Zu letzt habe ich mich Anfang 2009 mit der psychischen Situation in Israel und auch einigen Daten über Kindesmisshandlung befasst, nachdem die israelische Armee in Gaza einmarschiert war. Aus aktuellem Anlass habe ich erneut etwas recherchiert und erstmalig aussagekräftige neue Zahlen über Kindesmisshandlung in Israel gefunden.
10.513 Kinder und Jugendliche (8.239 als Juden und 2.274 als Araber kategorisierte) im Alter zwischen 12 und 16 Jahren (Geburtsjahrgänge ca. 1995-2001) wurden im Zeitraum zwischen September 2011 und September 2013 in Israel bzgl. Gewalterfahrungen befragt. Die Studie wurde von der „Society at the University of Haifa“ unter der Leitung von Prof. Zvi Eisikovits und Prof. Rachel Lev-Wiesel durchgeführt. Dies ist die erste große und repräsentative (Dunkelfeld-)Studie in Israel, die sich mit Kindesmisshandlung befasst. Sie liegt mir nicht direkt vor (bisher nur in hebräisch online ), wurde aber in Onlinequellen (siehe unten) in englisch ausführlich besprochen. Das Grundziel der Studie ist wohl (folgt man den Angaben auf der Onlineseite der Forschenden), über 15.000 Kinder zu befragen . Die Studie läuft noch bis ca. 2015, so dass die hier vorgestellten Ergebnisse wohl als erster großer Zwischenbericht verstanden werden müssen. Da ich kein hebräisch verstehe, ist dies zumindest das, was ich den englisch sprachigen Texten entnehme.
Ergebnisse:
48,5 % aller Befragten berichteten über mindestens eine Form von erlittener Misshandlung (also schwerer Gewalt). (Die arabischen Kinder und Jugendlichen waren dabei mit 67,7 % deutlicher häufiger von Misshandlungen betroffen)
27,8 % wurden emotional misshandelt (40,1 % der arabischen Befragten)
17,6 % sexuell misshandelt (16.9 % der Jungen und18.3% der Mädchen bezogen auf alle Befragten; 22,3 % der arabischen befragten Mädchen und Jungen)
15,2 % emotional vernachlässigt
14,3 % körperlich vernachlässigt (33,4 % der arabischen Befragten)
14,1 % körperlich misshandelt
8,6 % wurden Zeugen körperlicher Misshandlungen in der Familie
Die Studie definierte Misshandlungen als “ongoing, systematic and deliberate cruelty that causes pain and suffering to the victim. Physical abuse is ongoing, systematic and deliberate cruelty that causes pain and suffering to the victim and is related to physical harm. Emotional abuse is parental cruelty that is systematically repetitive and distorts the sense of identity and esteem of the child.” (ynetnews.com, 11.12.2013: Study: Half of Israeli children experienced abuse or neglect; siehe ergänzende Infos zu der Studie auch hier)
Es geht also um häufige, systematische und vorsätzliche schwerere Gewalt gegen Kinder. Leichtere Gewaltformen wurden demnach nicht erfasst. Die o.g. Daten beziehen sich auf die aktuelle Kindergeneration in Israel. Dies ist besonders wichtig zu erwähnen, weil Gewalt gegen Kinder im historischen Rückblick überall auf der Welt ansteigt, vor allem auch bei den schweren Formen. Wichtige politische und militärische Führungspersonen in Israel gehören i.d.R. einer älteren Generation an, die noch mehr Gewalt erlebt haben wird, als die aktuelle Kindergeneration!
Diesen Informationen möchte ich jetzt noch einmal Daten über die besetzen palästinensischen Gebiete anhängen.
Laut UNICEF erleben in den besetzen palästinensischen Gebieten nur 5 % der Kinder keine Gewalt in der Familie (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" in diesem vergleichenden UNICEF Report, der 36 Länder erfasst), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. (vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8) Befragten wurden Mütter/ hauptsächliche Pflegepersonen, die Kinder im Alter zwischen 2 und 14 Jahren haben, zum Strafverhalten in der Familie innerhalb eines Monats vor der Befragung. Die o.g. bereits sehr hohen Zahlen sagen also nichts aus über die Gewalterfahrungen während der gesamten Kindheit! Während für andere Länder des mittleren Ostens und Nordafrika in dieser Studie auch Daten bzgl. besonders schwerer körperlichen Gewalt vorliegen, ist dies für die besetzten palästinensischen Gebiete leider nicht der Fall. Es ist zu vermuten, dass auch für dieses Gebiet der Durchschnittswert für diese Region von 34 % (vgl. ebd., S. 29) schwer körperlich misshandelter Kinder innerhalb eines Monats vor der Befragung ein reeller Richtwert ist.
Ich habe in meinem oben eingangs verlinkten Text aus dem Jahr 2009 bereits viel über die irrationalen Ursachen des Konfliktes in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten geschrieben. Ich halte hiermit noch einmal fest, dass sowohl auf israelischer als auch auf der palästinensischen Seite hohe Raten von Gewalt gegen Kinder festzustellen sind, dabei auch hohe Raten schwerer Gewalt (sprich Misshandlungen), die besonders schädliche Folgen für die betroffenen Kinder bedeuten. Zudem ist eindeutig festzuhalten, dass auf der palästinensischen Seite (wie auch im sonstigen arabischen Raum) im Verhältnis zu Israel bzw. den jüdischen Kindern deutlich höhere Raten von Kindesmisshandlung festzustellen sind und somit die arabischen Kinder deutlich häufiger im Elternhaus traumatisiert wurden und werden. Die jüdische Seite trägt zudem das kollektive Trauma des Holocaust auf die eine oder andere Art in sich (dazu habe ich bereits ansatzweise etwas hier geschrieben), das sich mit der Gewalt im Elternhaus zu einer sehr belastenden Gesamtmasse vermischt.
In diesen Tagen erleben wir erneut die Irrationalität kriegerischer Gewalt in der Region, die mich mal wieder derart fassungslos macht, dass ich mir weitere Kommentare spare. Allerdings bin ich mir sicher, dass der Konflikt vor Ort langfristig nur gelöst werden kann, wenn in der Region flächendeckende Kinderschutzprogramme ins Leben gerufen werden und zusätzlich bereits traumatisierte Menschen psychologisch betreut werden. Israel hat 2000 sämtliche Formen körperlicher Gewalt gegen Kinder gesetzlich verboten, ein (vor allem symbolischer) Schritt in die richtige Richtung. Die Ergebnisse der aktuellen oben besprochenen Studie aus Israel wurden zudem 12.11.2013 in der Knesset vorgetragen, was hoffen läßt, das entsprechende Maßnahmen erfolgen. Die Region muss vor allem emotional entwaffnet werden und dies geht nur, wenn man – um es mit Astrid Lindgrens Worten zu sagen – von Grund auf beginnt: bei den Kindern.
Freitag, 18. Juli 2014
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