Mittwoch, 27. Mai 2020

Kindheit von Richard Nixon


In meinem Buch habe ich die Kindheit des früheren US-Präsidenten Richard Nixon nur mit einem Satz kommentiert: „Richard Nixon (1913-1994) wurde häufig von seinem Vater getreten“ (S. 223). Meine Quelle für diesen Satz war Lloyd deMause. Ich fand damals keine Zeit für weitere Recherchen über Nixon. Ich hole dies hiermit nach.

Meine Quelle für Nixons Kindheit ist: Farrell, John A. (2017): Richard Nixon: the life. Doubleday, New York. (Kindle Ausgabe)

Richards Vater – genannt „Frank“ - litt unter blutigen Geschwüren. Farrell kommentiert gleich im Folgesatz, dass Franks Frau Hannah (Richards Mutter) überarbeitet war und auch Nervenzusammenbrüche hatte. Manchmal zog sie sich deshalb in ihr Elternhaus zurück und ließ ihre Kinder von bezahlten Hausangestellten bzw. "Kindermädchen" versorgen (Farrell 2017, S. 47).

Die familiäre Atmosphäre war aber nicht nur dadurch gestört. „The household was noted, however, for its physical and emotional severity. Frank and Hannah loved their sons, but theire was a time when children got whippings, at times with belts, sticks or switches“ (Farrell 2017, S. 47).
Der Autor schließt in dem zuvor genannten Satz auch die Mutter ein. Ob die Mutter auch körperliche Gewalt ausübte, erschließt sich im Text allerdings nicht. Aggressor war den Berichten folgend vor allem der Vater, der seine Söhne häufig misshandelte und auch anbrüllte. Eine Situation ist überliefert, in der Frank seine Söhne zurück in einen Kanal schleuderte. „Frank! Youˈll kill them!“, rief eine besorgte Tante der Kinder daraufhin (Farrell 2017, S. 47). Ein ehemaliger Nachbar berichtete bzgl. Körperstrafen gegen die Kinder ebenfalls, dass Frank ein aufbrausendes Temperament und seine Emotionen nicht immer unter Kontrolle hatte.

Die Mutter habe all ihren Ärger für sich behalten (und zog sich wohl auch sehr ins religiöse Quäkertum zurück). Aber auch liebevolle Zuneigung fiel ihr offensichtlich schwer. Richard Nixon sagte einmal: „In her whole live, I never heard her say to me, or to anyone else, ˈI love youˈ“ (Farrell 2017, S. 47). Sie sei ebenso „explosiv“ gewesen wie ihr Ehemann, nur ins Innere gerichtet. Ihre Kinder strafte sie durch Distanz und Rückzug. Richards Bruder Arthur sagte daraufhin einmal: „I just canˈt stand it, tell her to give me a spanking“ (Farrell 2017, S. 48).

Auch weitere Belastungen spielten in Kindheit und Jugend von Richard Nixon eine Rolle. Im Alter von 6 Monaten hatte er Anfälle von Masern und Cholera und später eine ernste Lungenentzündung. Als Dreijähriger fiel er von einem Pferdewagen und zog sich eine ernste Kopfverletzung zu, so dass seine Mutter zunächst befürchtete, ihr Kind wäre gestorben (Farrell 2017, S. 49). Als Zwölfjähriger musste Richard erleben, wie sein jüngerer Bruder Arthur an Tuberkulose starb. Etwas später erkrankte auch der ältere Bruder Harold, der allerdings sechs Jahre mit der Krankheit kämpfte. Harold starb, als Richard 20 Jahre alt war. (Farrell 2017, S. 55f.). Die Sorge um die restlichen Familienmitglieder war in dieser gesamten Zeit groß, auch sie hätten erkranken können. Farrell merkt an, dass Richards Jugendjahre zwischen dem 12. und 20. Lebensjahr von Horror durchtränkt waren.
Richard stürzte sich in Arbeit und Leistung. Seine Mutter meinte später, dass er sich schuldig gefühlt hätte, weil er überlebt hatte. Sein Leistungsstreben deutete sie dahingehend, dass er wie drei Söhne sein wollte (Farrell 2017, S. 56).

Montag, 25. Mai 2020

Kindheit von Uwe Böhnhardt


In meinem Buch (S. 195f.) habe ich bereits etwas über die Kindheit des Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt (Mitglied des Nationalsozialistischen Untergrund - NSU) geschrieben: Ein zentrales Kindheitstrauma war der Tod seines Bruders. 1988 starb Uwe Böhnhardts älterer Bruder unter ungeklärten Umständen. Unbekannte legten den fast 18-jährigen Peter Böhnhardt tot vor die Haustür der Familie. Zu dem Zeitpunkt war Uwe Böhnhardt elf Jahre alt. Zur selben Zeit fiel Uwe im Schulhort bereits dadurch auf, dass er Konflikte mit Gewalt lösen wollte.
   Als Jugendlicher entglitt Uwe seinen Eltern schließlich komplett. Diese holten sich Hilfe beim Jugendamt und beantragten einen Platz für Uwe in einem Kinderheim. Nach kurzer Zeit flog er allerdings dort raus. In der Folge kam er auf eine Lernförderschule, auch dort flog er raus, nachdem er in die Schule eingebrochen war und einen Computer geklaut hatte.
   Ich hängte dem noch an, dass ich weitere Belastungsfaktoren vermute. Durch eine neue Quelle bin ich jetzt in der Tat auf weitere Belastungsfaktoren gestoßen: Quent, M. (2019): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa, Weinheim (2. überarbeitete und erweiterte Auflage).

Matthias Quent berichtet, dass der damals 15-Jährige Uwe Anfang 1993 in Jugendhaft saß. Dabei erlebte Uwe sexuelle Misshandlungen mit einem Besenstiel von Mitgefangenen mit. Seine Mutter sagte aus, dass Uwe in Haft auch selbst auf diese Weise sexuell misshandelt worden sei (Quent 2019, S. 299). In der neuen Quelle findet sich auch noch ein wenig etwas über die Eltern. Uwes Mutter wurde in einem früheren Prozess vom Gericht als „dominant“ eingeschätzt. Uwes Bruder sagte in einer Vernehmung, dass sein Bruder nie von seinen Eltern geschlagen worden sei. Den Erziehungsstil seiner Eltern würde er als „normal und streng“ einsortieren  (Quent 2019, S. 299). Was der Bruder als „normal“ definiert, müsste man ihn fragen. Bei diesem Wort wäre ich erfahrungsgemäß vorsichtig. Was für die einen „normal“ ist, weil sie es selbst so erlebt haben, kann für Außenstehende alles andere als „normal“ sein. Das Wort "streng" macht bereits hellhörig!

Da die Böhnhardts in der DDR lebten und sozialisiert wurden, die Mutter voll berufstätig und zudem Lehrerin im DDR-System war, kam ich erst jetzt auf den Gedanken zu recherchieren, ob Uwe auch in eine Krippe gegeben wurde. Und tatsächlich, ein SPIEGEL-Artikel (20.11.2013, Brigitte Böhnhardt im NSU-Prozess. Erinnerungen an den verlorenen Sohn) bestätigt, dass Uwe sowohl in einer Krippe, als später auch im Schulhort war. Das autoritäre DDR-Erziehungssystem hat jüngst der Kinderarzt Herbert Renz-Polster in einen Zusammenhang zur verbreiteten rechten Gesinnung in Ostdeutschland gebracht.  Die Frage ist, wie alt Uwe war, als er in die Krippe kam? War er noch ein Säugling oder schon Kleinkind (das macht bereits einen Unterschied bzgl. Belastungen und den möglichen Folgen daraus)? Wie lange war er tagsüber in der Krippe? Und ganz wesentlich: Welchen Erziehungsmethoden und welchem Rahmen war er dort ausgesetzt? Ich vermute hier deutlich Belastungen.
   Im Zusammenhang zu den Krippen- und Hortaufenthalten fällt auch eine Einschätzung der Richter aus dem früheren Prozess gegen Uwe ins Auge: Der verstorbene Bruder sei für Uwe die „wichtigste familiäre Bezugsperson“ gewesen (Quent 2019, S. 298). Der Bruder, nicht die Eltern. In dem oben zitierten SPIEGEL-Artikel heißt es, dass die zwei älteren Brüder sich rührend um den Jüngsten gekümmert und ihn aus Krippe und Hort abgeholt hätten. Wo aber waren die Eltern?

Am Ende meines Berichts über Böhnhardts Kindheit schrieb ich in meinem Buch: „Über den Erziehungsstil seiner Eltern fand ich keinerlei Informationen. Ich denke, dass zumindest ein sehr konfliktbeladenes Verhältnis sehr deutlich wird. Meiner Auffassung nach reicht dies alleine aber nicht aus, um einen derart mörderischen Hass bei einem Menschen zu generieren. Ich vermute weitere Belastungsfaktoren.“ Es wird an Hand der nun neu hinzugefügten Informationen deutlich, dass ich mit meiner Einschätzung wohl nicht ganz falsch lag. Die Missbrauchserfahrungen im Gefängnis waren sicherlich traumatisch für den 15-Jährigen. Elterliche Vernachlässigung deutet sich zumindest an. Der Aufenthalt in einer DDR-Krippe ist dagegen belegt.

Insgesamt wird an dem Fall Uwe Böhnhardt (genauso wie beim Fall Zschäpe) deutlich, dass diese Art von Biografien von Rechtsextremisten keine Zufälle sind. Vielmehr zeigt die Studienlage immer wieder auf ähnliche destruktive Kindheitsmuster bei Extremisten. Beim Fall Böhnhardt (auch das ist sicher kein Einzelfall) wird auch deutlich, wie dieser Mensch bereits in der Kindheit auffällig war und Stück für Stück immer auffälliger wurde, immer mehr abglitt, trotz der Aufmerksamkeit und Intervention von Schule, Polizei, Justiz und Jugendamt. Der Fall zeigt also auch auf, dass viel mehr getan werden muss, wenn Kinder/Jugendliche abdriften, delinquent und auffällig werden. Umfassende Hilfen sind hier wichtig, die Zeit in Jugendhaft dagegen hätte man Uwe wohl besser erspart, um das Gesamttraumapaket nicht noch weiter aufzublasen.

Mittwoch, 20. Mai 2020

Steht der Glaube an Verschwörungstheorien in einem Zusammenhang zu (destruktiven) Kindheitserfahrungen?


Durch die Ereignisse rund um die Corona-Pandemie ist aktuell das Thema „Verschwörungstheorien“ medial breit auf den Tisch. Ich selbst habe zu diesem Thema eine ganz eigene „Theorie“.

Erinnern wir uns an dieser Stelle an die psychoanalytischen Arbeiten von Arno Gruen und dabei vor allem an sein Buch „Der Fremde in uns“. Kaum jemand hat die Verneblung der eigenen Wahrnehmung auf Grund erlittener Destruktivität in der Kindheit derart deutlich auf den Punkt gebracht wie Gruen.  Ich habe Gruens Analyse in meinem Buch auf Seite 320 wie folgt zusammengefasst:
„Kein Kind kann in dem Bewusstsein existieren, dass die Menschen, auf die es physisch und psychisch existentiell angewiesen ist (die Eltern), seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig oder gar grausam und unterdrückend gegenüberstehen. Diese Angst wäre, so Gruen, unerträglich, ja sogar tödlich. Ein Kind, das von seinen Eltern angegriffen wird und dessen Bedürfnisse frustriert werden, muss sich, um zu überleben, mit den Eltern arrangieren. Dazu wird das Eigene (vor allem eigene Empfindungen, Sicht und Empathie) als etwas Fremdes abgespalten, denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist dies die eigene Schuld des Kindes und der Angriff geschieht zu dessen Wohle. Alles, was dem Kind eigen ist, wird somit abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors (das Eigene wird gehasst). Die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und die eigene Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern veranlassen könnten, dem Kind die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist die Identifikation mit den Eltern (bzw. den Aggressoren), das Übernehmen deren Werte, die Unterwerfung unter deren Erwartungen und eine schwammige, ungefestigte und unsichere Identität, die durch das Fremde, nicht das Eigene bestimmt ist.“

Was bringt uns Gruens Analyse nun bezogen auf das Thema „Verschwörungstheorien“? Das Grundthema, das Menschen, die in ihrer Kindheit (vor allem durch Elternteile) viel Destruktivität erlitten haben oder auch traumatische Erfahrungen gemacht haben, ist das Thema Wahrnehmung. Oder besser gesagt: Verschwommene Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen oder auch fehlendes Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Das Ausblenden von Realitäten war einst ein Überlebensmechanismus in der Kindheit. Bei massiven Verletzungen werden diese traumatischen Erlebnisse und vor allem die entsprechenden Gefühle häufig sogar gänzlich vom Bewusstsein abgespalten. Wenn diese Kindheitserfahrungen später nicht psychotherapeutisch aufgearbeitet werden, besteht die Gefahr, dass die Selbst- und Fremdwahrnehmung und das Erfassen der Realität um einen herum weiterhin vernebelt bleibt.
   Das sind Erkenntnisse, die nicht nur Arno Gruen gemacht hat, sondern diese Erkenntnisse gehören i.d.R. um Standardwissen von Psychotherapeuten, Traumaexperten oder von sonstigen Fachleuten, die mit traumatisierten Menschen arbeiten. Das Grundthema von derart belasteten Kindern bleibt auch im Erwachsenenalter häufig die Frage nach Realitäten: War meine Kindheit schön oder schlecht? Stimmen meine Erinnerungen? Waren meine Eltern wirklich so böse? Was darf ich fühlen? Was fühlte ich als Kind? Was fühle ich überhaupt? Wer meint es gut mit mir und wer nicht? Vor wem muss ich Angst haben? Wer bin ich eigentlich? Was war heute, was ist jetzt und was war gestern? 

Ich würde dem noch anschließen, dass im tiefen Bewusstsein von Menschen, die als Kind vor allem durch die eigenen Eltern massiv verletzt wurden, die eigentlichen realen Erlebnisse gespeichert sind. Der Zugang dazu ist allerdings oft versperrt oder vernebelt. Nicht selten pflegen von ihren Eltern misshandelte Menschen als Erwachsene sogar ein nach außen hin scheinbar gutes Verhältnis zu den Eltern. Aber irgendetwas stimmt doch nicht: Irgendetwas ist doch da, was mich manipuliert, mich zersetzt, mich unterdrückt, mir etwas vorspielt, mich von meinem eigentlichen Sein abhält
   Arno Gruen nannte dies: „Der Fremde in uns“. Traumaexperten sprechen eher von Täterintrojekten.

Das Problem ist (das war Gruens Antrieb, darüber zu schreiben), dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass der Blick auf Andere (ab)gelenkt wird. Hass und Schuldvorwürfe treffen dann nicht auf die eigentlichen Verfolger aus der Kindheit (meist destruktive Eltern), sondern auf Fremde, Ausländer, Juden, Homosexuelle, Minderheiten usw. Dies ist bzgl. Rechtsextremisten sehr gut empirisch belegt (siehe diverse Studien zum Thema Kindheit von Rechtsextremisten im Inhaltsverzeichnis oder zusammengefasst auch hier am Ende des entsprechenden Beitrags). Was bisher nach meinem Kenntnisstand wenig erforscht ist, ist die Frage, ob Kindheitshintergründe und entsprechende Gefühle und auch Wahrnehmungsverzerrungen bei den Anhängern von Verschwörungstheorien eine Rolle spielen. Dabei ist dieser Gedanke doch naheliegend!

Wer sich innerlich manipuliert, unfrei und zerrissen fühlt, wer eine vernebelte Wahrnehmung hat, der könnte doch u.U. einen anderen Weg einschlagen, als dies Rechtsextremisten tun. Schuld an der eigenen Misere ist dann „Mutti“ Merkel, die wiederum die Marionette von Bill Gates sein soll. Schuld sind dann irgendwelche Geheimbünde, Schattenbanken, fremde Mächte, Strahlen und was weiß ich nicht alles. Wobei auch nicht vergessen werden darf, dass die Sicht von Extremisten oft auch diese Verschwörungs-Weltbilder beinhaltet (klassisch mit Blick auf die angeblich jüdische Weltverschwörung, aber ergänzend auch mit abstrusen Weltbildern extremistischer Einzeltäter a la Anders Breivik & Co.) Dass man als "Verschwörungstheoretiker" in der Folge ein Gefühl von Macht und Kontrolle bekommt (da ja nur er/sie weiß, wie die Welt wirklich tickt!!), könnte man auch als Abwehrkampf gegen die alte Ohnmacht und den Kontrollverlust aus der Kindheit deuten. Wie auch immer, es ist jedenfalls offensichtlich, dass irrationale Motive bei den Verschwörungstheorien eine gewichtige Rolle spielen. 

Die naheliegende und hoch spannende Frage lautet also: Haben destruktive Kindheitserfahrungen etwas mit dem Glauben an Verschwörungstheorien zu tun? Aus der Forschung kommen da zwei Studien, die diese Frage ein Stück weit beantworten:
  • Eine Studie (zwei Befragungen mit 246 und 230 Teilnehmern) zeigte, dass negative Kindheitserfahrungen bzw. ein erlebter ängstlicher Bindungsstil (gemäß der Bindungstheorie) in einem Zusammenhang zum Glauben an Verschwörungstheorien stehen: Green, R. & Douglas, K. M. (2018): Anxious attachment and belief in conspiracy theories. In: Personality and Individual Differences. Volume 125, S. 30-37.
  • Eine andere Studie (5.645 Befragte von denen 1.618 an Verschwörungen glauben) fand ebenfalls Kindheitseinflüsse bezogen auf den Glauben an Verschwörungen. Die Forschenden schreiben:„Those individuals who endorsed the conspiracy belief item were more likely to have had potentially disruptive parental experiences during childhood such as not living with both biological parents, living away from home for an extended time, and often experiencing violence“ (Freeman, D., & Bentall, R. P. (2017): The concomitants of conspiracy concerns. In: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 52(5), S. 595-604.).

Wie schon oben erwähnt, würde ich ergänzend diverse Befragungen von Extremisten über deren Kindheitserfahrungen anführen, da Extremisten nach meinem Eindruck zu Verschwörungstheorien neigen. Diese Studien bestärken die Vermutung, dass Kindheitserfahrungen und Verschwörungstheorien in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Ich habe ergänzend etwas über die Kindheit von einigen bekannten "Verschwörungstheoretikern" (die teils auch aktuell in den Medien Thema sind) recherchiert. Und ich wurde auch fündig (wer mag, muss nur einige Namen und Suchbegriffe wie Kindheit, Biografie, Trauma etc. eingeben und lese dann selbst. Teils wurden von den Akteuren furchtbare Kindheitserfahrungen öffentlich gemacht). Ich bin normalerweise ja sehr offen mit meinen Biografieforschungen. Bei diesem Thema zensiere ich mich allerdings selbst und nenne keine Namen. Ich befürchte durch diesen Beitrag eh schon eine gewisse Gegenreaktion und böse Briefe. Ich möchte diese meine Gedanken zur Diskussion stellen und nicht von "Fangemeinden" und Followern mit Hass und Hetze überschüttet werden, für solchen Kram habe ich einfach keine Zeit.

Mittwoch, 13. Mai 2020

Kritische Rezension des Buches "Kindheit 6.7" von Michael Hüter


Ein aktueller Artikel der Stiftung Zu-Wendung für Kinder, in dem meine These vom stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder und auch mein optimistischer Blick auf die Zukunft und positive Entwicklungen den eher pessimistischen Thesen von Michael Hüter gegenübergestellt wurden, motivierte mich sehr dazu, das Buch Kindheit 6.7 von Michael Hüter (2018 in dem von Hüter gleichzeitig gegründeten Verlag Edition Liberi & Mundo erschienen) zu lesen. Das Buch an sich hatte ich schon früher wahrgenommen. Jetzt folgt also meine recht kritische Rezension.

   Noch ein Wort vorweg: Ich hoffe sehr, dass meine Rezension nicht als „Hahnenkampf zwischen Männern“ aufgefasst wird. In dem o.g. Artikel wurden meine und seine Sichtweisen gegenübergestellt, was nicht meine Idee war. Mir geht es nicht darum, diese Gegenüberstellung aus Eitelkeit zu „gewinnen“. Meine Motivation, etwas über Hüters Buch zu schreiben, resultiert viel mehr aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus, denn ich halte seine Thesen zum Teil für kontraproduktiv. Und: Hüter vertritt seine Sichtweisen relativ laut und findet auch Gehör. Hüter tauchte z.B. mehrfach als Interviewpartner für die Verschwöhrungstheorienplattform KenFM auf. Aber auch Focus-Online hat breite Gastkommentare von Hüter veröffentlicht. In einem Focus-Artikel  (09.04.2020: Kindheitsforscher warnt: Hört auf, eure Kinder in Kitas zu geben!) schreibt Hüter u.a.: „Noch nie in der Geschichte der Menschheit – außerhalb von Kriegszeiten – erging es der großen Mehrheit an Kindern seelisch und emotional – man mag es auch psychisch nennen – so schlecht wie heute.“
   Das ist der zentrale Befund, der auch sein Buch durchzieht. Die wesentliche Ursache für diese von ihm ausgemachte Situation für Kinder sieht er vor allem in der frühen „Weggabe“ von Kindern in Krippen, Kitas und später auch (Ganztags-)Schulen. Der oben zitierte Satz lädt dazu ein, kritisch hinterfragt zu werden. Was mich vor allem interessiert hat war, welche Datengrundlage Hüter für seine steile und auch anklagende These zu bieten hat.

   Sein Buch sei „jahrelang investigativ recherchiert“, steht in der Inhaltsangabe. Im Untertitel des Buches steht „Ein Manifest“. Hüter selbst wird u.a. als Kindheitsforscher und Historiker vorgestellt. In Anbetracht dieses Vorspanns sollte man davon ausgehen, dass der Autor sich gründlich auf viele wissenschaftliche Erkenntnisse, Daten und Veröffentlichungen bezieht, um sein Manifest zu untermauern. Dem ist aber zu meinem großen Erstaunen nicht wirklich der Fall. Nur 76 Bücher sind im Literaturverzeichnis angegeben, darunter vor allem Erziehungsratgeber, Pädagogikbücher und zum nicht unwesentlichen Teil auch so etwas wie Lebensberichte, Romane oder einzelne philosophische Arbeiten. Forschungsarbeiten von Wissenschaftlern finden sich kaum. Wissenschaftliche Fachartikel aus entsprechenden Journalen und Fachzeitungen findet man gar nicht. Ebenso findet man im Verzeichnis keine Verweise auf naheliegende Datenquellen wie Forschungsinstitute, Statistikportale, Bundesministerien, Kinderschutzorganisationen oder Organisationen wie der WHO. Dies alles erstaunt. Das Literaturverzeichnis alleine deutet also auf eine dünne Datengrundlage hin, was sich bei der Lektüre des Buches auch bestätigt. 

   Im Inhaltsverzeichnis steht folgendes: „Wir haben in der gesamten industrialisierten Welt den Blick für die Kompetenzen von Kindern verloren und eine Welt erschaffen, die gegenwärtig etwa 50 Prozent(!) der Kinder krank und viele junge Menschen buchstäblich verrückt werden lässt.“ Diese Textstelle findet sich so auch im Buch auf Seite 14.
   Auch die erste Seite des Vorspanns beginnt mit einem pessimistischen Blick auf die Situation von Kindern und Jugendlichen: „Bereits über 5o Prozent aller heranwachsenden Kinder in Deutschland und Österreich (und auch andernorts) zeigen nicht altersadäquate Auffälligkeiten oder Defizite. Entweder im somatischen Bereich (Adipositas/Magersucht), im Bereich sozialer Kompetenzen (Sozialisierungsmängel, Regelabsentismus, Beziehungsarmut), oder motorischer und kognitiver Kompetenzen. Hinzu kommt ADHS, immer früher einsetzender regelmäßiger Alkohol- und Drogenkonsum, und schließlich auch noch (vereinzelt schwere) Gewalt- und Kriminaldelikte, manchmal schon von 12 und 13-Jährigen. Das alles wird bei Kindern unter 14 Jahren in einem breiten Ausmaß beobachtet und festgestellt. Zweifelsohne ist dies alles mehr als alarmierend“ (S. 11). Immerhin wird an dieser Stelle deutlicher, was Hüter in diesem Kontext eigentlich unter „krank“ und „verrückt“ versteht. 

   Vor allem im ersten Kapitel werden dann auch einige Zahlen und auch Quellen genannt (die o.g. Aussagen wurden vorher in den Raum gestellt). Im gesamten ersten Kapitel, das einleitend die katastrophale Situation der Kinder deutlich machen soll, bedient sich der Autor häufig bei Zeitungsartikeln (vor allem aus dem KURIER). Zwischendrin werden allerdings immer wieder auch Zahlen und Daten aufgeführt und auch Feststellungen gemacht, ohne dass dafür Quellen genannt werden. Beispiele: Auf Seite 19: Raufunfälle im Jahr 2005 = 95.000 (ohne Quelle!);  auf Seite 21: Ca. 24 bis 28 % der Kinder in Deutschland und Österreich im Alter zwischen 7 bis 14 Jahren seien übergewichtig (ohne Quelle!); Seite 33: 60 % der Lehrer stünden vor dem psychischen und physischen Kollaps (ohne Quelle!).
   Im weiteren Textverlauf finden sich dann Sätze wie diese, die sich auf „verschiedene Berichte von Lehrern, Direktoren, Pädagogen und Psychologen“ beziehen würden: „Alle, die ihren Beruf schon Jahrzehnte ausführen, stellen zumeist im Nebensatz oder als Schlussbemerkung fest: Vor 30 Jahren habe es alle diese Verhaltensauffälligkeiten und Defizite der Kinder (Schüler) nicht gegeben. Keiner sagte, vor 10 Jahren, vor 20 Jahren oder 40 Jahren. Ziemlich präzise bemerken alle, vor 30 Jahren gab es alle diese Defizite und Auffälligkeiten unserer Kinder, die im ersten Teil meines Essays beschrieben wurden, noch nicht oder marginal“ (S. 38). Und wieder: keine Belege und Quellen dafür! Dabei geht es hier doch um DIE zentralste These des Autors, nach der früher vieles besser und heute alles so schlimm wie nie wäre.

   Insofern fasse ich meine Grundkritik an dem Buch hier schon einmal als Zwischenstand wie folgt zusammen: Hüter arbeitet häufig unwissenschaftlich, unpräzise und tendiert zu Mutmaßungen oder der Verallgemeinerung von einzelnen Zeitungsberichten.

   Ich komme jetzt zu einem weiteren Kritikpunkt: Hüter sucht sich Zahlen heraus, die sich schlimm anhören und setzt sie in der Folge nicht ins Verhältnis oder geht auf Trends ein. Ein Beispiel: Der Autor nannte ja wie oben erwähnt die Zahl von 95.000 Raufunfällen im Jahr 2005 (gemeldete Fälle von Unfällen und Frakturen an die Unfallversicherung auf Grund von Schülerraufereien). Ich selbst fand für das Jahr 2007 die absolute Zahl von 88.704 Raufunfällen („Achtung in der Schule – Unterrichtsmaterial zur Gewaltprävention“). Ich gehe insofern davon aus, dass die von Hüter genannte Zahl für 2005 ungefähr stimmt. Nun zeigt die Datenlage, dass seit Jahren sowohl die absoluten Zahlen an Raufunfälle, als auch die Zahlen pro 1.000 Schüler stetig rückläufig waren. So hat die Häufigkeit von „Raufunfällen“ je 1.000 versicherte/r Schüler/innen vom Höchstwert im Jahr 1999 (14,9) bis 2015 (8,7) um 41,7 % abgenommen (2018: Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, S. 21) Auf der Homepage der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen findet man auch eine eindrucksvolle Grafik dazu.
   Noch nie war es bezogen auf Raufunfälle so sicher auf dem Schulhof wie heute! Hüter setzt dagegen im Verlauf des Buches noch einen obendrauf, indem er schreibt, dass Deutschland gemessen an der Einwohnerzahl mit (schwerer) Gewalt an Schulen führend sei (S. 296).

   Noch ein Beispiel: Hüter geht auf Seite 19 auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen ein und stellt auf den ersten Blick schlimme Zahlen und Sachlagen fest. Auch hier stellt er keine Trends vor. Dagegen zeigen die Daten von dem Kriminologen Christian Pfeiffer und Kollegen: „Der Anteil Jugendlicher Raucher ist demnach seit 1997 kontinuierlich von 28,1 auf 7,8 % um fast drei Viertel gesunken. Zum Alkoholkonsum zeigt sich zunächst ein Aufwärts-, dann ein starker Abwärtstrend. 1997 gaben 14,6 % der Jugendlichen an, mindestens wöchentlich Alkohol zu trinken; dieser Wert steigt bis 2007 auf 21,6 % an, um anschließend auf 10,0 % zu sinken. Das Rauschtrinken, das umfasst, dass zu einer Trinkgelegenheit mindestens fünf alkoholische Getränke konsumiert werden, wird erst seit 2004 erfasst. Von 2007 bis 2015 ist der Anteil an Jugendlichen, die in den zurückliegenden 30 Tagen mindestens einmal Rauschtrinken praktiziert haben, von 25,5 auf 12,5 % gesunken, hat sich also innerhalb dieser kurzen Zeit halbiert“ (Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, S. 50) Im Jahr 2015 hatten wir also den bisher niedrigsten gemessen Wert von Rauchern, regelmäßigen Alkoholkonsumenten und Rauschtrinkern unter Jugendlichen in Deutschland überhaupt! Es steht bzgl. Rauschverhalten also so gut wie nie um die Jugend.

   Es gibt diverse weitere positive Trends (deutlicher Rückgang der Jugendkriminalität z.B.) bzw. Belege dafür, dass die aktuelle Situation der Kinder in Deutschland nicht katastrophal ist, die ich hier Hüter weiter entgegenhalten könnte. Aber sparen wir uns das; ich verweise an dieser Stelle stattdessen gerne auf das Buch „Die Modernisierung der Seele: Kind-Familie-Gesellschaft“ von dem Soziologen und Entwicklungspsychologen Martin Dornes, der sehr fakten- und zahlenbasiert recherchiert und gearbeitet hat. Es wird deutlich, dass Hüters Bild von wegen „alles ist heute so schlecht wie nie“ sehr große Risse bekommt, wenn man sich seine Quellen und seine Herangehensweise genau anschaut.

   Durch diese Feststellung bröckelt auch eine weitere These des Autors. Nämlich seine These, dass die Verschulung von Kindheit zu eben diesen Missständen (die bei genauer Betrachtung oft gar nicht so „miss“ sind) führen würde. Oder anders gesagt: Würden alle Kinder nur in ihren Familien sozialisiert, würde alles besser werden. Das an sich ist eine sehr vereinfachte Sicht auf die Welt. Sie blendet all die Gewalt und Demütigungen aus, die Kinder nachweisbar seit vielen Jahrhunderten in ihren Familien erlebten. Und bezogen auf heute blendet diese Sicht komplett die sehr heterogenen Familienverhältnisse aus. Viele Familien können ihren Kindern zu Hause gar keine Anregungen, kein Entdecken der Welt und keine Bildung bieten; aus zeitlichen, ökonomischen, intellektuellen, sprachlichen, krankheitsbedingten, kulturellen oder sonst wie gelagerten Umständen heraus. (Nicht jede Familie hat die Möglichkeiten und Mittel, die die Familie Stern hatte, auf die auch Hüter in seinem Buch gerne verweist. Der vielfach begabte André Stern ging nie zur Schule. Bei genauer Betrachtung ist der fehlende Schulbesuch aber gar nicht der zentrale Punkt, sondern das Umfeld, das seine Familie schuf bzw. hatte und die zugewandte Art dem Kind gegenüber.)

   Die Schule ist DIE Chance für alle Kinder, die keine Bilderbuchfamilie haben und das sind nicht wenige. Die Schule ist auch DIE Chance, um Ungleichheit ein Stück weit zu bekämpfen. Die Schule ist auch eine wesentliche Möglichkeit für Kinder, heute überhaupt auf andere Kinder zu treffen. Bei der niedrigen Geburtenrate und überalterten Gesellschaft muss man Kinder in der Nachbarschaft schon manchmal mit der Lupe suchen und findet selbst dann oftmals keine Kinder (ich spreche da bezogen auf meine Familie aus Erfahrung).

   All die Defizite, die es heute sicherlich an Schulen gibt, will ich nicht ausblenden. Viele Defizite sind mir bewusst, ich sehe aber auch die Fortschritte, die an Schulen passieren und passierten. Mir fehlten da von Michael Hüter Anregungen in die Richtung, wie man denn Schule besser machen könnte. Ein Zurück zur reinen Familiensozialisation und Abschaffung der Schulen wird den heutigen Verhältnissen nicht gerecht und ist keine Lösung.

   Sein Blick auf Schule ist mir zudem zu schwarz-weiß, ohne jeden Grauton. So schreibt er beispielsweise an einer Stelle sein vernichtendes Urteil: „Die (staatliche) Pflicht-Regelschule für alle ist einer der gravierendsten gesamtgesellschaftlichen Probleme seit Jahrhunderten und die größte künftige Gefahr für den Fortbestand einer friedlichen, gerechten, humanen, gesunden, sozialen und gebildeten Gesellschaft und Gemeinschaft“ (S. 248). An anderer Stelle spricht er von dem Problem der „totalen Beschulung“ oder der „Eskalation der Schule und Erziehung“ (S. 273, 288). Außerdem differenziert er zu wenig zwischen den möglichen Auswirkungen einer Krippenbetreung von Säuglingen und Kleinkindern und dem Schulbesuch ab ca. dem 7. Lebensjahr (beides entwicklungspsychologisch betrachtet zwei komplett unterschiedliche Lebensphasen). Die „totale Beschulung“ ist für ihn schlicht das Dreigespann „Krippe, Kindergarten und Schule“ (S. 288).

   Das gesamte Buch, um darauf zurück zu kommen, bleibt stets dem Bild treu, dass heute alles schlechter wäre: Zu viele Kaiserschnitte, zu viele Alleinerziehende, zu viele Scheidungen, zu viel Fremdbetreuung, zu viel Leistungsdruck, zu wenig Familie, zu wenig Vertrauen in die Kompetenzen von Kindern usw. Dem möchte ich detailliert gar nicht weiter entgegnen. Wenn man das Buch als Anklageschrift versteht, als Streitschrift, als große persönliche Aufregung und ja auch als Sorge um die heutigen Kinder, so soll man es meinetwegen lesen. Was das Buch nicht leistet, ist eine realistische und faktenbasierte Analyse der IST-Situation von Kindern und Jugendlichen. Der Autor differenziert auch zu wenig und beleuchtet die Dinge zu einseitig. Ein klarer Fluss oder konstruktive Anregungen sind ebenfalls nicht zu erkennen. Und summa summarum trieft das Buch nach meinem Geschmack einfach zu durchgehend von einer dunklen Sicht auf die heutige Welt.
   Negative Aspekte zu beleuchten ist wichtig. Eine triefend dunkle Weltsicht ist dagegen mit Verlaub teils auch gefährlich, weil sie potentiell zum Einreißen alles Bestehenden aufruft. (Insofern verwundert es nicht, dass Hüter gern gesehener Interviewpartner bei Verschwörungsportalen wie KenFM ist.)

   Ich muss gestehen, dass ich es sehr schade finde, in dem Buch keine für mich nützlichen Informationen gefunden zu haben. Der Titel an sich machte mich neugierig und versprach viel. Denn bei aller Kritik bin ich vom Grundsatz her in der Nähe von Hüter: Ich bin gegen zu viel Verschulung, gegen zu viel Wertigkeit von Schule, ich bin auch ein Gegner von Krippen für Kinder 0 bis 3 Jahre (würde aber gleichzeitig nicht die Eltern verteufeln, die ihre Kinder in Krippen geben), ich bin für mehr freie Zeit und freies Spiel von Kindern, ich bin gegen ein Zu-viel und ein Zu-früh von Fernsehen, Computerspielen + sozialen Netzwerken, für mehr Familie und für bessere Schulen und tolle Kitas. Ich bin aber – im Gegensatz zu Hüter wie mir scheint – für einen Prozess, für Veränderungen und Entwicklungen und auch Anpassungen, die auf Kreativität, Wissen und Forschung aufbauen. Und ich bin auch für einen komplexen Blick auf die Welt der Kinder heute in Deutschland und Europa, zu dem gehört, auch die vielen positiven Entwicklungen und Veränderungen anzuerkennen.  Und schlussendlich: Ich bin nicht für ein Infragestellen vom gesamten System.

Mittwoch, 6. Mai 2020

Lloyd deMause (1931 – 2020), ein Nachruf von Christian Lackner


(Mit Einverständnis von Christian Lackner hier veröffentlicht. Vielen Dank dafür!)


Lloyd deMause erzählte mir gerne von seiner Kindheit in Detroit, wo er als Sohn eines Autodesigners  aufwuchs. Aus unseren vielen Gesprächen schließe ich, dass Autos in seinem Leben immer eine gewisse Rolle gespielt haben.

Während seines Studiums der Psychologie an der Columbia University in New York interessierte er sich besonders für psychoanalytische Theorien. Ein Interesse, das seine damaligen Professoren nicht teilten. Nichtsdestotrotz begann er, die Geschichte der Kindheit zu beforschen.

1977 erschien sein erstes großes Werk „Hört ihr die Kinder weinen“ (Im Original: The History of Childhood, 1974). Damit schuf er die Basis für die Erklärung der Wechselwirkungen zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und kollektiven Entwicklungen. Dieses Werk erregte großes internationales Aufsehen, wurde in viele Sprachen übersetzt und zum Schlüssel für seine weiteren Forschungsarbeiten, die sich der Erkundung der Ursachen für Fortschritt, oder, wie er es nannte: der psychogenen Evolution, widmete. Lloyd deMause gilt bis heute als die Gründerfigur der Psychohistorie als Wissenschaft. Zahlreiche universitäre Institute auf der ganzen Welt nahmen seine Publikationen gerne auf und übernahmen seine Entdeckungen und Theoriemodelle in ihre Curricula. Unter der Dominanz eines psychologisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses war es für die Psychohistorie nicht einfach, als Disziplin in der Welt der Wissenschaften wahrgenommen zu werden, legte sie sich doch mit anderen Wissenschaften wie der Geschichte, Anthropologie oder der ökonomiekritisch ausgerichteten Sozialpsychologie an.

In den 70er Jahren gründete Lloyd deMause das Institute of Psychohistory. Die ökonomische Basis dieses Instituts bildete ein Verlag. Als ich ihn 1985 das erste Mal persönlich kennenlernte, trafen wir uns in seinem Büro am Broadway, wo an die 30 Angestellte an einer wöchentlich erscheinenden Anzeigengazette für den Verkauf von Gebrauchtwagen arbeiteten. Die Erlöse des Verlages flossen in seine Forschungsarbeiten, die Gründung der International Psychohistory Association und in die Herausgabe des Journal of Psychohistory. Mit dem Verkauf des Verlages Ende der 80er Jahre konzentrierte er sich ganz auf psychohistorische Grundlagenforschung; auf sein Ziel, eine wissenschaftliche Organisation auf die Beine zu stellen und sich weltweit mit Kolleginnen und Kollegen weiter zu vernetzen. Unter vielen anderen stand er mit Alice Miller und Erich Fromm in Verbindung. Er besuchte Deutschland damals regelmäßig, und aus dem Kreis der an seinen Workshops Teilnehmenden ging die bis heute größte psychohistorische Vereinigung außerhalb der USA hervor.

1984 erschien sein dritter großer Wurf (nach den Foundations of Psychohistory 1982): Reagan’s America, ins Deutsche übersetzt von Klaus Theweleit. Darin versuchte sich deMause in einem einzigartigen simultanhistorischen Experiment, den amerikanischen Präsidenten während dessen Amtszeit zu analysieren und zu interpretieren. Er wandte darin seine Hypothesen auf die damaligen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse an – teilweise mit prophetisch anmutenden Methoden, die die Ereignisse in naher Zukunft voraussagten, wie zum Beispiel das Schuss-Attentat auf Ronald Reagan, welches er während einer Lehrveranstaltung durch die Analyse kollektiver Phantasiebilder vorhersagte. Er nannte diese von ihm geschaffene Methode „Fantasy Analysis“: Anhand von medialen Bildern (Cartoons, Titelblätter, Filme) ließen sich politische Ereignisse vorhersagen.

Zu seinen bedeutenden wissenschaftlichen Errungenschaften gehört das von ihm kreierte Modell der Psychoklassen, das den Fortgang der Menschheit in rhythmischen Aufeinanderfolgen derselben beschreibt. Die Grundlage bilden die sechsstufigen Kindererziehungsmodi, wobei jeder Modus eine Psychoklasse hervorbringt – innovativ oder rückschreitend.

Die Arbeiten von deMause waren stets transdisziplinär; er verband historische, anthropologische, psychoanalytische, politologische und neuropsychologische Erkenntnisse aus der Pränatalforschung, erstellte logische Zusammenhänge zwischen religiösen, fantasierten und pragmatischen historischen Entwicklungen, schilderte die fatalen Folgen der Gewalt an Kindern als Ursache kriegerischer Auseinandersetzungen – und er startete Projekte, die seine Theorie empirisch untermauerten, wie z.B. die Errichtung von Elternschulen in Boulder, Colorado, mit langfristiger Evaluation der sozialen und ökonomischen Folgen.

Mit seinem vorletzten großen Werk – einer Summa – Das emotionale Leben der Nationen – legte Lloyd im Jahre 2002 sein Lebenswerk der Öffentlichkeit vor. Es ist ein Opus von symphonischer Qualität, ein flüssig lesbarer Erklärungszusammenhang menschlicher Entwicklung, der geradezu herausfordert, kritisch diskutiert zu werden. Es war sein letztes Buch. The Childhood Origins of War konnte er nicht mehr in Buchform herausgeben. Eine Alzheimer Erkrankung verhinderte dies.

Die Arbeiten und Publikationen von Lloyd deMause machten ihn in der wissenschaftlichen Community zur bedeutenden Persönlichkeit und lösten dort Kontroversen aus. Ein zentraler Konflikt bestand in der rigorosen Ablehnung von deMause gegenüber ökonomischen Theorien von kapitalistischer Ausbeutung als Ursache für Gewalt. Die Ökonomie wäre immer nur so gewalttätig wie die darin Agierenden, während jedoch die Politik sich gar nicht ökonomisch vernünftig verhalte,
wenn sie Kriege anzettle, die deutlich mehr kosteten, als sie bringen würden. Demütigung und Rache, frühkindlich induziert, stellen das Problem psychogener Evolution dar, so deMauses Erkenntnis aus seinen Studien.

Die Bedeutung der Arbeiten und Theoriemodelle von Lloyd deMause werden sich noch über Generationen auswirken. Sein Grundgedanke hat sich sowohl legislativ als auch in konkreten Fortschritten in vielen westlichen Ländern niedergeschlagen, zum Beispiel in Form von Gesetzen, die Gewaltausübung gegen Kindern unter Strafe stellen. Er beurteilte den psychogenen Zustand eines Kollektivs gerne anhand – sofern vorhanden – der Statistiken über Kindesmissbrauch. Er verblüffte mich oft mit harschen Antworten auf meine Fragen, wie etwa die, ob es vernünftig sei, die Türkei in die EU aufzunehmen. Er meinte, das wäre noch viel zu früh; und es würde noch mindestens drei Generationen brauchen, bis man so etwas auch nur in Erwägung ziehen sollte.

Nach unseren Begegnungen in den 80er Jahren verloren wir uns aus den Augen, bis Jerrold Atlas, ein Weggefährte von deMause, dem ich eine Gastprofessur an der AlpenAdria Universität Klagenfurt verschaffte, 2003 mit dem Wunsch an mich herantrat, „The Emotional Life of Nations“ auf Deutsch herauszugeben; was in einer Übersetzungsarbeit mündete, die ich an die Bedingung knüpfte, dass Lloyd zur Buchpräsentation 2005 nach Österreich käme, was er nur widerwillig tat, es dann letztlich doch auch sehr genoss. Danach trafen wir uns 2006 in London wieder. Er war zu einem Vortrag in der Winnicott Clinic eingeladen worden. Sein Vortrag wurde zum Skandal, weil er behauptete, dass Österreich und Deutschland an Ländern wie Amerika und Großbritannien in Bezug auf moderne Kindererziehung vorbei gezogen wären.

In seiner Wohnung in Manhattan, wo ich des öfteren übernachtete, lernte ich ihn und seine Familie kennen, und einen Mann so voller aufrichtiger Herzlichkeit und Wärme, wie es sie nur selten gibt. Bei unserer letzten Begegnung 2013 in NYC umarmten wir uns, um im nächsten Moment Fremde zu sein. Aufgrund seiner damals beginnenden Alzheimer Erkrankung erkannte er mich nicht mehr.

Christian Lackner, Klagenfurt, am 29. April 2020, im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie, GPPP