihre Operationen im Gaza-Streifen einzustellen und den Waffenstillstand zu erneuern. Sderot ist nah am Gaza-Streifen gelegen und der Ort, der am häufigsten von den Raketen palästinensischer Militanter getroffen wird. Denn eine militärische Operation, so Arik Yalin (der die Bürgerbewegung ins Leben gerufen hat), werde nur den Hass auf beiden Seiten vertiefen. (SPEIEGL-Online, 30.12.2008, "Es wurde höchste Zeit, dass Israel zurückschlägt")

Diese o.g. Positionen sind für jeden nachvollziehbar und derart offensichtlich, dass man Israels Aktion – trotz des regelmäßigen Beschusses durch Raketen - als irrational bezeichnen muss! Das Unverständnis mit dem man als Mensch vor einem Krieg steht, ist wirklich berechtigt. Krieg ist in der Tiefe rational nicht zu erklären. Emotionale Gründe und Störungen scheinen hier zu dominieren und zwar sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis.

DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften und betont die weite Verbreitung von sexuellem Missbrauch in Palästina. (vgl. deMause, 2005, S. 40)
Laut UNICEF erleben in Palästina nur 5 % der Kinder keine Gewalt (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" im UNICEF Report), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. Die Gewalt geht dabei häufig von nahen Bezugspersonen der Kinder aus. (diese Info wurde am 16.10.09 nachgetragen, vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8)
Im Grundlagentext schrieb ich bereits unter Bezug auf eine Quelle aus dem Jahr 2003:
Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff) „Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)

Auch folgende Zahlen machen deutlich, wie sehr hier psychische Störungen auf beiden Seiten das Fundament des Konfliktes sind: Laut einer Untersuchung an der Universität Tel Aviv sind 70% der palästinensischen Jugendlichen und 30 % der Kinder israelischer Siedler wegen dem Nahost-Konflikt traumatisiert (645 jüdische Israelis und 552 arabisch-palästinensische Jugendliche wurden befragt). (vgl. National Zeitung und Baseler Nachrichten, 03.07.2002, „Die Gewalt im Nahen Osten zerfrisst die Seelen der Kinder“)
Gemäß einer Studie leiden beinahe die Hälfte der israelischen Eltern und ein Drittel der Kinder in Sderot an post-traumatischem Stress. (vgl. Artikel von Eli Ashkenazi und Auszüge aus einem Artikel von Amos Harel, Ha’aretz, 13.06.2006, „Kassam-Beschuss:
Kinder in Sderot leiden an post-traumatischem Stress“
)

Für die israelische Seite fand ich aussagekräftige Zahlen zum sexuellen Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2007 gab es in Israel über 41.000 Missbrauchsfälle (Hellfeld), die zur Anzeige gelangten - 1997 waren es noch 21.000. (vgl. Jüdische Zeitung, Oktober 2008, „Rose Pizems Nachlass. Die Zahl der Kindesmisshandlungen in Israel ist drastisch gestiegen“) Die israelische Bevölkerung umfasste 2007 insgesamt 6.426.679 Menschen. Dazu mal ein Vergleich: Im Jahr 2005 kamen in Deutschland 17.526 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige. Die deutsche Bevölkerung umfasste im selben Jahr 82.431.390 Menschen. Israel hat im Verhältnis zu Deutschland 7,8 % Einwohner und dabei 134 % mehr Missbrauchsfälle. Eine erschreckend hohe Zahl (auch wenn man die Zahlen aus dem Jahr 1997 zu Grunde legt und ins Verhältnis setzt)! Man bedenke an dieser Stelle auch, dass hinter jedem „Hellfeldfall“ ein vielfaches an Dunkelfeld steht. Es verwundert also kaum, dass nach einer Dunkelfeldstudie von Schein et al. (2000) 31% der befragten israelischen Frauen über eine Form von sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit berichten. Von den in der Studie befragten Männern gaben 16 % an, sexuell missbraucht worden zu sein.(Insgesamt wurden 1.242 Personen befragt) (vgl. Pagovich, O. 2004: Israel. In: Malley-Morrison, K. (Hrsg.): International Perspectives on Family Violence and Abuse. A Cognitive Ecological Approach. Routledge, S. 192)
Außerdem wird auf Grundlage von angezeigten Fällen geschätzt, dass von den ca. 2 Millionen israelischen Kindern 300.000 (also 15 %) gefährdet sind, Kindesmisshandlung zu erleben. (ebd.) Einer Studie von Sternberg & Krispin (1993) nach erlebten 30 % (33 von 110) der befragten israelischen Kinder körperliche Misshandlungen durch ihre Eltern innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung. (ebd.)

Es sind zusammengefasst also zwei wesentliche tiefere Ursachen des Konfliktes sehr wahrscheinlich: Das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und die hohe Traumatisierungsrate der Menschen durch das Kriegsgeschehen auf beiden Seiten. Somit kann der Konflikt aus meiner Sicht langfristig nur gelöst werden, wenn die Gewalt gegen Kinder erheblich reduziert wird und wenn traumatisierten Menschen systematisch und umfassend psychologische Hilfe zu Teil wird. Ein nachhaltiger Frieden ist immer ein innerer Prozess, kein äußerlicher, keiner durch Macht und Gewalt „gesicherter“.

"Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott.", sagt eine Aktivistin von "Machsom Watch". Bereits Kinder würden dazu erzogen, den Armeedienst hochzustilisieren. Der Armeedienst in Israel sei das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual und würde zu einer starken Militarisierung der jüdischen Gesellschaft führen. (in Israel verrichten Frauen 2 Jahre und Männer 3 Jahre den Militärdienst.) (vgl. Jüdische Zeitung, September 2008, „Wir sind in Israel die Ausgestoßenen.“; ergänzend Homepage von Machsom Watch)
Ich denke, dass die israelische Gesellschaft auch hier umdenken und mehr an einer zivilen Gesellschaft arbeiten sollte. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 5. im Grundlagentext erinnert.

Im Übrigen frage ich mich, ob man dem israelischen Volk nicht vermitteln kann, dass – wenn man es mal ganz kalt und rechnerisch betrachtete – seit 2000 bei den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Städte 22 Menschen starben (vgl. SPIEGEL-Online, 09.01.2009, „Israel trotzt der Uno - Gaza-Krieg geht weiter“), ca. 3 pro Jahr und dass man bei allem Verständnis für das seelische Leid der Bevölkerung nicht bereit ist, kriegerisch zu reagieren (im Zeitraum 27.12.2008 bis 09.01.2009 wurden übrigens nach palästinensischen Angaben 780 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet. vgl. ebd.)?
Ich komme erneut zu dem Schluss, dass die israelische Reaktion irrational begründet zu sein schein. Sie macht einfach keinen Sinn. Man muss hier also vielmehr nach den emotionalen (unbewussten) Motiven suchen.

Ich frage mich, was passieren würde, wenn beide Seiten keine klaren Feindbilder mehr hätte? Könnten Sie überhaupt ohne Feind existieren? Wie sagte noch Soldat C.: „Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“

Hinweis: Diesen Beitrag habe ich um einige wichtige Informationen ergänzt, denn ganz offensichtlich gab es auch alternative Wege, den Beschuss zu stoppen. Lesen kann man diese hier.