Freitag, 14. Oktober 2022

Kindheit von Leo Trotzki

Lew Dawidowitsch Bronstein, später Leo Trotzki, wurde am 25.10. oder 07.11.1879 geboren (Broué 2003, S. 27). 

So beginnt er seine eigenen Kindheitserinnerungen: 

Die Kindheit gilt als die glücklichste Periode des Lebens. Ist das immer so? Nein, die Kindheit der wenigsten ist glücklich. (…) Meine Kindheit war nicht eine Kindheit des Hungers und der Kälte. Zur Zeit meiner Geburt kannte meine elterliche Familie schon Wohlstand. Doch war es ein herber Wohlstand von Menschen, die sich aus der Not erheben und den Wunsch haben, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Alle Muskeln waren gespannt, alle Gedanken auf Arbeit und Anhäufung gerichtet. In dieser Häuslichkeit war den Kindern nur ein bescheidener Platz zugewiesen. Wir kannten keine Not, wir kannten aber auch nicht die Freigebigkeit des Lebens, seine Liebkosungen. Meine Kindheit erscheint mir weder als die sonnige Wiese der kleinen Minderheit noch als düstere Hölle des Hungers, des Zwangs und der Beleidigungen, wie die Kindheiten der Vielen, wie die Kindheit der Mehrheit. Es war eine farblose Kindheit in einer kleinbürgerlichen Familie, in einem Dorfe, in einem finsteren Winkel, wo die Natur reich ist, die Sitten, Ansichten und Interessen aber dürftig und eng“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Die eigene Autobiographie in dieser Art mit Blick auf die Kindheit zu beginnen, ist schon erstaunlich, aber wohl auch bezeichnend. Gleich in den ersten Zeilen macht er gezielt klar, dass er keine glückliche Kindheit hatte.
Der Biograf Robert Service zitiert Trotzki - ins obige Bild passend - wie folgt: "Meine Geburt war nicht gerade ein freudiges Ereignis für die Familie. Das Leben war allzusehr von intensiver Arbeit ausgefüllt" (Service 2012, S. 36).

Als Kleinkind wurde er von einem Kindermädchen bereut, das gerade einmal sechzehn Jahre alt war (Trotzki 1990, S. 16). Dass die Eltern sich nicht viel kümmerten, wird auch im weiteren Textverlauf deutlich werden.
Sein Vater war Gutsherr und die Familie entsprechend wohlhabend und privilegiert (Trotzki 1990, S. 19). 

Die Sitten in Trotzkis Umfeld waren rau, wie er eingangs bereits deutlich machte. So schildert er eine Szene aus seiner früheren Kindheit, in der ein Sohn eines Bauern eines kleinen Diebstahls bezichtigt wurde. Der Vater wurde von den Leuten zur Rede gestellt und schwor daraufhin, dass er nichts davon gewusst habe. Dann schlug der Vater vor den Augen Aller auf seinen Sohn ein. „Der Junge schrie und schwur, er werde es nicht wieder tun. Ringsherum standen die Onkelchen, hörten gleichgültig das Heulen des Halbwüchsigen mit an, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und brummten in den Bart, dass der Bauer nur aus List, nur zur Ablenkung den Bengel peitschte und dass man gleichzeitig auch den Vater auspeitschen sollte“ (Trotzki 1990, S. 22). 

Eine weitere Erinnerung bezieht sich auf die Tochter eines im Ort als Dieb verschrienen Mannes. Die Ehefrau eines Nachbarn bezichtigte eines Tages diese Tochter, ihr den Mann ausspannen zu wollen bzw. ein Verhältnis mit diesem zu haben. „Als ich einmal aus der Schule zurückkehrte, sah ich, wie eine schreiende, heulende, spuckende Menge eine junge Frau, die Tochter des Pferdediebs, über die Straße schleifte“ (Trotzki 1990, S. 46). 

Später, als er bei Onkel und Tante lebte (siehe dazu mehr unten), wurde er erneut Zeuge von Gewalt. In dem dortigen Umfeld herrschte ein „derbes Benehmen“ und er fügt dem an, dass „der Verwalter einmal den Hirten mit einer langen Peitsche züchtigte, weil der die Pferde bis zum Abend an der Tränke gelassen hatte“ (Trotzki 1990, S. 49). 

In seiner Kindheit kam Trotzki teils auch selbst in die Schusslinie: „Als Herrensohn machte er auch die grausame Erfahrung, von den Bediensteten und Lehrlingen verspottet zu werden, die frech und auf Vergeltung aus waren und ihn oft zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und Scherze machten“ (Broué 2003, S. 30).
All diese Erfahrungen werden nicht spurlos an dem Kind vorübergegangen sein! 

Auch Trotzkis Vater hatte offensichtlich eine strenge Seite. Sein Sohn "ertrug es nicht", wie der Vater "seine Arbeiter disziplinierte" (Service 2012, S. 42).
Einen Kutscher, der etwas gestohlen hatte, ließ der Vater einst verfolgen, um Rache zu üben. Man fand ihn allerdings nicht, schreibt Service und hängt dem an: Alle hätten es gebilligt wenn der Vater "mehr getan hätte, als ihn den Behörden zu übergeben: Viele setzten ihre Eigentumsrechte durch, ohne Polizei oder Justiz in Anspruch zu nehmen. Auf dem Dorf herrschte das Faustrecht" (Service 2012, S. 44).  
Bezogen auf die Kinder sei dieser Vater "grob" gewesen (Service 2012, S. 37), Was genau sich hinter diesem Wort verbirgt, erschließt sich in der Quelle leider nicht. 

Seine Eltern waren offensichtlich viel beschäftigt und wenig auf die Kinder fokussiert. So berichtet Trotzki: „An Wintertagen blieben wir häufig allein im Haus, besonders während der Reisen des Vaters, wo dann die ganze Wirtschaft auf der Mutter lastete. Manchmal saß ich in der Dämmerung mit dem Schwesterchen eng aneinandergeschmiegt auf dem Sofa mit weit geöffneten Augen; wir hatten Angst, uns zu rühren. (…)  Am Abend blieben wir gewöhnlich im Esszimmer, bis wir einschliefen. Man kam und ging, holte und brachte Schlüssel, am Tische wurden Befehle erteilt, man traf Vorbereitungen für den morgigen Tag. Ich, die jüngere Schwester Olija und die ältere, Lisa, teils auch das Stubenmädchen führten in diesen Stunden ein von den Erwachsenen abhängiges und von ihnen unterdrücktes eigenes Leben“ (Trotzki 1990, S. 26).
Weiter führt er aus, wie sie als Kinder manchmal in Anwesenheit der Erwachsenen ins Lachen verfielen. Die müde Mutter habe dann gefragt, was los sei. Dem hängt er direkt an: „Zwei Lebenskreise, der obere und der untere, kreuzten sich für einen Augenblick. Die Erwachsenen betrachteten die Kinder, manchmal wohlwollend, häufiger gereizt“ (Trotzki 1990, S. 27).
Diese Formulierungen sind schon bemerkenswert. Eltern und Kinder scheinen irgendwie in sehr getrennten Sphären gelebt zu haben, obwohl sie sich im gleichen Gebäude/Raum aufhielten. Man „kreuzte“ sich halt nur einen „Augenblick“ und dabei „häufiger gereizt“. 

Diese Art der Schilderungen über seine Kindheit und sein Umfeld durchziehen seine gesamten Kindheitserinnerungen: Er schreibt stets sehr distanziert. Diese Distanziertheit fiel Trotzki auch selbst auf. So schreibt er einleitend: „Bei der ersten Skizzierung dieser Erinnerungen kam es mir wiederholt vor, als beschreibe ich nicht meine eigene Kindheit, sondern eine alte Reise durch ein fernes Land. Ich versuchte sogar, die Erzählung von mir in dritter Person zu führen“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Trotzki beschreibt keine konkreten Erziehungserlebnisse mit seinen Eltern. So wissen wir z.B. nicht, wie sich diese verhielten, als sie „gereizt“ waren. Überdeutlich wird allerdings die Beziehungsdistanz zu Elternfiguren und Erwachsenen an sich. Emotionale Vernachlässigung deutet sich hier klar an. „Farblos“, „ohne Liebkosungen“ sei seine Kindheit gewesen, so begann er wie oben zitiert seine Erinnerungen. Auch dies passt hier ins Bild. 

An einer Stelle wird er dann doch etwas deutlicher, obgleich er auch hier keine Details bzgl. des Verhaltens der Eltern Preis gibt: „Als die Kinder noch klein waren, behandelte sie der Vater nachsichtiger und gleichmäßiger. Die Mutter war oft gereizt, manchmal ohne Grund, sie ließ an den Kindern einfach ihre Müdigkeit oder schlechte Laune über wirtschaftliche Misserfolge aus. In jener Zeit war es ratsamer, den Vater um etwas anzugehen. Mit den Jahren wurde der Vater strenger. Die Gründe lagen in den Schwierigkeiten des Lebens, den Sorgen, die mit dem Wachsen des Geschäfts zunahmen, besonders unter den Verhältnissen der Agrarkrise der achtziger Jahre, um den Enttäuschungen durch die Kinder“ (Trotzki 1990, S. 30).
Die Mutter ließ Frust an den Kindern aus und der Vater wurde strenger, je älter die Kinder wurden. Wir dürfen vermuten (der Zeit und Sitte entsprechend), dass hier evtl. auch Körperstrafen gemeint sind. Die Nachworte "Enttäuschungen durch die Kinder" sind wiederum bemerkenswert. Trotzki scheint als Kind Verhaltensweisen der Eltern auf sich bezogen zu haben, nach dem Motto: weil sie von uns Kindern enttäuscht waren, wurden wir schlecht behandelt. Dies wäre ein ganz klassische Reaktion von Kindern auf destruktives Verhalten von Elternteilen: die Schuld für das elterliche Verhalten nimmt in der Fantasie des Kind auf sich. 

Von den acht in dieser Ehe geborenen Kindern blieben vier am Leben. Ich war das fünfte in der Geburtenreihe. Vier starben in frühen Jahren, an Diphterie, an Scharlach, sie starben fast unmerklich, wie die am Leben Gebliebenen unmerklich lebten. Das Land, das Vieh, das Geflügel, die Mühle erforderten restlos die gesamte Aufmerksamkeit. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und die Wellen der landwirtschaftlichen Arbeit gingen über die Familienbeziehungen hinweg. In der Familie gab es keine Zärtlichkeiten, besonders nicht in den weiter zurückliegenden Jahren“ (Trotzki 1990, S. 29).
Die Kindersterblichkeitsrate in dieser Familie lag bei 50% und viel Aufsehen um diese Todesfälle scheint es nicht gegeben zu haben. Wie viele dieser vier Geschwister Trotzki hat sterben sehen bzw. ob einzelne Geschwister vor seiner Geburt starben wird nicht deutlich. Der Tod von Geschwisterteilen ist eine schwere Belastung für ein Kind, das in diesem Fall ganz offensichtlich damit alleine gelassen wurde, denn „die am Leben Gebliebenen“ lebten „unmerklich“. Ergänzend wir die ganze Trostlosigkeit dieser Kindheit in dem gesamten Zitat deutlich. 

Die fehlenden familiären Bindungen wurden bereits erwähnt. Dazu passt auch, dass Trotzki zur Einschulung zu einer Tante in einem anderen Ort gebracht wurde und somit für einige Monate von seiner Familie getrennt lebte. „Ich wohnte bei der guten Tante Rachil, ohne sie zu bemerken. Im gleichen Hof, im Hauptgebäude, herrschte Onkel Abram. Gegen seine Neffen und Nichten verhielt er sich völlig gleichgültig“ (Trotzki 1990, S. 45). Die gewohnte Trostlosigkeit scheint sich bei Onkel und Tante fortgesetzt zu haben. In den Schulferien lebte er dann Zuhause. Der kurze Aufenthalt in dieser jüdischen Schule brachte ihm schulisch allerdings nicht viel, weil er kein jüdisch sprach, insofern fand er auch keine Freunde. 

1888 gab es erneut eine große Veränderung im Leben des nun neunjährigen Jungen; er wurde nach Odessa in die Familie des Neffen der Mutter geschickt, um dort zur Schule zu gehen (Trotzki 1990, S. 48). Über 300 Kilometer entfernt lag Odessa von seinem Heimatdorf, für damalige Verhältnisse kam dies für den Jungen "einer Reise über einen unbekannten Ozean gleich" (Service 2012, S. 47).
Im Esszimmer wird mir eine Ecke hinter einem Vorhang zugewiesen. Hier verbrachte ich die ersten vier Jahre meines Schullebens“ (Trotzki 1990, S. 50). Hier wurde dem Jungen erstmals das Stadt-/Landgefälle bewusst. Er merkte, dass es in Odessa kultivierter und anders zuging als in seinem Dorf.
Im vorgenannten Zitat spricht er von den ersten vier Jahren Abwesenheit. An einer anderen Stelle schreibt er allerdings zusammenfassend: „Im Dorfe verbrachte ich ohne Unterbrechung die ersten neun Jahre meines Lebens. Während der folgenden sieben Jahre kam ich alljährlich im Sommer, manchmal auch zu Weihnachten oder zu Ostern hin“ (Trotzki 1990, S. 79). Insofern war er mindestens sieben Jahre von seiner Familie getrennt. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass dieser Junge die ersten Lebensjahre in einem engen, emotional kargen Rahmen groß wurde, ohne enge Bindung an seine Eltern. Danach wurde er für seine schulische Ausbildung weggeschickt und wuchs im Prinzip (bis auf ca. jährliche Heimbesuche) ohne seine Herkunftsfamilie auf. Der Junge war sehr intelligent und wollte offensichtlich mehr in seinem Leben sehen und erreichen, als ihm das Dorf bot. Wir können uns allerdings vorstellen, dass auf diesem Wege das emotionale Leben und die entsprechende Entwicklung des Kindes weitgehend auf der Strecke blieb, mit Folgen auch für den später Erwachsenen.
Mehrfache Zeugenschaft von Gewalt ist zudem belegt. Der Tod von vier Geschwistern ist ergänzend eine schwere Belastung. Gewaltvolles Erziehungsverhalten durch Elternfiguren ist nicht belegt, aber auch nicht ausgeschlossen bzw. deutet sich leicht an, wie im Textverlauf gezeigt. 


Quellen:

Broué, P. (2003). Trotzki. Eine politische Biographie. Band 1. ISP Verlag, Köln. 

Service, R. (2012). Trotzki. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin. 

Trotzki, L. (1990). Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.


3 Kommentare:

Michael Kumpmann hat gesagt…

bei der US Seite Counter Currents (ich linke darauf mal nicht, weil die ne verbindung zur alt right haben und solche Links magst du beknntlich nicht) hat der autor Kerry Bolton einen Text über Trotsky und Stalin geschrieben, wo der zeigte, dass Trotsky einen ziemlich kranken Hass auf die Ideen von Familie und Elternschaft hatte. Scheinbar ging Trotsky aus, es könne gar keine guten Eltern geben. (Und arbeit sei prinzipiell gut, weil dies den Menschen on der Familie befreien würde.)

Stalin hat das Meiste, was Trotsky machte (z.B. Ehen grundsätzlich zu verbieten), wieder zurück genommen.

Man muss die westliche darstellung, Trotsky und seine Leute seien die "Guten" gewesen, scheinbar deutlich in Frage stellen.

Sven Fuchs hat gesagt…

Danke, interessant.

Sven Fuchs hat gesagt…

Ich habe heute den Text noch um einige Passagen aus folgender Quelle ergänzt:

Service, R. (2012). Trotzki. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin.