Im SPIEGEL vom 03.05.2010 („Mein Vater, ja, diesbezüglich“) ist ein interessantes Interview mit dem Sohn – Martin Miller - von der kürzlich verstorbenen Kindheitsforscherin Alice Miller zu lesen. Darin schildert er die schwierige Situation, Kind von einer so berühmten Analytikerin zu sein, die zudem über ihre eigenen Kriegstraumatisierungen nicht bis kaum sprechen konnte und emotional schwer für ihre Kinder zu erreichen war. Millers Sohn hat nach eigenen Angaben unzählige Versuche unternommen, mit seiner Mutter über ihre Erlebnisse zu sprechen, vergeblich. Er spürte emotional, dass ihr im Krieg etwas zugestoßen war, Fakten erfuhr er nicht. Martin Miller wörtlich: „Mir haben Leute immer gesagt: Eine Mutter, die so einfühlsam schreibt - da musst du eigentlich die beste Mutter gehabt haben. Eine absurde Situation. Die Leute hatten ein Bild von dieser Frau, das mit meinem nicht übereinstimmte. Es war sehr schwierig.“ und „Es ist meine persönliche Tragödie, dass ich es als Kind von Eltern der Kriegsgeneration nicht geschafft habe, eine emotionale Beziehung zu meinen Eltern aufzubauen.“ Erst kurz vor Alice Millers Tod konnte der Sohn sich ihr in einem Gespräch emotional annähern. Seine Mutter hat sich in diesem Gespräch auch bei ihm entschuldigt. Martin schildert auch, wie er Opfer seines Vaters wurde, in Form von körperlicher und psychischer Gewalt. Alice Miller war Zeugin dieser Übergriffe und intervenierte dabei auch, war aber wohl auch hilflos. Später trennte sie sich von ihrem Mann und ihr Sohn Martin ging in ein Internat.
Die SPIEGEL Journalisten äußern im Interview, dass sie auf diese Schilderungen nicht vorbereitet waren. Sie hatten offensichtlich ein anderes Bild von der Familie Miller erwartet. Ich muss gestehen, dass mich Martins Schilderungen nicht wirklich wundern. Ich habe einige Fotos von Alice Miller gesehen und mir einige ihrer selbst gemalten Bilder auf ihrer Homepage angesehen. Außerdem kenne ich einige ihrer Bücher. Sie selbst berichtete nach meiner Erinnerung auch von eigenen Psychotherapien. Insofern hat sie nicht wirklich ihr persönliches Leid verborgen. Ich fand auch schon immer, dass sie nicht glücklich wirkte. Zudem ist es nur logisch, dass gerade Menschen mit schweren eigenen traumatischen Hintergründen über das Thema schreiben. Die meisten bekannten Fachmenschen, die über Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung schreiben und veröffentlichen, sind höchst wahrscheinlich auf die ein oder andere Weise selbst betroffen. Ich vermute stark, dass Alice Miller auch als Kind Gewalt in ihrer Familie erlebt hat. Martin Miller sagt dazu nichts im Interview, insofern bleibt das ganze natürlich Spekulation. Ihre Bücher und ihre Thesen verlieren durch diese Informationen eh nicht an Bedeutung, ihr Wahrheitsgehalt bleibt bestehen.
Die anderen beiden Leitfiguren in diesem Forschungsbereich - Lloyd deMause und Arno Gruen - haben auch Gewalt als Kind erlebt. Lloyd deMause erwähnte in einem seiner Bücher, dass er selbst geschlagen worden ist. Er selbst ordnet sich in die „sozialisierte Psychoklasse“ ein, seine eigenen Kinder dagegen sieht er im helfenden Modus. Arno Gruens Biografie habe ich vor einiger Zeit kurz durchgeblättert. Ich erinnere Schilderungen über erhebliche Gewalterfahrungen und vor allem auch eine emotional sehr distanzierte Mutter, die Gruen selbst nach seinen ersten Erfolgen nicht wirklich Anerkennung für seine Leistung geben konnte. (Trotzdem entging Gruen ganz offensichtlicher der „Identifikation mit dem Aggressor“)
Der Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud berichtete, er sei von seiner Amme als zweijähriger „sexuell verführt“ wurde. (vgl. deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage)
, S. 79ff), also sexuell missbraucht worden. In einem Brief Freuds an seinen damaligen Vertrauten Wilhelm Fließ heißt es: „Leider ist mein Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders und einiger jüngerer Schwestern verschuldet.“ Ein weiteres Freud-Zitat: „Dann die Überraschung, dass in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgenommen.“ (vgl. Focus, Nr. 39, 1993: "Unzucht und frühes Leid") "Pervers" war damals ein Ausdruck für sexuelle Übergriffe seitens männlicher Person. Über diese Passagen wird viel diskutiert. Ich finde, sie sprechen eine deutliche Sprache, Freuds Vater war ein Missbrauchstäter. Carl Gustav Jung - Begründer der Analytischen Psychologie – berichtete einst gegenüber Freud, dass er „als Knabe einem homosexuellen Attentat eines von mir früher verehrten Menschen unterlegen“ war, sprich sexuell missbraucht wurde. (siehe o.g. Focus Artikel)
Ich habe irgendwie im Hinterkopf den Satz für mich gebildet: Ohne Gewalt gegen Kinder und Kindesvernachlässigung gäbe es kaum noch Psychotherapie, weil es erstens kaum PatientInnen gäbe, aber auch zweitens kaum TherapeutInnen. Wer sich mit diesem Thema befasst oder auch Psychotherapeut wird, der hat dafür seine Gründe. (Auch Martin Miller ist beruflich Psychotherapeut) Das selbe gilt sicher auch für MitarbeiterInnen von entsprechenden Beratungsstellen. Eine gewisse Betroffenheit kann dabei ein guter Motor sein, eine zu große Betroffenheit birgt Risiken, wie ich finde.
Warum betreibe ich diesen Blog und warum schreibe ich so viel zu dem Thema? Die Frage stellt sich nach diesem Text natürlich automatisch. Ja, eine gewisse eigene Betroffenheit ist auch meine Grundlage. Wobei ich irgendwie auch ein Spezialfall bin. Ich habe nie elterliche körperliche Gewalt (auch keine leichten Züchtigungen oder Ohrfeigen) erlebt und ich habe nie sexuelle Gewalt erlebt. Zudem hatte ich als Kind sehr viele Freiheiten, die mir meine Eltern einräumten. Ich kannte auch keine Bestrafungen. Strafen gab es bei uns nicht. Meine Betroffenheit ist eher in der Form, dass es sehr viele stark destruktive emotionale Spannungen zwischen meinen Eltern gab und ich mittelbar Opfer davon wurde. Und ich meine letztlich, dass ich viel von dem aufarbeite, was eigentlich Sache meiner Eltern und auch Großeltern gewesen wäre. Mir ist sehr bewusst, warum ich so tief in dem Thema grabe. Ich könnte da viel zu schreiben, was mir aber zu persönlich ist, gerade fürs Internet. Für mich war die Beschäftigung mit dem Thema wichtig, natürlich auch für mich selbst. Niemand beschäftigt sich mit diesem Thema intensiv, wenn es nicht auch um die eigene Person geht.
Doch wenn es jetzt nur noch das wäre, würde ich heute damit aufhören, darüber zu schreiben. Ich tue dies weiter aus einem starken inneren Gefühl heraus, dass diese Art der Bearbeitung von gesellschaftlichen Problemen bzw. die Benennung von den tieferen Ursachen enorm wichtig für die Zukunft unseres Planeten ist. Ich tue dies, weil ich mir dadurch erhoffe, einen Teil dazu beitragen zu können, dass diese Welt besser wird. Das hört sich vielleicht geschwollen an, ist aber die Wahrheit.
(Nebenbei bemerkt habe ich beruflich nichts mit dem Thema zu tun, sondern betreibe diesen Blog als eine Art "Hobby")
Donnerstag, 17. Juni 2010
Alice Millers Sohn Martin über eine emotional schwierige Mutter und nachträgliche Gedanken
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