Freitag, 23. September 2022

Kindheit von Ruhollah Khomeini

Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Moin (2009, S. 2) schreiben, dass Ruhollah Khomeini im Jahr 1902 geboren wurde. Riyahi (1986, S. 10) schreibt ebenfalls, dass Khomeini am 24.11.1902 geboren wurde, hängt aber in Klammern an, dass andere Quellen als Geburtsjahr 1900 angeben. Auch Thoß & Richter (1991, S. 33) beziffern das Geburtsjahr je nach Quelle zwischen 1900 und 1902. 

Das Geburtsjahr ist für diesen Beitrag insofern von Bedeutung, da Khomeinis Vater (ein Geistlicher und eine Führungsperson in seinem Ort) im Alter von ca. 47 Jahren umgebracht wurde (wobei es verschiedene Versionen gibt, wodurch er starb). Riyahi (1986, S. 10) schreibt in Orientierung an das Geburtsjahr 1902, dass Ruhollah zum Zeitpunkt dieser Tragödie fünf Monate alt war. Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Amirpur (2021, S. 20) schreiben, dass er zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt war. Thoß & Richter (1991, S. 35) legen den Zeitraum des Säuglingsalters von Ruhollah für dieses Ereignis zwischen drei und neun Monaten fest.
Sollte Ruhollah allerdings im Jahr 1900 geboren worden sein, dann wäre er am Tag des Todes seines Vaters bereits ein Kleinkind gewesen und hätte folglich viel bewusster und direkter die Tragödie erlebt, was eine ganz andere (wohl auch schwerere) Belastung für das Kind bedeuten würde. 

Ab dem siebten Lebensjahr besuchte Ruhollah die örtliche Koranschule („maktab“). „Regulations in the maktab were very harsh und punishment for mispronouncing a Qor`anic word was by today`s standards torture. The suffering of children who attended them was legendary. One oft he nursery rhymes of those days was: `Wednesday I think. Thursday I enjoy. Friday I play. Oh unhappy Saturday: my legs are bleeding from the strokes of cherry-tree branches`” (Moin 2009, S. 14). Der Biograf geht offensichtlich davon aus, dass auch Ruhollah dieser Belastung in den Schulen nicht entging. 

Amirpur (2021, S. 28) erwähnt, dass Ruhollah als Kind Zeuge von einer "gesetzlosen Atmosphäre" und Ungerechtigkeiten gegen die Bevölkerung war. So musste er u.a. einmal mitansehen, wie ein Händler von Leuten der Regierung mit einem Hammer misshandelt wurde. Was mit dem Mann danach passiert ist, blieb unklar. 

Die Familie lebte nach Nirumand & Daddjou (1987, S. 26) in bescheidenen Verhältnissen und hatte insgesamt sechs Kinder zu versorgen, von denen Ruhollah das jüngste Kind war. Moin (2009, S. 4) und Amirpu (2021, S. 21) schreiben dagegen, dass die Familie wohlhabend war. 

Dass es bzgl. biografischer Details je nach Quelle Widersprüche gibt, durchzieht meine Recherchen über Khomeini. Auch bzgl. der Lebenssituation nach dem Tod des Vaters gibt es unterschiedliche Versionen.

Über seine Mutter erfährt man nicht viel in den verwendeten Quellen. Sie wird als „energische Mutter“ beschrieben (Riyahi 1986, S. 10), was auch immer dies bedeuten mag. Nach dem Tod des Vaters hätten die Mutter und eine gottesfürchtige Tante die Erziehung des Jungen übernommen (Riyahi 1986, S. 10),). Die Mutter sei eine „sehr lebendige, fröhlich gestimmte und gesellige Frau“ gewesen, blieb ihrem Sohn aber verwehrt, „er wuchs als Waisenkind auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26).

Nirumand & Daddjou bieten folgende Version der Zeit nach dem Tod des Vaters:
„(…) Ruhollahs Geburt wurde von der abergläubischen Bevölkerung Chomeins mit dem Tod des Vaters in Zusammenhang gebracht und als schlechtes Omen aufgefasst. Es sei ein Unglückskind, so raunten die Bewohner der Stadt, es werde Unglück über die Stadt bringen. Die Mutter geriet durch solche Gerüchte in Panik, versteckte das Kind. Eine Tante gewährte ihm Zuflucht. Bei ihr blieb er bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr (Nirumand & Daddjou 1987, S. 24f).
Die Tante, die Schwester seines Vaters (…) war ziemlich wohlhabend. Ihr Mann, der schon in fortgeschrittenem Alter war, kümmerte sich kaum um den ungewollten Adoptivsohn. So war die Tante die einzige Person, bei der Ruhollah sein kindliches Verlangen nach Wärme und Geborgenheit befriedigen konnte. Dennoch wuchs der Junge in der Einsamkeit auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters zusammen mit Mutter, seiner Amme und seiner Tante aufwuchs. Amirpu (2021, S. 21) ergänzt, dass auch noch Wachen, Bedienstete und die Zweitfrau von Ruhollahs Vater Teil des Haushalts waren. Eine Zweitfrau mag damals nicht unüblich in dieser Region gewesen sein, belegt aber andererseits auch die stark patriarchalen Strukturen, in denen Ruhollah aufwuchs. 

Moin und Amirpu folgend war zumindest die Umgebung des Jungen mit Personen und Leben gefüllt. Von Einsamkeit des Jungen berichten sie nicht. 

Nirumand & Daddjou führen dagegen aus, dass die triste Umgebung, die Einsamkeit und der Tod des Vaters Ruhollah zu „einem melancholischen, einsamen und mystisch veranlagten Menschen“ gemacht hätten, „Freunde hatte er keine. Nach der Schule ging er geradewegs nach Hause, verkroch sich in sein Zimmer, wanderte allein durch die Wüste oder setzte sich im Schatten eines Baumes nieder, las den Koran oder die Gedichte von Hafiz, dem großen persischen Dichter, der vielen iranischen Mystikern als Vorbild dient. (…) Selten konnte man seinen strengen Gesichtszügen ein Lächeln entlocken. Er sprach von sich aus kaum jemanden an und begnügte sich, wenn man ihm Fragen stellte, mit knappen Antworten (…). Dieses Verhalten schuf zwischen ihm und seinen Mitmenschen eine Distanz, die niemand, nicht einmal seine Pflegeeltern, zu überwinden vermochten. Er wurde als Sonderling angesehen, geachtet, bewundert, ja, obwohl er noch so jung war, manchmal auch gefürchtet“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 27),
Zu seinen Mitschülern habe er kaum Kontakt gehabt. „Nur einem einzigen öffnete er sein Herz und seine Seele ohne Einschränkung: seinem Schöpfer, dem er grenzenlose Liebe entgegenbrachte. All die Zuneigung, die man gewöhnlich in diesem Alter den Eltern, Geschwistern, Freunden und einer Jugendliebe entgegenbringt, richtete sich bei ihm einzig auf Gott, dem er sich voll hinzugeben bereit war. Als seine Tante und kurz darauf die Mutter starben – er hatte gerade das siebzehnte Lebensjahr erreicht -, da wusste er, dass er in Chomein nichts mehr zu suchen hatte“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 28). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah sehr wohl Freunde hatte, mit denen er draußen spielte.
Eine weitere Quelle nennt zudem als Alter von Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes von Tante und Mutter fünfzehn (Riyahi (1986, S. 11). Moin (2009, S. 18) und Amirpur (2021, S. 45) geben als Alter sechszehn Jahre an. Thoß & Richter (1991, S. 51) geben gleich den Zeitraum zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr an. Laut Moin (2009, S. 18) war die Ursache des Todes von Mutter und Tante eine Cholera-Epidemie.

Ruhollah zog nach dem Tod von Mutter und Tante als ca. Siebzehnjähriger alleine in eine Stadt und schlug - der Tradition der religiös geprägten Familienlinie getreu - die Laufbahn eines Geistlichen ein.

Thoß & Richter (1991, S. 37) mahnen generell zur Vorsicht, wenn es um Khomeini frühen Jahre und Herkunft geht. Widersprüche in den biografischen Details würden auf die „mythische Herkunft“ des späteren Imam Khomeini hinweisen. Sie breiten verschiedene Versionen aus, die allerdings ganz ähnliche Elemente wie oben gezeigt beinhalten. Insbesondere die „frühe Verwaisung“ würde an den Propheten Mohammed erinnern (Thoß & Richter 199, S. 40), schreiben sie. Allerdings führen sie keinerlei Belege dafür an, dass der Tod von Vater, Mutter und Tante nicht stattgefunden hätte bzw. zweifeln dies auch gar nicht an. 

Mit den Differenzen in den Details muss man hier wohl einfach leben! Fakt bleibt nach allen Quellen, dass der Vater von Khomeini ermordet wurde, als sein Sohn noch sehr klein war und dass Mutter und Tante starben, als Khomeini Jugendlicher war. Diese drei Todesfälle sind schwere Belastungen für einen jungen Menschen und werden ganz sicher Folgen gehabt haben. 

Laut Amipur (2021, S. 20f.) nahm die Mutter den Mord an ihren Mann damals nicht einfach hin, sondern reiste mit ihren drei Söhnen nach Tehran. Dort habe sie erwirkt, dass der Mörder ihres Mannes hingerichtet wurde. Nach zwei Jahren Kampf für Gerechtigkeit sei sie dann mit den Söhnen wieder in den Heimatort zurückgekehrt. Wir erinnern uns, dass Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters noch ein Säugling war. Die folgenden zwei Jahre seines jungen Kleinkindlebens verbrachte er an der Seite einer Mutter, die für die Bestrafung des Mörders des Vaters kämpfte. Wie mag diese Zeit das Kleinkind geprägt haben?

Amipur (2021, S. 28f.) meint, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters in einer etwas trostlosen Atmosphäre von seiner Mutter, einer Amme und seiner Tante großgezogen wurde. Vor allem die Tante sei eine sehr starke und dominante Persönlichkeit gewesen, die in der Familie großen Einfluss ausübte. Auch im Ort strahlte sie Charisma und Macht aus. Das entsprechende Kapitel hat der Biograf Amipur mit „Unter den Fittichen starker Frauen“ betitelt. Doch wie passt dieses Bild unabhängiger, starker Frauen mit dem späteren Agieren des Religionsführers zusammen? Seine Frauenfeindlichkeit (oder sein Frauenhass) ist ja legendär und gefürchtet.
Wie diese Frauen den Jungen und die anderen Kinder behandelten, scheint nicht belegt zu sein. Insofern muss ich diesen Text mit einigen Daten unterfüttern:
Bis heute sind Kinder im Iran in vielen Lebensbereichen gesetzlich nicht vor Körperstrafen geschützt: “Prohibition is still to be achieved in the home, alternative care settings, some day care, schools and as a sentence for crime” (End Violence Against Children & End Corporal Punishment 2021).

Eine Review and Metaanalyse (Mohammadi et al. 2014). zeigt außerdem ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen und Vernachlässigung von Kindern in dem Land auf. Körperliche Misshandlungen erleben ca. 44% und emotionale Misshandlungen ca. 65% aller Kinder. Ca. 41 % der Kinder wurden vernachlässigt. 

Speziell bzgl. der körperlichen Gewalt geht es wohlgemerkt um Misshandlungen, das Ausmaß an körperlicher Gewalt an sich dürfte im Iran (wie in vielen Teilen des Mittleren Ostens) entsprechend deutlich höher sein. Die analysierten Studien wurden außerdem zwischen 2004 und 2013 erstellt. Die Ergebnisse beziehen sich also auf jüngere Geburtsjahrgänge. Ruhollah Khomeini wurde allerdings ca. 1902 geboren, einer Zeit, in der das Ausmaß an Gewalt gegen Kinder weltweit deutlich höher war. Rein statistisch und historisch betrachtet wurde Ruhollah Khomeini mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl in der Familie (in seinem Fall durch Frauen) als auch in der Schule geschlagen, sehr wahrscheinlich sogar misshandelt. Auch Vernachlässigung ist der Metaanalyse nach nicht unwahrscheinlich, zumal das Kind ja auch noch vaterlos und im Kreise von fünf weiteren Geschwistern aufwuchs. 

Traumatische Erfahrungen (vor allem der Tod von Elternfiguren) in der Kindheit von Ruhollah Khomeini sind belegt und weitere Belastungen deuten sich wie gezeigt klar an. 


Quellen.

Amirpur, K. (2021). Khomeini. Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie. C. H. Beck, München. 

End Violence Against Children & End Corporal Punishment (2021, April). Corporal punishment of children in Iran

Mohammadi, M. R., Zarafshan, H. & Khaleghi, A. (2014). Child Abuse in Iran: a systematic review and meta-analysis. Iranian Journal of Psychiatry, 9(3), S. 118-124.

Moin, B. (2009). Khomeini. Life of the Ayatollah. I. B. Tauris, New York.

Nirumand, B. & Daddjou, K. (1987). Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini. Rowohlt, Reinbek. 

Riyahi, F. (1986). Ayatollah Khomeini. Lebensbilder, Frankfurt/M – Berlin. 

Thoß, G. & Richter, F.-H. (1991). Ayatollah Khomeini. Zur Biographie und Hagiographie eines islamischen Revolutionsführers. Wurf Verlag, Münster. 

Mittwoch, 7. September 2022

Kindheit von fünf jugendlichen Rechtsextremisten

Erneut habe ich eine Arbeit gefunden, innerhalb der die Kindheitsbiografie von Rechtsextremisten besprochen wird: 

Hardtmann, G. (2007). 16, männlich, rechtsradikal: Rechtsextremismus - seine gesellschaftlichen und psychologischen Wurzeln. Patmos Verlag, Düsseldorf. 

Die Professorin und Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann gibt ihre sozialpädagogische Arbeit mit rechten Jugendlichen aus Berlin wieder. Die Gespräche mit den Jugendlichen waren unstrukturiert und spontan. Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deswegen) konnte sie einiges über die Kindheitshintergründe herausfinden. 

An eine Stelle im Buch formuliert sie:
Die Wuzeln für ihre Radikalisierung liegen bei jugendlichen Rechtsextremisten in der frühen Kindheit“ (S. 90). 

Die Vaterlosigkeit ist eine besondere Auffälligkeit bei den untersuchten Jugendlichen, was sie wie folgt zusammenfasst: „Den von mit beobachteten Jugendlichen fehlten väterliche Angebote zur Information, Bildung und Weiterbildung. Die aus der brüchigen männlichen Identifikation entstandene Leere wurde mit rechtsextremistischer Ideologie gefüllt. Die damit unvermeidliche Frustration provozierte Gewalt. Nach außen demonstrierten die Jugendlichen Macht anstelle tatsächlicher innerer Ohnmacht. Die Unterwerfung unter einen Führer und die Abhängigkeit von einer Gruppe sollten die fehlende verinnerlichte Repräsentanz eines starken Vaters ersetzen. Dies gelang nicht und führte die Jugendlichen immer tiefer in die regressive Sackgasse von Abhängigkeit und Fremdbestimmung.“ (S. 93). 

In ihrem Buch hat sie vier Fällen ein eigenes Kapitel gewidmet: Peter, Detlef, Michael und Marc. Nach diesen Fallbeispielen geht sie im Text aber auch noch auf den Fall „Kurt“ ein. Insofern gehe ich hier von fünf Fallbeispielen aus. 

Der Fall „Peter“ (S. 67-69, 95) :

Peter wuchs in einem autoritären Elternhaus auf. Die Eltern waren sehr links eingestellt und der Junge fügte sich lange Jahre gehorsam ihren Einstellungen und Erwartungen. „Peter lebte seinen spätpubertären Protest gegen die autoritären Eltern provozierend aus und radikalisierte sich in der exakt entgegengesetzten politischen Richtung. Er fand in der Gruppe die Unterstützung und Anerkennung, die ihm immer gefehlt hatten“ (S. 95). „Seinen Eltern äußerlich gesehen so unähnlich, glich er ihnen doch in seiner autoritären Struktur und war nicht bereit, sich selbst kritisch zu hinterfragen“ (S. 68). 

Der Fall „Detlef“ (S. 69-71):

Der Verlust des Vaters durch die Scheidung der Eltern, als er acht Jahre alt war, hatte Detlef traumatisiert. Schlimm für ihn war nicht die Trennung als solche, sondern der Krieg, den die Mutter in der Folgezeit gegen den Vater führte. Sie führte ein strenges Regiment zu Hause, hatte das alleinige Sorgerecht und diktierte nicht nur die Besuchsregelung, sondern auch die Bewertung dessen, was der Vater dem Jungen bedeutet hatte und ihm in Zukunft hätte geben können“ (S. 69).
Männer brauchen wir nicht“, entgegnete die Mutter ihrem Sohn, als er von früheren guten Erfahrungen mit seinem Vater berichten wollte (S. 69). „Detlef war dem Kampf mit der sehr aggressiven, Männer hassenden Mutter und dem Verlust des Vaters im Alter von acht Jahren nicht gewachsen“ (S. 70f.) Detlefs „Lösung“ war ein innerer Rückzug und eine Fantasiewelt, in der die Welt von Männern dominiert wird und Frauen keine Rolle spielen. 
Seine Mutter war zudem ausländerfeindlich eingestellt, was ihr Sohn offensichtlich übernahm. 

Der Fall „Michael“ (S. 72-76):

Michael hatte von Beginn an nie eine gute Beziehung zu seinem Vater erlebt. Der Junge interessierte sich auch nicht für Basteleien und Heimwerkern, so wie sein Vater. „Michael reagierte auf seinen Vater mit aggressiver Ablehnung“ (S. 72). Der Mutter nach habe sich der Vater vollkommen aus der Erziehung zurückgezogen. Michael fing früh an zu provozieren: Schuleschwänzen, Diebstähle, Überfälle und Körperverletzung. Der Großvater übernahm ein Stück weit die Vaterrolle, „vergiftete“ seinen Enkel aber auch „mit NS-Ideologie, Fremdenhass und faszinierenden Heldengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 72). 

Der Fall „Marc“ (S. 76-77):

Marc hatte früh im Alter von drei Jahren den Vater durch die Scheidung der Eltern verloren. Der Vater kümmerte sich auch in der Folgezeit nicht um seinen Sohn. Die allein erziehende Mutter tat ihr Bestes, verstarb aber plötzlich an einer unheilbaren Krankheit, als der Junge vierzehn Jahre alt war. Äußerlich versorgt mit allem was er brauchte, fand Marc für seine Traurigkeit keinen Ansprechpartner. Er fühlte sich verlassen und allein, hatte auch Angst vor Einsamkeit und suchte in der Gruppe nicht nur Anschluss, sondern auch die Möglichkeit, seine Niedergeschlagenheit erfolgreich zu verleugnen und die Verlassenheitsgefühle nicht zu spüren. Er hätte tatsächlich auch in einer anderen Gruppe eine Heimat finden können, sobald diese ihm nur Anschluss und Halt geboten hätte“ (S. 76f.).  Marc war zudem depressiv (S. 95). 

Der Fall „Kurt“ (S. 96):

Kurt wurde von der Autorin wie bereits geschildert kein eigenes Kapitel gewidmet, was verwundert, denn er wird innerhalb eines Rückblicks auf die oben besprochen Fälle eingereiht und erwähnt. Hardtmann fasst seine Kindheit wie folgt zusammen. „Kurts Vater trank, war alkoholabhängig und hatte sich nie um die Familie gekümmert, oder wenn, dann nur in negativer Weise, randalierend. Die Mutter war nicht in der Lage, dem Vater Grenzen zu setzen. Unterstützung auf dem schwierigen Weg zum Erwachsenwerden war von ihm nicht zu erwarten. Er war auch kein Vorbild, an dem man sich orientieren konnte (…)“ (S. 96). 

Anmerkung

Bei allen fünf Fällen werden diverse Problemlagen in der Kindheit deutlich. Die Autorin fokussiert sehr auf die Väter. Auf Grund der Konfliktlagen mit diesen ist dies auch nachvollziehbar und sinnvoll. Mir fehlt trotzdem der Blick auch auf die Mütter. Da die Autorin keine strukturierten Interviews geführt hat, vermute ich an sich weitere Belastungslagen und evtl. auch Gewalterfahrungen in der Kindheit, die durch das freie Erzählen und den sozialpädagogischen Kontext nicht ermittelt werden können.