Donnerstag, 16. April 2020

China und die Ein-Kind-Politik. Eine traumatisierte Gesellschaft?

Ich habe gestern den Dokumentarfilm „Land der Einzelkinder“ (orig. Titel: One Child Nation) in der ARD-Mediathek gesehen (leider ist der Film seit heute nicht mehr aufrufbar).

Den englischen Trailer dazu gibt es hier zu sehen.

Der Film hat mich tief erschüttert! Die Ein-Kind-Politik hat in China zwischen 1979 und 2015 eine traumatisierte Gesellschaft hinterlassen. Das ist zumindest der Schluss, den ich aus den gezeigten Informationen ziehe.

  • Kinder schämten sich für ihre Geschwister, denn nur ein Kind war gesetzlich erlaubt. 
  • Säuglinge und Kleinkinder wurden (wenn es bereits ein Kind in der Familie gab) ihren Familien entrissen und oftmals über ein Waisenhaussystem an Eltern in westlichen Gesellschaften „verkauft“. 
  • Frauen wurden zu Abtreibungen und Sterilisationen gezwungen. 
  • Wer gegen die Regeln verstieß oder wer sein Kind nicht ausliefern wollte, dem wurde auch schon Mal das Haus eingerissen. 
  • Vor allem weibliche Säuglinge wurden in Körben an Straßenrändern oder auf Märkten abgelegt. In der Hoffnung, jemand würde sie vielleicht mitnehmen. Viele starben einfach. Mädchen waren einfach nichts wert. 
  • Zurück blieben Angehörige (und auch Geschwisterkinder), die bis heute nicht wissen, was mit diesen ausgesetzten oder entrissen Kindern passierte, ob sie noch leben und wie es ihnen geht

Es ist zutiefst erschütternd, wie ein Mann berichtet, dass er als Jugendlicher ständig tote Säuglinge am Straßenrand gesehen hatte. Irgendwann beschloss er zu helfen und brachte die gefunden Säuglinge in ein Waisenhaus. Daraus entwickelte sich aber bald ein Geschäftsmodell, denn die Waisenhäuser bezahlten die „Finder“ und „verkauften“ die Kinder gen Westen.

Besonders tragisch und berührend ist der Bericht über eine Hebamme. Sie hat hunderte Kinder abgetrieben. Nicht selten lebten die Föten (nicht selten abgetrieben im 8. oder 9. Monat) noch. Ihre Schuld ist ihr sehr bewusst. Die Befehle kamen von Oben, aber ausgeführt habe die Befehle doch sie, sagte sie ganz direkt. Im hohen Alter setzt sie sich jetzt nur noch für Paare ein, die Probleme haben, Kinder zu bekommen. Sie hofft, dass sie ihre Schuld dadurch wiedergutmachen kann. In einem Raum zeigt sie die Bilder all der Kinder, die mit ihrer Hilfe auf die Welt gekommen sind…

Wer die Geschichte Chinas etwas kennt, der weiß, dass diese Nation oft traumatisiert wurde. Alleine der Terror unter Mao hinterließ überall traumatisierte Menschen und natürlich Millionen Tote. Der o.g. Bericht zeigt ein weiteres kollektives Trauma auf. Besonders fatal: All dies darf und kann in einer weiterhin bestehenden Diktatur nicht aufgearbeitet werden. Hinzu kommt ein hohes Ausmaß von körperlicher und psychischer Gewalt gegen Kinder im Elternhaus (Early childhood exposure to non-violent discipline and physical and psychological aggression in low-and middle-income countries: National, regional, and global prevalence estimates / siehe Figure 3. Estimated proportion of 2- to- 4-y-olds exposed to physical aggression in LMICs + Figure 4 / + Gewalt gegen Kinder im Elternhaus ist weiterhin legal in China: siehe entsprechenden Länderreport + weitere Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder hier).

Da sich die chinesische Gesellschaft ökonomisch und technisch rasant entwickelt hat und die Menschen dadurch auch ein Stück weit zur Ruhe kommen (nicht mehr im Existenzkampf sind), befürchte ich, dass die kollektiven Traumata irgendwann mit einem großen Knall nach oben kommen. Eine solche Trauma-Geschichte lässt sich auf Dauer nicht kollektiv verdrängen. Ich hoffe sehr, dass dieser Knall nicht wiederum mit Gewalt endet.

2 Kommentare:

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Zum Thema Kulturrevolution: Das Video hier ist leider etwas Verschwörungstheoretisch und religiös, und ein wenig theosophisch geprägt. (Und Theosophen sind ein wenig bekloppt, um es vorsichtig zu sagen.) Dieses Video gibt aber einen sehr guten Überblick, was Mao gemacht hat und wie widerlich seine Revolution war:

https://www.youtube.com/watch?v=Led0Un9uiIc

Die bezeichnen/beschimpfen Mao auch ständig als Satanisten. Man kann aber auch verstehen, warum.

Ganz ehrlich. Mao und seine Leute toppten in deren kranken Wahn oft sogar Hitler. Das ist echt schon gruselig, wie abartig Mao war.

Besonders dessen Vorgehen, dass man Verbrecher öffentlich zu tode foltert, während kleine Kinder dazu ein Ständchen singen müssen, war wirklich mehr als krank. Oder dass Maos Leute verhungernden Bauern empfohlen hatten, ihre eigenen Kinder zu kochen.

Ich dachte, ich hätte schon viel Abartiges gehört und sei ziemlich abgeklärt, Maos Kulturrevolution schockt mich aber immer noch extremst.

Nur, damit Du auch meine Positionen vielleicht was Besser verstehst: Mao Tse Tung ist einer der Hauptgründe, warum ich die Ideologie des "gesellschaftlichen Fortschritts" und dass man "alte Traditionen" im Namen dieses angeblichen Fortschritts dringend abschaffen müsste, so sehr ablehne.

Maos Ziel war es ja gerade, die "vier Altertümer", also alles, was die chinesiche Tradition aus macht, zu beseitigen, um platz für seinen heiß ersehnten Fortschritt zu schaffen. Davor haben die Soviets Massaker verübt im Namen des Fortschritts und davor Robespierre und die französische Revolution.

Der Fortschritt war mit Abstand immer die beliebteste Ausrede, um Barbarei und Blutbäder zu veranstalten.

Ulrike Vetten hat gesagt…

Auf YouTube gibt es verschiedene Dokus, die sich mit dem Thema befassen, wenn man "1-Kind-Politik" eingibt, bei denen schon die Überschrift einiges aussagt:"Chinas mörderische Einkindpolitik -Generation Einzelkind","China - geboren ohne Recht auf Leben"," China:Prügel und 200.000RMB als Strafe für zweite Schwangerschaft","Die Babyretterin von China","Mädchentötungen in Indien und China","Chinas Schande - die Kinder der Gehenkten, "Zurückgelassen - Kinder Chinas","Chinas verkaufte Kinder", "Kinder-Handel in China als Folge der Einkindpolitik". "Chinas gestohlene Mädchen", "Chinas verbotene Kinder", "Die Ein-Kindpolitik in China und die brisanten Folgen" und zuletzt:"Chinas einsame Söhne". "Singles in China","Frauenhandel in China" und "Chinas Bevölkerung altert zu schnell".
Dann gibt es noch einige Dokus darüber, dass China die strenge Ein-Kind-Politik abgeschafft hat (2017, glaube ich)

All diese Probleme mit Geburtenkontrolle, zwangsweise Sterilisationen und Abtreibungen, Mädchentötungen, Mädchenraub, Männerüberschuß und Zwangsprostitution (manchmal "kauft" sich ein Dorf mit erheblichem Frauenmangel eine Frau als Dorfprostituierte - nur, dass sie dafür kein Geld bekommt, sondern lediglich leben darf und den Männern zur Verfügung zu stehen hat)gibt es auch in Indien. Auch darüber gibt es zahlreiche Dokumentationen.

Was den "Fortschritt" angeht, stimme ich meinem Vorschreiber zu.
Es reicht nicht, nur zu sehen, dass die Menschen früher "arm" waren, und im Laufe des "Fortschritts", zumindest zu größeren Bevölkerungsanteilen, nicht mehr ums Existenzminimum kämpfen müssen.
Dazu gehört schon auch die Frage, warum die Menschen früher so ums Existenzminimum kämpfen mussten.
Der Grund lag meistens nicht in mangelndem "Fortschritt", sondern in streng hierarchischen, unterdrückerischen Gesellschaftsformen, in denen diejenigen, die für die Existenzsicherung der Bevölkerung sorgten, nämlich die Bauern, keinen Landbesitz hatten und in Leibeigenschaft/auf dem Besitz anderer nicht nur für sich arbeiten konnten, sondern eine prassende adelige Elite, die Verwaltungsebene, die Religionsführer und die Krieger/das Heer mit durchfüttern mußten.
Menschen, die in egalitären Gemeinschaften auf einem ihnen zur Verfügung stehenden Land in genügend Größe leben, schaffen es meist, ihre Existenz zu erhalten, ohne sich darbend zu Tode zu arbeiten.
Dafür gibt es viele Beispiele selbst in unwirtlichsten Gebieten der Erde. Die Menschen sind sehr anpassungsfähig und erfinderisch und brauchen nicht unbedingt das, was wir so unter "Fortschritt" verstehen, um gut zu leben.
Nur da, wo eh schon Verelendung aufgrund autoritärer und hierarchischer Strukturen, aufgrund Verteilungskämpfen und Krieg herrschten, da kann der "Fortschritt" (selbst wenn er gewaltsam über die Menschen kommt) eventuell noch etwas besser machen, zumindest für einen Teil.
Allerdings geht der Fortschritt, den wir zur Zeit betreiben, auch meist mit der völligen Ausbeutung und Totalvernichtung der Natur einher, was wiederum im Endeffekt zu noch größerer Verelendung führt.