„Afghanistan braucht vor allem mehr Kinderschutz und nicht mehr deutsche Soldaten!“, schrieb ich im September 2009 in dem Beitrag „Lösungen für Afghanistan“
Damals wie heute ist es schwierig, genaue Zahlen zur Gewalt gegen Kinder in diesem Land zu finden. Klassisch sind z.B. Berichte wie dieser von Amnesty International aus dem Jahr 2003. Im Kapitel 5.1 „Gewalt gegen Frauen und Mädchen innerhalb der Familie“ wird auf Grund allgemeiner Berichte und Erfahrungen von der Alltäglichkeit der häuslichen Gewalt und auch öffentlichen Gewalt berichtet, konkrete Studien fehlen aber. Ein anderes Beispiel: Die Caritas ließ 3600 Frauen in Kabul zu ihrer Lebenssituation befragen. (Studie "Women in Kabul"). Erfahrungen von Gewalt in der Kindheit und zu häuslicher Gewalt durch Ehemänner wurden bei dieser Gelegenheit nicht abgefragt.
Um so erstaunter war ich, als ich kürzlich die Diplomarbeit (Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz) von JeanPaul Leo François Bette (2006) mit dem Titel „PTBS, häusliche Gewalt und Kinderarbeit – eine epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in Kabul, Afghanistan“ fand.
In den Einleitungen zum Thema schreibt Bette: „700.000 Witwen und 200.000 durch Bomben und Minen verkrüppelte Väter haben keine andere Überlebensmöglichkeit als ihre Kinder. Viele arbeiten in Fabriken, in Läden oder in der Teppichindustrie. In Kabul arbeiten schätzungsweise 60.000 Kinder unter meist sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Viele von ihnen werden nicht nur zur Arbeit gezwungen, sondern auch sexuell ausgebeutet.“
287 afghanische Schulkinder aus dem Dashti Barchi Distrikt in Kabul im Alter von 7 bis 14 Jahren wurden in Interviews befragt. Die Ergebnisse sind wie erwartet erschütternd:
31% der Kinder gaben an, dass ihre Mutter von ihrem Vater geschlagen würde und 4,3% der Kinder gaben an, dass auch die Mutter ihren Vater schlagen würde. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. 37,8% der Kinder wurden von ihren älteren Geschwistern geschlagen.
Fast ein Drittel aller Kinder berichtete von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien, oder beleidigt zu werden.
11,4% der Kinde, gaben an, aufgrund familiärer Gewalt verletzt worden zu sein. 8,6% so schlimm, dass sie daraufhin medizinisch versorgt werden mussten. Häufig berichtet wurden dabei „blaue Augen“, Verletzungen an Kopf und Gesicht, Platzwunden und gebrochene Gliedmaßen.
58,8% der Jungen und 40,2% der Mädchen berichteten zudem über mindestens ein kriegerisches Ereignis in ihrem Leben. 20% der Jungen und 13% der Mädchen berichteten über mehr als drei kriegerische Ereignisse in ihrem Leben.
„Insgesamt erfahren Jungen nicht nur signifikant mehr verschiedene Typen häuslicher Gewalt als Mädchen, sondern geben auch signifikant mehr verschiedene Typen kriegsbedingter Gewalterfahrungen an.“, schreibt Bette in der Nachbesprechung der Arbeit.
Bette stellt in dieser Arbeit richtigerweise einen Zusammenhang zwischen erlebter kriegerischer Gewalt und häuslicher Gewalt fest. Leider wird über den umgekehrten Zusammenhang nicht diskutiert, nämlich dass häusliche Gewalt bzw. Gewalterfahrungen in der Kindheit wiederum zu kriegerischer Gewalt führen können. Aber das nur nebenbei.
Diese Arbeit zeigt neben den anderen Infos zwei interessante Aspekte, die in der westlichen Öffentlichkeit kaum besprochen wurden. Erstens die hohe Gewaltrate von weiblicher bzw. mütterlicher Gewalt gegen Kinder von 59,9 %. Hier ist zu vermuten, dass die Frauen, die in der afghanischen Gesellschaft als „Giftcontainer“ für männliche Niederlagen, Ohnmachtserfahrungen und Verletzungen herhalten müssen, wiederum ihre Kinder als „Giftcontainer“ benutzen. Niemand sonst steht unter ihnen und über niemanden sonst verfügen sie über Macht. Der Kreis der Gewalt ist somit geschlossen. In der islamischen Welt ist die Erziehung der Kinder hauptsächlich Frauensache. Wenn fast 60 % der afghanischen Kinder von ihren Müttern geschlagen werden, dann sagt das auch etwas über die sonstigen Umgangsformen mit Säuglingen, Kleinkindern und Kindern aus. Und wenn dann noch 41,6% von ihren Väter - soweit sie anwesend sind - Schläge bekommen, dann lässt sich erahnen, warum die afghanische Gesellschaft auch im Politischen so im Chaos und in Gewalt versinkt.
Zweitens sind auch Jungen vielfachen Gewalterfahrungen ausgesetzt. Trotzdem gilt im Westen hauptsächlich das Argument „Mädchenschulen“, „häusliche Gewalt gegen Mädchen“, „Mädchenunterdrückung“ usw. Diese Jungen werden irgendwann erwachsene Männer sein. Neben den Mädchen muss auch den Jungen gezielt geholfen werden, aus humanitären Gründen, aber auch, damit sie die Gewalt später nicht weitergeben und für eine demokratische Gesellschaft arbeiten. Werden ihre Ohnmachtserfahrungen ausgeblendet, wird ihnen nicht geholfen wird es auch langfristig keinen Frieden in Afghanistan geben.
Freitag, 6. August 2010
Afghanistan: Gewalt gegen Kinder und der (un)mögliche Frieden
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