Unter dem Titel „Warum wurde Stephen Paddock zum Attentäter?“ hat Caroline Fetscher im Tagesspiegel (01.10.2018) einen Artikel veröffentlicht, der es in sich hat. Ehrlich gesagt habe ich in der deutschen Medienlandschaft bisher keinen Artikel gelesen, der so weit in die Tiefe ging, um einen Täter und dessen Familie zu analysieren. Von dem Artikel gibt es auch eine Langversion, die ich sehr empfehle.
Frau Fetscher macht deutlich, dass Massenmörder wie Stephen Paddock, der am 01. Oktober 2017 das bisher schlimmste Schusswaffenmassaker in der USA durch einen Einzeltäter angerichtet hat, nicht vom Himmel fallen. In ihrer Analyse erfährt man zwar wenig über den Erziehungsalltag und den Umgang mit Stephen Paddock, als dieser aufwuchs. Allerdings wird deutlich, dass über Paddocks Sozialisation ein großer Schatten lag, der da lautet: sein psychopathischer und schwerkrimineller Vater Benjamin Hoskins Paddock Jr.
Fetscher schreibt: „Eine ultimative Antwort wird es im Fall Stephen Paddock kaum geben. Aber Spuren, die auf Antworten deuten, finden sich zuhauf – in der Katastrophe einer Sozialisation.“ (Langversion, S. 4)
„1946, er war 19 Jahre alt, wurde Benjamin Paddock Jr. in Chicago wegen zwölffachen Autodiebstahls, Urkundenfälschung und Hochstapelei verurteilt.“ (S. 6) Er saß in der Folge fast fünf Jahre in einer Hochsicherheitsanstalt ein. Paddock Jr. erklärte später, „er sei während dieser Zeit oft in Schlägereien verwickelt gewesen und habe „siebzig Prozent“ der Haftzeit in Einzelzellen verbracht, da er nicht bereit war, sich an die Regularien zu halten.“ (S. 7) Dies sollte nicht die einzige Inhaftierung bleiben. „Wenige Monate nach Stephens Geburt wurde sein Vater zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die Haft trennte die eben erst gegründete Familie und wird die Mutter schockiert haben.“ (S. 9)
„Stephen war dreieinhalb Jahre alt, als sich für ihn vieles änderte. Er hatte die Mutter mit niemandem teilen müssen, und jetzt war ein ihm nahezu fremder Vater präsent, der bereits acht seiner dreißig Lebensjahre in Haft verbracht und mehr Erfahrung mit der Rohheit der Anstalt als der Verantwortung für Andere hinter sich hatte.“ (S. 9) Fetscher schreibt: „Benjamin Paddock Jr. dürfte ein impulsiver, wahrscheinlich – bedingt auch durch die Hafterfahrung – gewalttätiger Mann gewesen sein, der zugleich faszinierende Fähigkeiten besaß.“ (S. 10) Wie ging dieser Mann mit seinem Sohn Stephen um? Gab es Gewalt, psychische Übergriffe, verstörende Szenen? Und eine weitere Frage drängt sich zwangsläufig auf: Was für eine Persönlichkeit war eigentlich die Mutter von Stephen Paddock, sie sich in einen derart kriminellen Mann verliebt hatte und mehrere Kinder mit ihm bekam?
Das gemeinsame Familienleben dauerte allerdings nicht lange. Stephen war fast 6 Jahre alt, als sein Vater einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Bank beging. Es folgte ein weiterer Raubüberfall. Noch wurde der Vater dabei nicht gefasst. Am 26. Juli 1960 wurde der Vater nach einem erneuten Raubüberfall inhaftiert, Stephen war zu der Zeit 7 Jahre alt.
Für Stephens Mutter und die Kinder war dieser Tag ein „emotionales Erdbeben. Den Söhnen, die nach Daddy fragen konnten, also Stephen und Patrick, erklärte die Mutter, ihr Vater sei tot und werde nie wiederkommen. (…) Aber ein wacher Siebenjähriger merkt nicht nur, (…), dass zu Hause etwas Katastrophales geschieht. Er wird bald auch wahrnehmen, dass die Mutter keineswegs in Trauer ist, sondern in Angst und Not, dass Worte unter Erwachsenen getuschelt werden oder abrupt geschwiegen wird, sobald die Kinder auftauchen. Warum gibt es kein Grab, keine Trauerfeier, kann Stephen bald gegrübelt haben. Was ist mit Daddy passiert? Seine Fragen werden auf eine Mauer aus Tabus gestoßen sein. Als Faktum blieb: Der Vater war weg. Stephen Paddock war mit dem plötzlichen Verlust des Vaters allein. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich von ihm zu verabschieden. (…) Wo sich ein Kind derart spannungsgeladenen Affekten ausgesetzt sieht wie Stephen Paddock ab dem Juli 1960, läuft es Gefahr, nachgerade zu kollabieren. Um der Überwältigung durch Affekte zu entgehen, sucht die Psyche das Belastende abzuspalten. Erklären Erwachsene, wie hier, pathologisches Ungeschehenmachen zur Norm, sind dissoziative Reaktionen der Kinder vollends unvermeidlich. (…) Höchstwahrscheinlich kämpfte Stephen Paddocks Psyche mit Forderungen, Überforderungen, Tabus, Schuldgefühlen und Ängsten. In der Familie hatte sich Dynamit angesammelt, sie war ein Speicher emotionaler Sprengsätze – und wieder auf der Flucht. Jetzt wollte die Mutter den Sprengstoff vergraben, damit er nicht explodierte. Dafür sollte das „Daddy ist tot“ die Zauberformel sein." (S. 12,13)
1968 brach der Vater, der zu ca. 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, aus dem Gefängnis aus und tauchte ca. 10 Jahre unter. In den gesamten USA wurde nach ihm gefahndet und er stand ab 1969 eine Zeit lang auf der Liste der 10 meistgesuchten Verbrecher des Landes. Caroline Fetscher geht davon aus, dass seine Söhne damals erfuhren, dass ihr Vater noch lebt und ihre Mutter sie belogen hatte. Stephen war zu der Zeit bereits ein Jugendlicher. Spätestens Ende der 1970er Jahre erfuhren die Söhne nachweisbar von ihrem Vater, als dieser aufgegriffen und nach kurzer Haftzeit begnadigt wurde. Diese "Wiedergeburt" des Vaters wird die Söhne schwer verstört haben.
Ich belasse es bei diesen Auszügen. Die Analyse von Fetscher ist derart umfangreich, dass ich bei Interesse dringend deren Lektüre empfehle. Alles in Allem kann man sagen, dass das Familienleben von Stephen Paddock ein Alptraum aus Verlusten, Lügen, Familiengeheimnissen, Armut, Verzweiflung, fehlender Hilfe gepaart mit psychisch kranken Elternteilen und einem schwer kriminellen Vater war.
Mittwoch, 16. Januar 2019
Massenmörder fallen nicht vom Himmel! Der Fall Stephen Paddock
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