Und ein Plädoyer für ein Kinderschutzprogramm zur emotionalen Entwaffnung.
Im aktuellen „amnesty journal“ wurde ich auf eine Statistik bzgl. der 30 gefährlichsten Länder der Welt aufmerksam. Diese Statistik ist noch etwas umfassender in der Originalquelle online zu sehen. Das gefährlichste Land der Welt ist momentan El Salvador, in dem über 60 Menschen auf 100.000 Einwohner pro Jahr durch Gewaltanwendung umkommen. (Beispiel: In Hamburg mit seinen ca. 1,8 Mio Einwohnern würde dies bedeuten, dass pro Jahr weit über 1080 Menschen ermordet würden. Laut Hamburger PKS sind 2011 real 39 Menschen getötet worden.) Insofern interessierte ich mich für die Situation der Kinder vor Ort. Nach ca. 5 Minuten Internetrecherche fand ich auch gleich eine Studie zum Gewaltaufkommen gegenüber Kindern in diesem Land und in Guatemala, das in der Rangliste auf dem 7. Platz der gefährlichsten Länder steht:
Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica. 2008;23(4):247–56.; http://www.scielosp.org/pdf/rpsp/v23n4/v23n4a04.pdf
In Guatemala (Befragung 2002) und El Salvador (Befragung 2002-2003) wurden 15 – 49 Jahre alte Frauen (Guatemala: 8.860; El Salvador: 9.430) und 15 – 59 Jahre alte Männer (Guatemala: 2.459; El Salvador: 1.255) repräsentativ und per Interview bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit befragt. Dabei ging es nur um Gewalt und Bestrafungen, die durch Elternteile ausgeübt wurden, entsprechend fallen andere Gewaltkontexte z.B. in der Schule, in Heimen oder Gewalt durch andere Verwandte raus.
Ausgewählte Ergebnisse:
Keinerlei Art von Bestrafungen erlebten in
Guatemala: 20,7 % der Frauen und 7 % der Männer
El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer
Verbal bestraft/gescholten wurden in
Guatemala: 63,4 % der Frauen und 78,3 % der Männer
El Salvador: 18,2 % der Frauen und 9,4 % der Männer
Verbrennungen erlebten in
Guatemala: 1 % der Frauen und 1 % der Männer
El Salvador: 0,8 % der Frauen und 0,2 % der Männer
Vorweg Hinweis zur körperlichen Gewalt:
Im Englischen und auch in dieser Studie wir zwischen „spanking“ und „beating“ unterschieden. „Spanking“ entspricht im Deutschen „Züchtigungen“. Also Klapsen, leichten Ohrfeigen, etc. mit einem „erzieherischen“ Ziel, um unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. „Beating“ meint schwerere Gewaltformen, die bei uns der Misshandlung entsprechen. Also Gewalt, die (neben den seelischen) auch körperliche Verletzungen des Kindes zur Folge hat bzw. wo diese möglichen Folgen in Kauf genommen werden. In El Salvador war „beating“ definiert als Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel, was eine besonders schwere Form der Gewalt darstellt. Für Guatemala war „beating“ einfach als „beating“ definiert.
Was besonders verwundert ist, dass in Guatemala „spanking“ erfragt wurde, in El Salvador aber nicht. Sehr unlogisch, wie ich finde, denn man wollte doch eigentlich diverse Gewaltformen erforschen. Die Autoren der Studie weisen explizit darauf hin, dass in El Salvador weniger der Befragten angegeben hätten, dass sie niemals bestraft wurden, wenn auch die Züchtigungen und zusätzlich der Punkt „Aus dem Haus geworfen“ mit einbezogen worden wäre. Insofern macht es Sinn, sich beim Ländervergleich auf das „beating“ (Misshandlungen) zu konzentrieren.
Misshandlungen/Schläge („beating“) erlebten in
Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer
Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in
El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer
Körperliche Züchtigungen („spanking“) erlebten in
Guatemala: 21 % der Frauen und 19,6 % der Männer
El Salvador: keine Daten vorhanden
Anmerkungen zu der Kategorie Misshandlungen („beating“):
Ein Großteil der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 15 und 24 Jahre alt. (Guatemala: 43,3 % der befragten Frauen und 40,3 % der Männer; El Salvador: 40,9 % der befragten Frauen und 36,5 % der Männer) Diese Alterskohorte hat allerdings auch am wenigsten Gewalt erlebt: Guatemala: 30,1 % der befragten Frauen und 41,95 % der Männer; El Salvador: 35,1 % der befragten Frauen und 55,9 % der Männer. Die älteren Jahrgänge (also die Personen, die derzeit in den beiden Ländern politische, ökonomische und soziale Macht besitzen!) haben tendenziell mehr Gewalt erlebt (was auch Studien aus anderen Ländern regelmäßig nachweisen.). Dies muss man in die Analyse bzgl. der dortigen Gesellschaften mit einbeziehen.
Die Studie zeigt auch, dass es einen besonders großen Rückgang der Gewalt in der jüngsten Altersgruppe der 15 bis 19jährigen gibt. Misshandlungen erlebten in dieser Gruppe in Guatemala: 31,1 % der befragten Frauen und 38,7 % der Männer; El Salvador: 32,2 % der befragten Frauen und 47,7 % der Männer. Vergleicht man diese Zahlen mit den o.g. Durschnittwerten oder schaut direkt in der Studie auf die Tabelle 3 dann wird deutlich, dass es mit dieser neuen Generation einen deutlichen Trend bzgl. der Abnahme von Gewalt gibt. Trotzdem sind die Zahlen bzgl. schwerer Gewalt im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Die jüngere Generation ist allerdings ein großer Hoffnungsträger für diese Region. Je weniger Gewalt sie erlebt, desto höher sind die Chancen, dass sich die beiden Länder weiterentwickeln und auch die politische Gewalt und die Kriminalität zukünftig rückläufig sein könnte.
In Guatemala wurde zudem eine gesonderte Befragung mit einer etwas kleineren Gruppe, die selbst Kinder unter 18 Jahren haben, durchgeführt. Von den Frauen berichteten 38,9 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 26,1 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Von den Männern berichteten 51,1 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 20,3 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Es besteht also wirklich Grund zu Hoffnung für diese Region, nicht kurzfristig, aber langfristig.
Fazit:
In Mord und politischer Gewalt sind weltweit, auch in Südamerika, stets die Männer führend. Schwere körperliche Elterngewalt erleben in Guatemala (fast jeder zweite) und El Salvador (fast 2/3) Männer signifikant häufiger als die Frauen, aber auch die Frauen erleben schwere körperliche Elterngewalt im internationalen Vergleich relativ häufig. Man kann von Gesellschaften, in denen ein so hoher Prozentsatz misshandelt wird, nicht erwarten, dass sie auch auf der politischen Bühne oder im Alltag besonders friedlich, tolerant und respektvoll agieren. Man kann aber erwarten, dass die internationale Gemeinschaft diese Zusammenhänge erkennt und in solchen Regionen (in Abstimmung mit den dortigen Regierungen und Menschen) gezielt und großflächig Kinderschutzprogramme durchführt. Dadurch würde man innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes die gefährlichsten Länder der Welt zügig emotional entwaffnen.
Samstag, 14. April 2012
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