Donnerstag, 23. Juli 2015

Die Farben der Gewalt: Ideologie ist niemals selbst Motivation für das Morden.

Ebrahim B. ist der erste deutsche IS-Rückkehrer, der offen über seine Erlebnisse in Syrien und im Irak berichtet und sich vom IS deutlich distanziert. Das in der ARD veröffentlichte Interview  ist sehr sehenswert und offenbart viel über die massive Gewalt, die auch in der Gruppe IS untereinander herrscht. 

In der ZEIT (17.07.2015, "Du bist entweder tot oder tot") wurde noch eine weitere Aussage von Ebrahim zitiert. Er habe eine schwierige Schulzeit hinter sich, kleinere Vorstrafen, eine geplatzte Hochzeit und sei in Orientierungslosigkeit verfallen. Dann wurde er angeworben von IS-Rekrutierern und fand eine scheinbare Berufung und einen Sinn.  Ebrahim wörtlich (und das ist der Satz, der mich besonders aufhorchen ließ!):  "Würde ich von einer Rocker-Bande aufgenommen in Jamaika oder in Amerika von Hells Angels oder so was, wäre ich mitgegangen. Ich bin gestolpert und wurde von den falschen Händen aufgenommen." Dazu passt auch, dass Ebrahim vorher nicht sonderlich religiös war.
Mich erinnert diese Aussage an den ehemaligen Terroristenunterstützer Willi Voss, über den ich hier im Blog bereits kurz geschrieben habe. In einem SPIEGEL-Interview (31.12.2012. "Ein Mann, drei Leben") sagte er folgendes: "Ich war ein verlorener Hund. Einer, der so oft getreten worden war, dass er zurückbeißen wollte, egal wie (…). Hätte ich damals Andreas Baader getroffen, wäre ich vermutlich bei der Roten Armee Fraktion gelandet.“ Seine Kindheit sei von Gewalt, sexuellem Missbrauch und anderen Demütigungen geprägt gewesen, schreibt der SPIEGEL weiter. „Ich habe als Kind immer wieder Zustände absoluter Ohnmacht kennengelernt. Etwas, dass blanke Mordlust in mir ausgelöst hat, tiefste Scham und ein Gefühl, als sei ich das Wertloseste, dass es auf dieser Welt gibt.“, sagte Voss.

Beide Akteure haben letztlich deutlich gemacht, dass ihnen die „Farbe“ ihrer gelebten Ideologie oder ihres Gruppenkultes letztlich mehr oder weniger egal war und sich einfach ergab. (Viele wundern sich, wenn z.B. Linksextremisten nach einiger Zeit plötzlich Rechtsextremisten werden, dabei erklärt dieses „egal welche Farbe“ genau das.) Ein Willi Voss wäre vielleicht, hätte er einen muslimischen Hintergrund, heute als junger Mann auch unterwegs in Richtung Syrien. Oder er wäre damals, wie er selbst für sich feststellte, einfach zur RAF gekommen, so Begegnungen und Zufälle dies möglich gemacht hätten. Ein Ebrahim B., der als Weißer  in den Südstaaten der 50er Jahre in den USA aufgewachsen wäre, hätte sich vielleicht – so es Zufälle und Begegnungen ergeben – dem rassistischen Ku-Klux-Klan angeschlossen. 

Egal wie die jeweilige „Farbe“ aussieht, der Weg MUSS destruktiv sein, wenn im Hintergrund eine entsprechend destruktive Kindheit therapeutisch unbearbeitet schlummert und das Opfer, das mensch als Kind war, weiterhin alles steuert. Die „Unauffälligeren“ wählen vielleicht einen selbstdestruktiven Weg, Drogensucht, lebensgefährlichen Extremsport, Unglück und Scherbenhaufen im Leben, zerschossene Beziehungen, Kindesmisshandlung, mir fällt da viel ein. Die „Unauffälligeren“ wählen vielleicht auch einen Weg, der zwar destruktiv ist, aber der Kultur angepasst ist, so dass das Verhalten nicht als abweichend oder kriminell gilt.  Z.B. das Soldatentum oder machtvolle Positionen, in denen extrem vernichtende Entscheidungen getroffen werden können, die dann als ökonomisch-politisch zweckrational gelten, obwohl sie im Grunde Terror sind, mit dem einzigen Ziel der Zerstörung.

Es ist eines der größten Irrtümer der klassischen Gewaltforschung, dass diese sich auf die politische, zweckrationale Dimension fokussiert und dies als Ursache benennt, obwohl dieser Überbau den Akteuren nur dazu dient, sich selbst zu belügen, damit gewissenlos zerstört werden kann, um der Zerstörung willen. Der „rational-politische Überbau“ dient – um es gleich noch mal zu wiederholen - nur als Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck ist die Zerstörung an sich (gespeist durch Selbsthass auf Grund kindlicher Opfererfahrungen): Zerstörung von Menschen und Umwelt und natürlich vor allem die Selbstzerstörung.
Menschen brauchen aber i.d.R. etwas, um diesen eigentlichen Zweck vor sich selbst zu verschleiern. Einige wenige besonders krasse Täter wie Serienmörder etc. sind da große Ausnahmen. Sie sagen oftmals ganz offen: Ich wollte einfach zerstören,  jemanden abschlachten, jemanden leiden sehen,  wer und wo ist im Grunde egal und eher Zufall. Die meisten anderen destruktiven Menschen, die z.B. für den IS in den Krieg ziehen, brauchen zunächst einen politischen oder religiösen Überbau, irgendetwas, das dazu dient, die Lüge vor sich selbst zu verbergen. (Selbst der Straßenschläger, der jemanden „einfach so“ zusammenschlägt und vielleicht sogar tötet, braucht oftmals eine kleine Rechtfertigung für den Anlass der Gewalt: Er wurde schief angeschaut oder beleidigt oder er wurde darauf hingewiesen, sich zu benehmen. Der Hass und die Wut schlummerten schon vor der Tat in ihm.) Ist der Damm dann erst einmal gebrochen, wird dem Hass freien Lauf gelassen.

Jede neue Tat traumatisiert die Täter wiederum zusätzlich. Fataler Weise fühlen sie sich kurzzeitig durch das Morden lebendig, sterben aber real immer weiter ab. Falls noch leichte Gefühle da waren und eine winzige Verbindung zur Menschheit bestand, wird auch dieses letzte Licht gelöscht. Ich spreche dann immer davon, dass eine Art „Superzombie“ entsteht. Diejenigen, die heute in Syrien Menschen massenhaft und oft grausam umbringen, waren bereits voller Hass und toter Emotionen, als sie loszogen. So man will fühlten sich viele wahrscheinlich bereits innerlich nicht-lebendig, einem Zombie nahe. Der „Superzombie“ entsteht dann durch ihre realen grausamen Taten. Danach gibt es im Grunde kein Zurück mehr zu einem innerlich lebendigen und gefühltem Leben. Der körperliche Tot wird irgendwann zum Ziel und verspricht Erlösung, das Innere ist eh schon tot.

Arno Gruen hat in seinem Buch „Wider den Terrorismus“ (2015) auf Seite 18  - auch mit aktuellem Bezug zum IS - formuliert: „Die tödliche Motivation kommt (…) vor der Ideologie. Diese soll nur die wahren Antriebskräfte verschleiern; die Ideologie ist niemals selbst Motivation.“ Dieser Satz bringt es auf den Punkt, wird aber oftmals immer noch nicht verstanden. In der gesamten Gewaltforschung müsste ein Umdenken in dieser Hinsicht stattfinden, ebenso bei politischen Entscheidungsträgern.

Siehe ergänzend: 

- IS-Terroristen: "Biografien der Vorhölle"

Donnerstag, 16. Juli 2015

Studie. Kindheiten von fremdenfeindlichen, teils rechtsextremen Gewalttätern.


Ich habe kürzlich eine (schon etwas ältere) Studie über fremdenfeindliche, teils rechtsextremistische Gewalttäter gefunden, die ich hier besprechen möchte: Frindte, Wolfgang / Neumann, Jörg (Hrsg.) (2002): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Für die Studie wurden Daten von 91 verurteilten männlichen Straftätern erhoben, die im Strafvollzug oder Einrichtungen der Bewährungshilfe sowohl interviewt als auch schriftlich befragt wurden. Das durchschnittliche Geburtsjahr der Gewalttäter war 1978. Die Täter sind bereits frühzeitig aufgefallen, bis zum Abschluss des strafmündigen Alters von 14 Jahren hatten bereits 2/3 Polizei und 1/3 Gerichtskontakt.

In ihrer Zusammenfassung bzgl. des biografischen Verlaufs der Täter schreiben Neumann und Frindte u.a.:
„In den biografischen Erzählungen der interviewten Täter zeigt sich ganz offensichtlich die nachhaltige negative Wirkung einer gewaltbesetzten Familienkonstellation. Dies paart sich mit Fehlen einer stabilen emotionalen Beziehung zu Mutter, Vater oder einer anderen Bezugsperson. Dagegen ist die familiale Situation bestimmt durch vielfache Brüche, Beziehungsstörungen und Disharmonie.“ (S. 149) Bereits in der Schule fielen die Befragten auf, durch Leistungsversagen, Verhaltensauffälligkeiten, delinquentes Verhalten und Schulabbruch. Im Durchschnitt begann dann ab dem Alter von 14 Jahren die Gruppensozialisation in rechten Jugendcliquen. (S. 149)
Im Grunde sind somit die grundlegenden Informationen bereits benannt. Im Detail möchte ich jetzt auf die Zahlen eingehen:

30 % der Befragten lebten als Kind zu irgendeinem Zeitpunkt in einem Heim.

20 % der Befragten wurden bereits bei ihrer Geburt vom Vater verlassen. Nur 44 % lebten mit ihrem leiblichen Vater bis zum 14. Lebensjahr zusammen. Ca. 40 % lebten zu irgendeinem Zeitpunkt mit einem Stiefvater oder einem neuen Freund der Mutter zusammen.

Mutter, Vater und Stiefvater wendeten oftmals Gewalt gegen das Kind an. Leider wurde wie so oft in ähnlichen Studien versäumt, die Häufigkeit des Gewaltverhaltens (was die Folgeschäden wesentlich beeinflusst) abzufragen.  Es wurde zudem auch nicht dargestellt (auch das ist in vielen ähnlichen Studien leider gängig), ob es einzelne Täter gab, die keine einzige Form von Gewalt in der Kindheit erlebt und/oder keine belastenden Erfahrungen wie Heimunterbringung oder Miterleben von Gewalt gemacht haben. Oder anders formuliert: Gibt es rechte Gewalttäter, die als Kind Liebe und Geborgenheit erfahren haben und gewaltfrei aufgewachsen sind? Die vorhandenen Daten der hier besprochenen Studie sprechen dafür, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist.

In der schriftlichen Befragung wurde das Gewaltverhalten von Mutter und Vater jeweils getrennt erhoben. Dabei ist den Forschenden leider ein Fehler unterlaufen. Das Gewaltverhalten der Mutter wurde versehentlich auch in die Tabelle bzgl. des Gewaltverhaltens des Vaters übernommen. Im Text auf Seite 121 wurde aber eine Prozentangabe bzgl. der schweren Gewalt durch die Väter gemacht. Zudem wurden Ergebnisse aus den mündlichen Interviews ergänzend erwähnt, so dass sich ein Bild ergibt.

Bestrafungen durch die Mutter:
- Tracht Prügel (schwere Gewalt): 30 %
-  angeschrien: 58 %
-  herabgesetzt: 18 %
-  nicht beachtet worden: 20 %
-  Ohrfeige: 37 %
-  Klaps: 38 %
-  Hausarrest/Verbote: 58 %

Bestrafungen durch den Vater:

- Tracht Prügel (schwere Gewalt): 54 %

Andere im Buch  in Abbildung 18 (S. 121) Prozentwerte sind nicht verwertbar, weil fälschlich im Buch dargestellt bzw. versehentlich Daten von Müttern übernommen wurden.

In den mündlichen Interviews berichteten 63 % von Gewalt seitens der Mutter (davon 46 % schwere Gewalt) und 60 % von Gewalt durch den Vater (davon 80 % schwere Gewalt). Bzgl. der Stiefväter ergab sich das gleiche Verhältnis: 60 % Gewalt (davon 80% schwer)

Bedenkt man dabei, dass ca. 20 % der Befragten (18 Personen von 91)  seit Geburt ohne leiblichen Vater aufwuchsen, ergibt sich real noch mal ein anderer Wert bzgl. der Betroffenheit väterlicher Gewalt. Denn diese 18 Personen werden logischer Weise angegeben haben, dass sie keine väterliche Gewalt erlebt haben, weil der Vater einfach nicht da war. Dadurch verklärt sich die Auswertung.
Nimmt man die Ergebnisse aus den Interviews (60% von 91 Befragten) dann gaben rund 55 Befragte an,  väterliche Gewalt erlebt zu haben. Diese 55 Befragten muss man jetzt in Relation zu den 73 Befragten sehen, die überhaupt mit leiblichen Vätern aufgewachsen sind. Somit würde sich ergeben, dass ca. 75 % Gewalt durch leibliche Väter erlebt haben.

Zudem ergibt sich wie bei allen ähnlichen Studien das Problem der fehlenden Erinnerung (durch Abspaltung oder Verdrängen des Erlebten) , was routinemäßig Ergebnisse verzerrt. Diesen Hinweis möchte ich hier explizit einbringen, weil im hintern Teil des Buches zwei („Rolf“ und „Jochen“) der 91 Gewalttäter ausführlich dargestellt werden. „Rolf“ hat den Angaben nach mehrmals im Interview gesagt, dass er weitgehend keine Erinnerungen an die Kindheit hat. (S. 158)

Geht man jetzt gedanklich davon aus, dass in einigen Fällen vielleicht nur die Mutter Gewalt angewandt hat oder nur der Vater oder nur der Stiefvater ergibt sich bei den o.g. Werten die Vermutung, dass wenn überhaupt nur ein kleiner Bruchteil der Befragten  keine Gewalt erlebt haben wird.

Den Familienalltag in der Kindheit beschrieben die Mehrzahl der befragten Gewalttäter als geprägt von Streit, Geschrei und Disharmonie. 64 % bezogen auf die Mutter, 89 % auf den Vater und ¾ auf den Stiefvater. Von einem autoritären Erziehungsstil, der kaum Möglichkeiten zu eigenen Entscheidungen ließ, erzählten im Schnitt 60 % der Befragten. 61 % der befragten Gewalttäter gaben im schriftlichen Fragebogen an, dass ihre Eltern wenig Interesse für sie gehabt hätten. Gewalt zwischen den Eltern haben 20 % miterlebt.

(alle o.g. Daten S 119-124)

Ab Seite 156 stellt Christine Wiezorek – wie oben schon kurz erwähnt – zwei Fallbeispiele ausführlich vor: Die Biografie von „Rolf“ und von „Jochen“. Mir wurde beim Lesen dieser beiden Fälle mal wieder deutlich, dass Zahlen und Rahmendaten wie oben aufgezeigt nur ein erstes Licht auf das werfen, was Kinder erleiden. Erst im biografischen Detail offenbart sich das ganze Grauen. Ich gebe nur kurz einiges wieder:

Fall „Rolf“: Unmittelbar nach seiner Geburt kam Rolf in ein Heim, da seine Mutter eine längere Haftstrafe abzusitzen hatte. Insgesamt hat Rolf eigenen Angaben zu Folge während seiner Kindheit in 9 oder 10 verschiedenen Heimen gelebt, einmal auch in einer psychiatrischen Einrichtung.  Er berichtet, dass er sich weitgehend nicht an seine Kindheit erinnern kann. Dies spricht für besonders schwere und häufige Gewalt-- und Demütigungserfahrungen, die dann abgespalten werden, um  psychisch zu überleben. Rolf hat noch 4 Geschwister, die jeweils einen anderen Vater haben. Konflikte in der Familie aber auch außerhalb wurden oftmals mit Gewalt gelöst. Die Mutter schlug und prügelte Rolfs Geschwister, aber auch Menschen außerhalb der Familie. Einen Mann soll die Mutter derart zusammengeschlagen haben, dass dieser danach im Rollstuhl saß. Hatte Rolf Ärger mit anderen Leuten, wurde die Mutter auch mal handgreiflich diesen Personen gegenüber. Innerhalb der Familie scheint eine generelle Gefühlskälte und Kommunikationsstörung geherrscht zu haben.  Rolf scheint auch einige Zeit auf der Straße gelebt zu haben. Er wurde früh kriminell und auch suchtkrank.

Fall „Jochen“: Auch Jochen lebte einige Jahre seiner frühen Kindheit in einem Heim. Seine Mutter hatte noch zwei Töchter, die aber in einem anderen Heim untergebracht wurden. Jochen wurde also zusätzlich von seinen Geschwistern, mit denen er sich sehr verbunden fühlte, getrennt. Mit ca. 8 oder 9 Jahren kamt Jochen wieder nach Hause zu seiner Mutter, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hat. Dieser Mann, sein Stiefvater, war brutal gegen alle Familienmitglieder. Er schlug und prügelte auch ohne Anlass, eher aus einer Stimmung heraus. Wenn die Mutter dazwischenging und Jochen schützen wollte, erhielt sie die Schläge, was zu ihrem Rückzug führte.  Der Stiefvater  sei außerdem wenig zu Hause gewesen sondern eher in Kneipen und bei seinen Kumpels.  Jochen floh schließlich aus seinem Elternhaus und lebte einige Zeit auf der Straße. Später kam er wieder zurück. Erneut begann eine Spirale der Gewalt in der Familie. Besonders erschüttert wurde Jochen, als seine ältere und schwangere Schwester (die er besonders liebte) mit ihrem Freund in einen anderen Ort zieht, ohne Jochen zu sagen wohin genau. Er verlor dadurch Halt und seinen Rückzugsort, den seine Schwester (und auch deren Freund) für ihn bedeuteten. Nach einem Jahr kam die Schwester allerdings alleine wieder zurück. Sie hatte sich von ihrem Freund, der sie u.a. vergewaltigt hatte, getrennt. Für Jochen brach dadurch sein Vertrauen in die Welt zusammen.
Im Alter von 14 Jahren wurde Jochen zum ersten Mal verurteilt, mit 16 erhielt er seine erste Haftstrafe. Zur Interviewzeit saß er, 22 Jahre alt, bereits seine dritte Haftstrafe ab.

Montag, 13. Juli 2015

Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview

Der Vater von Anders Behring Breivik, Jens Breivik, hat kürzlich für das Süddeutsche Zeitung Magazin (Heft 26/2015, „»Ich hätte gerufen: Erschieß mich zuerst!«) ein langes Interview gegeben. Das Bild, das wir über Anders Kindheit erhalten, wird somit immer komplexer. (Letztlich fehlt nur noch die Aussage der Schwester von Anders) Der Vater selbst fährt im Interview keine klare Linie bzgl. der Frage, warum sein Sohn zum Massenmörder wurde. Er sagt z.B. auf die Frage, ob das Böse Anders "eher wie ein Virus befallen" hätte oder ob eher "eine lange Entwicklung" dahinter stünde, dass niemand daraus schlau wurde, auch die im Prozess beauftragten Psychiater nicht.

Im Interview bestätigt er viele Details, über die vereinzelnd schon berichtet wurde. Z.B. dass er 1983 von einer Nachbarin seiner Ex-Frau angerufen wurde, weil „seltsame Dinge in dieser Wohnung“ geschähen (Streit, laute Stimmen, viel Männerbesuch und das Anders und seine Schwester oft alleine zu Hause waren, auch nachts.). Oder dass Psychologen des Jugendamtes ihn angeschrieben hatten. Nach dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung war empfohlen worden, Anders von seiner Mutter zu trennen. Jens Breivik versuchte dann das Sorgerecht zu erstreiten, verlor aber den Prozess.

Für mich besonders interessant ist, dass Jens Breivik auch etwas über die Zeit erzählt, wo Anders noch Baby war (diese bekam er ja einige Monate mit, danach trennte er sich von seiner Frau).  Anders Mutter sei kühl gewesen. „Sie war nicht fürsorglich. Als er ein Baby war, tat sie nur, was getan werden musste, wechselte die Windeln, badete ihn.“ Sie habe ihn nicht in den Arm genommen oder gesagt „Ich hab Dich lieb.“
Jens Breivik deutet auch an, dass seine Frau unbedingt ein Kind wollte, es aber alleine großziehen wollte und für sich beanspruchte. Er bestätigt auch, dass seine Ex-Frau zwei Gesichter hatte und sehr wechsellaunig war.
Aber auch Jens Breivik scheint - "Ich bin kein Gefühlsmensch."- kein besonders emotionaler Mensch zu sein und offenbart auch deutlich väterliche Erwartungen an das Kind Anders, die eher erfolgs- und leistungsbezogen sind, etwas, was Anders nie erfüllte.  Er sei als Vater nie stolz auf seinen Sohn gewesen.

Etwas später sagt er: „Seine Kindheit mag traurig gewesen sein, aber keine Katastrophe.“  Was Aage Borchgrevink über Breiviks Kindheit herausgefunden hat und was sich letztlich auch im Interview mit Jens Breivik zeigt ist, dass diese Kindheit ein einziger Alptraum, eine einzige Katastrophe war! Letztlich wird Jens Breivik am Ende des Gespräches überdeutlich. Er wurde gefragt:  „Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten an einen beliebigen Zeitpunkt seit Anders’ Geburt: Wohin?“ Seine Antwort: "Nach 1983. Ich würde alles unternehmen, damit er kein Terrorist wird, und sofort von Paris nach Oslo zurückziehen, in seine Nähe.


Donnerstag, 9. Juli 2015

Studie: Zahlen über Kindesmisshandlung in 28 Ländern

Ich habe heute eine große Studie - Akmatov, MK (2011): Child abuse in 28 developing and transitional countries—results from the Multiple Indicator Cluster Surveys. International Journal of Epidemiology 40(1): 219-227 - gefunden, die vermutlich auch in bereits hier im Blog besprochenen UNICEF-Studien eingeflossen ist, sie entspricht offensichtlich zumindest den gleichen Standards. Befragt wurden Eltern/Sorgeberechtigte von 124.916 Kindern im Alter zwischen 2 und 14 Jahren in 28 Ländern. Erfasst wurde nur das Gewaltverhalten innerhalb von 4 Wochen vor der Befragung. Die Ergebnisse sagen also nichts über das Gewalterleben während der gesamten Kindheit aus, dies wird entsprechend höher sein! Es gibt eine gute Zahlenübersicht bzgl. aller 28 Länder. Die Zahlen sind nah dran an Datenübersichten, die ich bereits aus Studien von UNICEF besprochen habe. Afrikanische Länder und Länder des Nahen Ostens sind – das zeigt sich hier erneut – die gewalttätigsten Länder im Umgang mit Kindern. Es gibt auch einige Abweichungen verglichen mit der von mir hier besprochenen großen und aktuellsten UNICEF Studie „Hidden in Plain Sight“.

Ich stelle die Abweichung für folgende Länder beispielhaft vor:

Yemen

körperliche Gewalt:  86 %  (UNICEF) / 81,4 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 % (UNICEF) / 61 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 92 % (UNICEF) / 92,3 % (Akmatov)

Guinea-Bissau

körperliche Gewalt:  74 %  (UNICEF) / 65,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 % (UNICEF) / 42,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 68 % (UNICEF) / 66,6 % (Akmatov)

Kamerun

körperliche Gewalt:  78 %   (UNICEF) / 63,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 % (UNICEF) / 60,1 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 87 % (UNICEF) / 86,1 % (Akmatov)

Irak

körperliche Gewalt:  63 %   (UNICEF) / 66,8 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 % (UNICEF)  / 32,6 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 75 % (UNICEF) /79,7 % (Akmatov)

Syrien
körperliche Gewalt:  78 %  (UNICEF) / 74,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 % (UNICEF) / 28,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 84 % (UNICEF) / 83,1 % (Akmatov)

Elfenbeinküste

körperliche Gewalt:  73 %  (UNICEF)  / 69,9 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 % (UNICEF)  / 36,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 88 % (UNICEF)  / 87,1 % (Akmatov)

Es zeigt sich, dass in der Studie von Akmatov im Vergleich zur UNICEF Studie teils starke Abweichungen bei der besonders schweren körperlichen Gewalt zu finden sind.
Diese Studie wie auch die UNICEF Studien zeigen ein extrem hohes Ausmaß der Gewalt gegen Kinder – vor allem in den Krisenregionen der Welt. Was leider bisher fehlt sind ähnliche systematische und große Übersichten bzgl. dem Gewalterleben während der gesamten Kindheit (z.B. durch Befragungen von Jugendlichen) und die Aufschlüsselungen von Häufigkeiten (täglich Gewalt erlebt, wöchentlich, einmal im Monat oder nur selten?). Sollte eine solche große Studie eines Tages kommen, wird sie vermutlich alle bisher vorhandenen Daten in den Schatten stellen.