Freitag, 27. September 2024

Gewaltforschung: Kleine Weisheiten an Hand von fünf Textauszügen

In diesem Jahr sind mir fünf Zitate/Textauszüge besonders aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Dies möchte ich heute teilen: 


1. Kreislauf der Gewalt 

Der englische König George V. (1865 – 1936) sagte einst: 

"My father was afraid of his mother; I was frightened of my father, and I am damned well going to make sure that my children are afraid of me" (Montgomery 2024, S. 12)

Dieses eine Zitat steht zugespitzt für die gesamte Geschichte der Kindheit (und somit der Menschheit)! 

Kinder neigen dazu, sich mit ihren Eltern und deren Verhaltensweisen zu identifizieren, selbst wenn das elterliche Verhalten destruktiv ist. Wenn die Identifikation mit dem Aggressor wirkt, dann wird das (destruktive) elterliche Verhalten nicht hinterfragt, sondern auf die eine oder andere Art übernommen. Dies gilt umso mehr, je weiter wir historisch zurückschauen, denn früher waren die Bewegungs- und Entfaltungsräume der Menschen deutlicher begrenzter und auch das Erleben von alternativen Lebensformen/Verhaltensweisen war deutlich weniger als heute. Interessant ist hier ergänzend, dass König George genau in einer wichtigen Wendezeit lebte, denn um das Jahr 1900 begann sich Kindheit immer schneller zu verändern (inkl. einem beschleunigtem Trend des Rückgangs der Kindersterblichkeit) und auch die Anwendung von Körperstrafen wurde in der Folgezeit Stück für Stück hinterfragt. 


2. Selbsthass und Fremdschädigungen/Gewaltverhalten müssen zusammen gedacht werden

Die „Erotik-Influencerin“ und ehemalige Domina Jill Hardener hat in der Sendung „deep und deutlich“ (NDR 07.09.2024) u.a. über ihren gewalttätigen Alkoholikervater (der sie ablehnte), ihre Borderlinestörung, Selbsthass, ihren Suizidversuch im Alter von vierzehn Jahren, Sucht, kriminelles Verhalten und ihre Zeit im Gefängnis gesprochen. 

Über ihre frühere Gewalttätigkeit sagte sie rückblickend: "Leg Dich niemals mit jemanden an, der sein eigenes Leben nicht zu schätzen weiß. Man kennt dann einfach keine Gnade." 

Dies ist ein ganz zentraler Satz, um Gewaltverhalten zu verstehen!
Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat dem Thema Selbsthass auf Grund von destruktiven Kindheitserfahrungen und den Folgen daraus gleich ein ganzes Buch gewidmet („Der Fremde in uns“). Gewaltverhalten sagt immer auch etwas darüber aus, wie es den jeweiligen Akteuren innerlich geht (was den Gewaltopfern natürlich herzlich wenig hilft!). Manche Täter sind innerlich derart „abgestorben“, dass sie zu maximaler Gewalt fähig sind und diese sogar als befriedigend empfinden (z.B. sadistische Serienmörder). 

Ergänzend sagte Hardener mit Blick auf ihr Suchtverhalten und ihren damaligen „Borderline-Trip“, wie sie es nennt: „Alles was mir schadet, ist geil.“

Selbstzerstörung und Fremdschädigungen gehen oftmals Hand in Hand. Beides muss zusammen gedacht werden. Aus psychohistorischer Sicht lässt sich dies gedanklich auch auf ganze Gesellschaften übertragen. Wenn die Mehrheit einer Nation als Kind unter massiven Belastungen gelitten hat, dann können in bestimmten Phasen der Nationen (getriggert durch bestimmte Umstände, wie z.B. eine kollektiv erlebte Demütigung) auch diese Sätze gelten: 

"Leg Dich niemals mit jemanden an, der sein eigenes Leben nicht zu schätzen weiß. Man kennt dann einfach keine Gnade."

Alles was mir schadet, ist geil.“


3. Gewaltvolle Kindheit und Gewalt: Selbstverständlich besteht hier ein Zusammenhang.

Das folgende Zitat stammt von der Gerichtsreporterin Verena Mayer (2024): 

"Ich selbst habe in vielen Jahren vor Gericht eines gelernt: Die wenigsten Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, werden später zu Verbrechern. Aber so gut wie alle Verbrecher hatten es als Kinder schwer." 

Dies ist eine wahre und auch nachweisbare Erkenntnis. Sie gilt, das muss ich hier ergänzen, nach meinen Recherchen auch für Terroristen und Diktatoren. Das Schöne an diesem Zitat ist, dass hier ja eigentlich zwei Erkenntnisse dargestellt werden. 

1. Die meisten Menschen, die eine belastete Kindheit hatten, werden zu keinen auffälligen Tätern. 

Diese Erkenntnis wird oftmals bei dem Thema Gewaltursachen dazu benutzt, den Einfluss von Kindheit gering zu reden. Frau Mayer macht diese hier nicht: Sie denkt einfach beides!

2. Bei Tätern/Gewalttätern fallen belastete Kindheiten immer wieder deutlich auf. Sprich: Es gibt hier ganz offensichtlich einen Zusammenhang zwischen Opfererfahrungen und Täterverhalten, obwohl die meisten Opfer keine Täter werden. 

Das ist genau der richtige Ansatz, der auch die Komplexität der Realitäten von Menschen und ihrer Entwicklung mitdenkt. Wenn das genannte Zitat endlich Konsens würde, können wir weg von der Abwehr, Kritik und dem Geringreden bzgl. Kindheitseinflüssen und uns auf die Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen fokussieren, um Täterverhalten präventiv zu entgegen.  


4. Gewalttäter empfinden ihre traumatische Kindheit oftmals als "normal"

Der nächste Textauszug stammt von James Garbarino (2023), der über 30 Jahre lang als psychologischer Experte in Gerichtsfällen (USA) mit Mördern gearbeitet hat. 

Er schreibt zunächst, dass die von ihm untersuchten Mörder einen durchschnittlichen ACEs score (ACEs = Adverse Childhood Experiences) von sieben hätten. Dies liegt weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Garbarino merkt an, dass in den USA nur ein Kind von 100 einen ACEs score von sieben hat und fügt an: „The average mean score being 7, many guys have scores of 8, 9, or 10 (putting them in the worst 0.01% of the population)”

Jetzt wird es besonders interessant. Er berichtet, dass er die Mörder i.d.R. fragt, wie viele von 100 Kindern aus ihrem Umfeld wohl einen ACEs von sieben hätten. Die Antworten reichten von „alle“ bis zu 80%. Die gleiche Frage formuliert Garbarino dann bzgl. 100 Kindern aus der Allgemeinbevölkerung. Die Antworten wären meist: 50% oder mehr. „These guys think an extraordinary level of adversity is the norm rather than the exception it is. And, they tend to think that a high level of adversity is normal.”

Er ergänzt, dass diese Mörder zwar mit schweren Belastungen aufwachsen mussten, dies aber nicht immer als solches wahrnehmen. Im ACEs Fragebogen ist ein Punkt das Miterleben von häuslicher Gewalt in der Familie. Ein Mörder gab an, dass er dies nicht erlebt hätte. Im Gespräch sagte der Mann dann aber: "I only know of one time my grandma hit my mom in the eye and one time my mom`s boyfriend tried to cut her throat with a knife"

Dies sind besonders schwere Formen von häuslicher Gewalt, die dieser Mann als Kind miterlebt hat. Er scheint dies aber nicht als Problem und „Betroffenheit“ wahrgenommen zu haben. 

Die Mahnung von Garbarino ist enorm wichtig! Immer wieder zeigt sich, dass Kindheitsbelastungen eher untererfasst werden. 


5. Kultur der Gewalt - Lösungen brauchen viel Zeit

Ein Erfahrungsbericht aus Afghanistan von Taqi Akhlaqi (2023), in dem zunächst über ein "halbes Jahrhundert" von "alle Arten von Krieg und Blutvergießen" berichtet wird. Dann schreibt er: 

"Wenn man lange Zeit unter solchen Bedingungen lebt, wird man betäubt, als ob man unter Drogen gesetzt worden wäre. (...) Wer in einem solchen Umfeld aufwächst, empfindet Gewalt als natürlichen und unvermeidbaren Bestandteil des Lebens und nicht als etwas Ungewöhnliches. Im Gegenteil, eine friedliche Umgebung erscheint einem dann fremd."

Das Modell für Konfliktlösungen sei in einer solchen Gesellschaft sowohl auf der Makroebene als auch auf Mikroebene (in der Familie) Zwang und Gewalt als erste Option. 

Sich psycho-emotional aus diesem Geflecht zu befreien, ist ein unheimlich schwerer und langwieriger Prozess. Die westliche Allianz, die in Afghanistan unter der Führung von Bush einmarschiert ist, hat dies damals absolut ignoriert. Um diese Kultur der Gewalt abzubauen, braucht es ganz andere (auch traumainformierte) Konzepte und vor allem viel Zeit. 


Quellen:

Akhlaqi, T. (2023, 07. Dez.). Mit dem Islam lassen sich in Afghanistan Menschen für Gewalt und Krieg mobilisieren. Doch kaum einer würde seinen Kopf für Demokratie oder Redefreiheit riskieren. Neue Züricher Zeitung. https://www.nzz.ch/feuilleton/afghanistan-die-gewalt-ist-ueberall-und-vergiftet-die-menschen-ld.1767492

Garbarino, J. (2023). Perspectives on Adverse Childhood Experiences. Violence and Gender, Volume 10, Number 2. https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/vio.2023.0006

Mayer V. (2024,05. Sept.). Kolumne: Vor Gericht. Frühe Prägung. Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/leben/gericht-angeklagte-schwere-kindheit-lux.DBNBWmBExtYbaEeSbge1Az

Montgomery, H. (2024). Familiar Violence: A History of Child Abuse. Polity Press, Cambridge.

NDR - deep und deutlich (2024, 07. Sept.). Heroin, Knast, Erotik-Millionärin | Jill Hardener im Talk. https://www.ardmediathek.de/video/deep-und-deutlich/selfmade-millionaerin-jill-hardener/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9iZjVkYzkzMy1mZjA2LTQ1ODMtODhmNS0yMzA2Y2FlZTg1MjY