Der
apl. Professor für Psychiatrie Dr.med. Johann Benos hat 2011 ein auf den ersten
Blick vielversprechendes Buch unter dem Titel: „20 europäische Diktatoren.
Psychologische Hintergrunds- und Persönlichkeitsstudien“ veröffentlicht. (im AT
Edition Verlag, Berlin erschienen) Die untersuchten Diktatoren sind: Antonescu,
Atatürk, Dollfuß, Franco, Hitler, Horthy, Kun, Metaxas, Mussolini, Päts, Pavelić,
Pilsudski, Primo de Rivera, Salazar de Oliveira, Smetona, Stalin, Szálasi,
Tiso, Ulmanis und Zogu.
Der Autor hat in seinem Buch Diktatoren untersucht,
die alle zur ungefähr gleichen Zeit – erste Hälfte des 20.Jahrunderts - ihr
Unwesen in Europa trieben. „Auffallend war beim Lesen der Biographien der
Diktatoren die Feststellung, dass sie große Ähnlichkeit aufwiesen, was mich
dazu veranlasste, diese Untersuchung durchzuführen.“ (S. 10) Entsprechend war
der Autor bemüht, die Gemeinsamkeiten der Akteure herauszustellen. Jeder
Diktator wurde mit der gleichen Schablone untersucht: Herkunft;
Kurzbiographie; Verhältnis zu Eltern, Verwandten, Frauen; Psychische
Störungen; Psychische Vorbelastungen in der Familie; Ideologie, Brutalität usw. In der zweiten Hälfte des Buches wurden
die Ergebnisse miteinander verglichen. Kurzum: Auf den ersten Blick ist dieses
Buch so angelegt, wie ich es mir nur wünschen könnte.
Das für mich wichtigste Vergleichsergebnis: „Alle
Diktatoren des untersuchten Zeitraumes hatten, sofern es aussagekräftige
Biographien hierzu gab, zu ihrem Vater ein schlechtes oder „gleichgültiges“
Verhältnis. (…) für die Diktatoren existierte der Vater nicht oder sie lehnten ihn ab, weshalb
er auch niemals ein Vorbild für sie sein konnte. (…) Die Diktatoren waren in
der absurden Situation, ihren Vater zu leugnen. Es scheint, dass das Verhältnis
zum Vater bzw. seine Ablehnung der wichtigste Parameter im Leben der Diktatoren
war. “ (S.225+226) Ein für mich ein nicht wenig überraschendes Ergebnis, aber
wie schön, dass dies einmal derart systematisch festgestellt wird.
(Auch andere Vergleichsergebnisse sind interessant,
z.B. dass alle Diktatoren aus dem geographischen und politischen Abseits des
jeweiligen Landes, das sie später regierten, stammten und keiner in einer
Großstadt geboren wurde oder dort als Kind/Jugendlicher gelebt hatte. Ich gehe
in diesem Beitrag allerdings nur auf die psychohistorisch relevanten Ergebnisse
ein bzw. auf das, was in dieser Studie fehlte. )
An dieser Stelle endet meine positive Kritik über
das Buch. Benos ergänzt nämlich bzgl. der Väter, dass nicht die Brutalität oder
Dominanz (dominante Väter sind laut seinen Recherchen in der Minderheit) der
Väter der gemeinsame Nenne wäre, sondern die Ablehnung des Vaters. Bzgl.
Francisco Franco, Hitler, Stalin und Mussolini habe ich hier im Blog ja
bekanntlich Daten aus der Kindheit gesammelt. Benos lag offensichtlich keine Quelle vor, die die
körperliche Gewalt des Vaters gegen Francisco Franco belegte, er beschreibt den
Vater rein als „streng, autoritär und emotionslos“. Die körperliche Gewalt, die
Hitlers Vater ausübte, ist ja weitgehend bekannt und insofern auch von Benos
erwähnt worden. Die väterliche Gewalt gegen Mussolini weist Benos auch nach.
Bzgl. Stalins Vater schreibt Benos: „Er entlud seinen Frust in tätlichen
Aggressionen gegen Frau und Kind.“ (S.165) Das finde ich doch sehr knapp,
gerade auch vor dem Hintergrund, dass Benos laut Literaturverzeichnis Neumayrs
“Diktatoren im Spiegel der Medizin“ gelesen hat, .in dem es heißt, dass Stalins
Vater es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn
durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben.
Tägliche Misshandlungen sollten doch eine gesonderte Erwähnung wert sein, weil
dies eine ganz andere Dimension ist, als allgemein von „tätlichen Aggressionen“
zu schreiben.
Ergänzend möchte ich behaupten, dass viele der von Benos untersuchten
Diktatoren nicht derart von einem auch über die nationalen Grenzen hinaus
reichenden Interesse für Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler
waren und sind. Ganz im Gegenteil werden einige sogar noch immer von der
eigenen Nation verehrt, wie z.B. Atatürk. Ich denke, dass die Datenlage bzgl.
möglicher direkter innerfamiliärer Gewaltanwendung – neben der von ihm
nachgewiesenen väterlichen Ablehnung -
entsprechend dürftig ist.
Großes Kopfschüttel löste bei mir aber viel mehr
noch das Vergleichsergebnis bzgl. der Mütter aus. Benos schreibt
zusammenfassend nach seiner Besprechung der Väter: „Das Verhältnis zur Mutter
jedoch war bei allen immer sehr gut.“ (S. 226) Dabei muss man folgende Wörter
nochmal wiederholen: „immer“ und „sehr gut“! Benos lässt in seinem Buch keinen
Zweifel aufkommen: Die Mütter der Diktatoren liebten ihre Kinder innig! Seine Schilderungen
über Stalins Mutter gleicht denen über die Mütter der anderen Diktatoren: Die
Mutter Stalins „(…) war eine einfache ungebildete, aber sehr fromme und
liebevolle Frau.“ Sie war „(…) sehr um ihren Sohn besorgt und liebte ihn sehr.“
(S. 165) Er ergänzt, dass sie für ihren Sohn einen Weg als Priester vorgesehen
hatte und Stalin ihr diesen Wunsch zunächst auch erfüllte.
Man lese nun meine Rechercheergebnisse bzgl. Stalins
Mutter hier. Auch sie misshandelte nachweisbar ihren Sohn (was ich in gleich
drei Quellen fand!), schützte ihn nicht vor den Schlägen des Vaters und zwang
ihn in eine Ausbildung als Priester, während
der er weitere schwere Demütigungen und Verletzungen erlitt. Stalin nahm später
nicht einmal an ihrer Beerdigung teil.
Dass Francisco Franco von seiner Mutter als Trostpflaster missbraucht wurde und
dies auf Kosten seiner emotionalen Entwicklung ging, habe ich ebenso im
Grundlagentext beschrieben. Bei Benos ließt sich das so: „Sie liebte ihren Sohn
abgöttisch und bemutterte ihn am meisten von allen Kindern, weil sie glaubte,
er leide ganz besonders unter der familiären Situation. Sie spornte ihn auch
an, etwas Besseres zu werden als sein Vater. Francisco Franco liebte seine Mutter und
besuchte sie, so oft er konnte.“ (S. 35) Dabei stecken bereits in den
Schilderungen von Benos deutlich Anzeichen für ein „Zuviel“ an Mutter, für eine
„Muttersöhnchenbindung“, die letztlich nichts anderes ist, als emotionaler
Missbrauch. Ähnliches schreibt Benos über Hitlers Mutter: „Sie liebte ihn
abgöttisch und bemutterte ihn. Auch Adolf liebte sie übermäßig (…)“ (S. 42)
Hitler, der in den Augen der Medusa nach eigenen Worten die Augen seiner Mutter
wiedererkannte und dessen gestörte
Mutterbeziehung nachvollziehbar u.a. von Arno Gruen beschrieben wurde, erlebte
ganz offensichtlich ebenfalls emotionalen Missbrauch durch die Mutter. Auch sie
schützte ihren Sohn nicht vor der väterlichen Gewalt (und egal woran dies lag,
hinterlässt dies bei einem Kind seine Wirkung auch in Bezug zur Mutter).
Merkwürdig ist, dass Benos als Psychiater seine
Ergebnisse bzgl. der angeblich liebevollen Mütter in Anbetracht eines weiteren Vergleichsergebnisses
nicht kritisch hinterfragte: „Ein normales Verhältnis zu Frauen und gewiss auch
zu der eigenen Ehefrau hatte keiner der Diktatoren (…). Die meisten von ihnen
sahen Frauen lediglich als Lustobjekt und schätzten sie nur gering. Zu einer gefühlsmäßigen
Bindung waren sie auf Grund ihrer Persönlichkeit (Narzissmus) nicht fähig (…). Ehen
und Partnerschaften entstanden nur, weil die Diktatoren eine Stütze brauchten.
(…) Trotz aller Anstriche einer frauenfreundlichen Politik blieben die Regime,
weil die Diktatoren dies nicht anders wollten, antifeministisch.“ (S. 228- 231)
Verhalten sich so Söhne, die von ihren Müttern wirklich geliebt und gut behandelt
wurden? Benos wies ja auch nach, dass die Väter sowohl emotional als auch oft
real abwesend waren und nicht als Vorbild zur Verfügung standen. Das bedeutet,
dass die Diktatoren während der Kindheit hauptsächlich durch ihre Mütter
erzogen und begleitet worden sind. Wären ihre Taten und auch ihre Einstellungen
gegenüber Frauen möglich gewesen, wenn der anwesende Elternteil sie mit echter Liebe
überschüttet hätte? Nach allem was ich gelesen habe und selbst als Mensch über
das Menschsein fühle kann ich nur sagen: Nein, dies wäre nicht möglich gewesen!
Dazu kommt, dass alle Diktatoren Ende des 19.
Jahrhunderts geboren wurden, einer Zeit also, in der das Prügeln und Demütigen von
Kindern zu Hause und auch in der Schule Sitte und Norm war. Die meisten
Gewaltstudien kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter gleich viel oder meist sogar
noch öfter als Täterinnen bzgl. körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern
auftreten als die Väter. Aktuell habe ich ja z.B. die Studie von Hävernick
vorgestellt, die ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Deutschland für die
Jahre 1910 bis Anfang der 60er Jahre festgestellt hat. Mütter waren in über 60
% der Fälle die Täterinnen.
Benos hat nun ganze 20 Diktatoren analysiert und meint, dass keine einzige Mutter
eine Täterin an ihrem Kind war, sondern alle liebevoll mit ihren Söhnen
umgingen!? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies stimmt, tendiert bereits gegen
Null, wenn man sich alleine nur mit sozialwissenschaftlichen Gewaltstudien und
der historischen Kindererziehung befasst. Benos hängt ganz offensichtlichem
einem tief in unserer Gesellschaft verwurzeltem idealisierendem Mutterbild
nach, das so nicht real ist. (Über dieses Mutterbild und das Nicht-sehen-wollen
weiblicher Täterschaft werde ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben).
Ansonsten bestätigen Benos Vergleichsergebnisse vieles
von dem, was man sich so allgemein über Diktatoren denken kann: Sie waren
kontaktarm und menschenscheu; Menschen gegenüber waren sie misstrauisch und
ängstlich; sie waren sowohl in der Politik als auch sozial Außenseiter; sie
waren gute Schauspieler und konnten gut reden; bei allen Diktatoren fand Benos
paranoide Tendenzen und wahnhafte Ideen; alle Diktatoren waren Narzissten; alle
zeigten depressive Tendenzen; alle verfügten über eine hohe rationale
Intelligenz aber: „Die Diktatoren hatten einen Defekt im emotionalen Bereich.“
(S. 256) Mit ihren eigenen Gefühlen konnten sie nur schlecht umgehen; im
Bereich der Empathie „waren sie gar emotional Schwachsinnige.“ (S. 258) Als
Folge der fehlenden Empathie waren sie auch im Bereich der zwischenmenschlichen
Beziehungen „emotionale Krüppel“ (S. 259)
Und all dies - ich wiederhole mich – trotz einer liebevollen Mutter? Ich denke,
dass dieser blinde Fleck das Hauptmanko des Buches darstellt. Hätte Benos
diesen Punkt richtig ausgeleuchtet und kommentiert, das Buch wäre wirklich eine
hervorragende Grundanalyse über die Psyche der Diktatoren, als auch bzgl. der
Gemeinsamkeiten in der Kindheit.
Dabei hat Benos in der Tat einen gewichtigen
gemeinsamem Nenner gefunden. Er beschreibt die „liebevollen Mütter“, gut, das
habe ich hinreichend kritisiert. Aber er schreibt auch, dass alle Mütter ihre
Söhne verhätschelt hätten, sie bemutterten, die Söhne waren ihre Lieblinge, „außerdem
spornten sie die Mütter zu „Höherem“ an und bestärkten sie sogar in der
Ablehnung des Vaters. Diese Tatsache fiel vor allem bei den berüchtigtsten der
Diktatoren auf. Je mehr die Mutter sie verhätschelte und anspornte, desto
narzisstischer und neurotischer, aber auch brutaler wurden sie in der
Verfolgung ihrer Ziele.“ (S. 226) Da ich „Verhätscheln“ und eine „Muttersöhnchenbindung“
nicht als Liebe sehe, sondern als das genaue Gegenteil oder um es klar zu
sagen, als emotionalen Missbrauch, verwundert es nicht, dass die Schädigungen
dort am meisten auftraten, wo emotional auch am stärksten missbraucht wurde. Volker Elis Pilgram schrieb
in seinem Buch „Muttersöhne“ passend: „Der Mangel an Liebe versteckt sich am
allermeisten hinter übertriebener Fürsorge.“ und „Muttersöhne haben eine
Phantomseele. Sie sind mit Fleisch und Blut erwachsen da, aber ein seelischer
Zusammenhang fehlt ihnen.“ Der Misch aus destruktiven, abwesenden und ablehnenden
Vater, anwesender, überfürsorglicher und emotional missbrauchender Mutter, gepaart
mit wahrscheinlich (wie oben besprochen) in sicher nicht wenigen Fällen auch
körperlicher mütterlicher Gewalt (nachweisbar z.B. bei Stalin) und dem
gleichzeitigem mütterlichem Idealisieren des Sohnes, der für Großes vorgesehen
ist und all das erreichen soll, was der Mutter verwehrt bleibt, macht meiner Meinung nach den potentiellen
Diktator aus.
Benos kritisiert im Schlussteil unter der Überschrift „Diktatorenprophylaxe“
dagegen sogar die Auffassung von dem Psychoanalytiker Hans Strotzka, der auf „vernünftige“
Erziehung setzt, „mithin auf die Vermeidung der Diktatorenerzeugung durch eine
Erziehung, die Wärme und Vertrauen vermittelt und Fehlentwicklungen vorbeugt.“
(S. 266) Und er hängt an: “Eine Utopie, denn die meisten Kinder werden trotz
dieser Aufforderung der Psychologen und Pädagogen weiterhin nicht auf „vernünftige“
Weise erzogen.“ Damit ist das Thema für ihn beendet und er macht es sich hier
sehr einfach.
Kurzum, das Buch an sich bestätigt systematisch, wie
wichtig Kindheitserfahrungen bzgl. destruktiver politischer Entwicklungen waren
und sind, dabei blendet der Autor mütterliche Destruktivität komplett aus und sieht
keine Möglichkeiten, die Kindererziehung gezielt zu verbessern. Ich bin immer
wieder erstaunt darüber, dass Menschen, die auf dem psychologischen Gebiet tätig
sind, trotz aller vorliegenden Erkenntnisse an den Dingen vorbeischreiben können.
Aber, man gewöhnt sich fast schon daran... Letztlich ist das Buch trotz allem eine
nützliche Arbeitsgrundlage für mich und diesen Blog.