Noch vor ca. 65 Jahren war Deutschland eine Nation, die dem Wahn verfallen war, überall von "Feinden" umringt zu sein, die getötet werden müssen. Was damals passierte ist bekannt. Auch die Zeit davor stand unter dem Banner von Wahn, Kriegslust und Tötungsfantasien.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland auch noch 89 % aller Kinder geschlagen, über die Hälfte mit Ruten, Peitschen oder Stöcken. (vgl. deMause, 2005, S. 146ff) DeMause meint: „(...) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005, S. 140)
Aktuelle Zahlen zeigen zwar immer noch ein erschreckend hohes Ausmass an Gewalt und Vernachlässigung, doch der Vergleich zur deutschen Kindheit um 1900 macht den enormen Fortschritt der Kindererziehungspraxis hierzulande deutlich. Viele Eltern scheinen außerdem immer mehr Abstand von körperlicher Gewalt zu nehmen und diese ggf. durch psychische Gewalt zu ersetzen. (vgl. dazu z.B. Bundesministerium der Justiz (Prof. Dr. Bussmann), 2005, S. 18 http://www.bmj.bund.de/files/-/1375/Bussmann%20Report.pdf) Entsprechend stabil ist mittlerweile die Demokratie in Deutschland.
Doch wie schon gesagt erleben noch immer viel zu viele Kinder Gewalt und Erniedrigungen. Dies muss seinen Ausdruck auf der gesellschaftlichen Bühne finden. Da keine Mehrheit mehr (schwere) Misshandlungen erlebt, wird ein so gewaltiger Gruppenwahn wie in den 40er Jahren nicht mehr möglich sein. Die Angst vor Feinden, Wahn und die Gewalt gegen Andere wird sich somit andere, verdecktere Ausdrucksformen suchen.
Ein Beispiel dafür ist in meinen Augen aktuell die panische Angst vor der „Schweinegrippe“. Der Monitor Bericht vom 19.11.2009 „Horrorszenarien. Die Schweinegrippe und die Medien“ (http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2009/1119/grippe.php5) machte deutlich, wie wenig begründet diese Panik ist:
- 27 Tote wurden in Deutschland bisher gemeldet
- In der Ukraine wurde das H1N1-Virus bisher bei 17 Toten nachgewiesen, statt wie in den Medien berichtetet bei 70.
- In Mexico gab es - bei einer Gesamtbevölkerung von 110 Millionen - 63 Tote, bei denen das Virus nachgewiesen wurde.
- In Australien starben 189 Menschen nachgewiesener maßen an der „Schweinegrippe“. Interessant ist hier, dass normalerweise in Australien 2.000 bis 3.000 Todesfälle wegen der saisonalen Grippe zu verzeichenn sind. Die Schweinegrippe hat das saisonale Grippe-Virus dort fast vollständig verdrängt, mit dem Ergebnis, dass jetzt weit weniger Menschen sterben. Insofern wird auch in den kommenden Jahren mit deutlich weniger Toten gerechnet, als in den 22 Jahren davor.
Als Fazit des Berichtes lässt sich feststellen: Wir haben weltweit eine hohe Anzahl von Fällen. Und wir haben eine relativ niedrige Anzahl von Todesfällen. Trotzdem sind die Medien seit Monaten voll von Horror-Berichten und das fern ab jeder Realität und Verhältnismäßigkeit. Durch den Tod bedroht sein von etwas, das von außen kommt, vor dem wir panische Angst haben und dem wir entgegnen müssen, ohne dass diese massive Angst irgendwie rational begründet ist, das alles deutet auf unbewusste Gruppenfantasien hin, die mit destruktiven Kindheitserfahrungen zusammenhängen können. Angst vor Vernichtung durch einen „Feind“ (in diesem Fall so etwas wie die „Schweinegrippe“) deckelt eigene innere existentielle Ängste und Erinnerungen an eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit. Irgendwie muss die Angst ihren Ausdruck finden, damit man nicht verrückt wird. „Ahhh die Schweinegrippe wird uns alle umbringen, wussten wir doch, dass wir jederzeit real bedroht sind. „ So etwas entlastet ungemein und lenkt ab, wenn alte Panik und Todesangst aus der Kindheit ins Bewusstsein zu rücken droht. Die deutsche Regierung erfüllte dabei vorbildhaft ihre Rolle als „emotionaler Repräsentant“, in dem sie nicht gegen die Panik wirkte und für Realitätssinn warb, sondern sich gleich kollektiv impfen ließ.
Die Schweinegrippe-Panik ist dabei natürlich ein Ausdruck von Fortschritt, denn niemand wird durch diese Panik real getötet.
Ein ganz anderes Beispiel:
Deutschland ist der dritt größte Waffenexporteur in der Welt. Deutsche Kaufleute exportieren 2007 Waffen im Wert von fast neun Milliarden Euro. So manche Lieferung landet am Ende in Krisengebieten. (http://www.zeit.de/2009/15/Ruestung-Deutschland) Wir exportieren so zu sagen den Tod. Das ist eine traurige und nicht hinnehmbare Situation, natürlich.
Und: Die deutsche Wirtschaft mischt kräftig mit in der Welt und das manches mal mit großer destruktiver Wirkung. Die Deutsche Bank bot beispielsweise Finanzierungsleistungen für autoritäre Staaten, Unternehmen, die wiederholt in Umweltskandale und Menschenrechtsverletzungen verstrickt sind, Korruption fördern oder mit Militärdiktaturen kooperieren. Ebenso stützte sie Rüstungs- und Atomkonzerne. (vgl. dazu z.B. http://www.urgewald.de und http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=5643)
Deutsche Bank und Daimler-Chrysler waren auch die wichtigsten Partner von Saparmurad Nijasow, dem Diktator Turkmenistan bis zu seinem Tod 2006. (http://www.handelsblatt.com/politik/international/der-bizarrste-diktator-der-welt-ist-tot;1190834 und http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=1572)
Solche Beispiele ließen sich fortführen. Diese Dinge sind weiterhin nur möglich, da immer noch ein großer Teil der Menschen in Deutschland als Kind Gewalt und/oder Vernachlässigung erfährt und somit u.a. die Empathiefähigkeit verloren geht. Aber: Sie sind eben auch Ausdruck von Fortschritt! (Wir erinnern uns nochmal, was vor 65 Jahren war…) Die Kindererziehung hierzulande ist weitgenug entwickelt, so dass wir als Nation nicht mehr fähig sind, mit eigenen Händen und vor unserer Haustür einander umzubringen. Dazu sind wir als Nation mittlerweile zu emphatisch und weniger „Wahnanfällig“ geworden. Panik vor Krankheiten, indirekter Tod durch Waffenexport, Auslandseinsätze von Berufssoldaten irgendwo weit weg in der Welt usw. das sind Dinge, vor denen wir irgendwie noch den Blick fernhalten können, die uns nicht unbedingt berühren. Wenn die Menschen allerdings über diese Dinge aufgeklärt werden, sind sie eben auch kurzzeitig emphatisch mit den Opfern, leider noch nicht langfristig. Irgendwann wird die Zeit kommen, soweit die Fortschritte in der Kindererziehungspraxis so weiter gehen, wo Deutschland seine Waffenexporte einstellt und die Wirtschaft weit verantwortlicher handelt, als bisher. Da bin ich sicher.
Mittwoch, 2. Dezember 2009
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1 Kommentar:
Ich finde das ist eine gute Analyse und ich benutze eine ähnliche Sichtweise.
Schweinegrippe: "Hilfe , Kind du wirst noch krank, zieh dich ja warm an. Spiel nicht im Dreck." Also die Projektion übertriebener Ängste der Eltern und ErzieherInnen auf die Kinder die sich dann in Gruppenfantasie überzogener Bedrohung äusserst.
Auch den Fortschritt in der Kinderbehandlung ist definitiv zu erkennen wobei ich denke dass dem 2 Dinge entgegenwirken.
Einmal die gewalttätigen Medien, Stichwort: lernen am Modell.
Zweitens die Tatsache dass ich mir denke dass die psychohistorische Sichtweise auch von Werbe- und Politikpsychologen angewendet werden kann. Also ohne sie für das Selbst der Anwender zu nutzen könnte das Wissen über die Dynamik angewendet werden um die Gesellschaft zu beeinflussen.
Bei Letzterem bin mir aber nicht so sicher, dachte das nur als ich "das emotionale Leben der Nationen" las.
Bei Demause sehe ich manchmal noch zuviele Fantasien der Psychoanalyse die mich zweifeln lassen, während Alice Miller und Arno Gruen die Zusammenhänge für mich einfacher und logischer beschreiben.
Aber sehr schön das hier jemand darüber schreibt, ich denke dieser jüngsten aller Sozialwissenschaften wird viel zu wenig Platz und Respekt eingeräumt. Bei mir im Psychologiestudium musste ich da 3 Sätze drüber lernen die ich noch nicht einmal passend fand und die sich noch auf Freud als Urvater dieses Fachgebietes beziehen.
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