Freitag, 16. August 2013

Diagramme der menschlichen Destruktivität

Die amerikanische Kaiser Permanente Krankenversicherung hat zwischen 1995 und 1997 eine einzigartige Studie mit Daten von 17.421 Versicherten bzgl. dem Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand durchgeführt. Die Ergebnisse wurden z.T. online hier  und hier  vorgestellt.

 Unter belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) wurde verstanden:
Emotionale Misshandlung, Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, körperliche Vernachlässigung, Zeuge von Gewalt gegen die Mutter, Alkohol und Drogenmissbrauch in der Familie, Aufwachsen in einer Familie mit einem psychisch kranken oder chronisch depressiven oder suizidgefährdeten Familienmitglied, Verlust eines Elternteils durch Trennung oder Scheidung, Aufwachsen in einer Familie, in der eine Person im Gefängnis sitzt.

Je mehr belastende Kindheitserfahrungen erlebt wurden, desto deutlicher wurden die Zusammenhänge zu diversen Gesundheitsproblemen wie Alkoholismus, Drogenkonsum, Depressionen, Herzkrankheiten, Rauchen, Übergewicht, Selbstmordversuchen, Lungenerkrankungen (COPD), Fehlgeburten/ Tod des Fötus usw. aber auch bzgl. dem Erleben von Partnergewalt oder Promiskuität.

Unten habe ich drei Diagramme aus dem Text The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Health:  Turning gold into lead von Vincent J. Felitti aus dem Jahr 2002 entnommen, die bildlich sehr gut darstellen, wie mit jeder weiteren Belastungsart (ACE) die Wahrscheinlichkeiten für diverse (sowohl individuell als auch gesellschaftlich bedeutsame) Probleme (in diesem Beitrag ausgewählt: Selbstmordversuche, Drogenkonsum und Rauchen) ansteigen.

 




Diese wirklich eindrucksvollen Diagramme möchte ich um ein weiteres ergänzen, dass ich der Studie “BAIER, D., PFEIFFER, C., SIMONSON, J. & RABOLD, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt .Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 107). Hannover: KFN." auf Seite 80 entnommen habe. Für die Studie wurden 44.610 SchülerInnen in Deutschland befragt. Da die Grafik hier nicht ganz deutlich zu lesen ist siehe einige Anmerkungen unter dem Bild oder Originalquelle! Die Balken ganz links mit den niedrigsten Täterwerten  treffen auf die Gruppe zu, die keine körperliche Elterngewalt erlebt hat. Die weiteren Balken zeigen eindrucksvoll auf, dass mit jedem Anstieg bzgl. Häufigkeit und Schwere der Gewalt auch die Täterwerte ansteigen. Die höchsten Täterwerte finden sich somit ganz rechts bei der Gruppe derer, die schwere oder häufig leichte Gewalt in Kindheit UND Jugend erlebt haben. 


KFN-Diagramm: Gewalttäterraten nach erlebter körperlichen Elterngewalt in Kindheit und Jugend
Erläuterungen da Grafik undeutlich:
Leicht graue Balken zeigen an, ob innerhalb von 12 Monaten ein Gewaltdelikt begangen wurde
Die dunkelgrauen Balken
zeigen die Mehrfachtäterschaft (mind. 5 Taten) an.
Balkengruppierung von links nach rechts: "keine Gewalt in der Kindheit"; "selten leichte Gewalt nur in Kindheit"; "selten leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"; "schwere oder häufig leichte Gewalt nur in Kindheit"; "schwere oder häufig leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"




Ich fasse zusammen:

Beide Studien und die ausgewählten Diagramme machen deutlich, dass destruktive Kindheitserfahrungen große destruktive Auswirkungen auf  Menschen haben können. Die ACE Studie hat besonders herausgestellt, dass eine Kombination verschiedener Belastungserfahrungen auch die schwersten Folgen hat. Die größten Gesundheitsprobleme hatten diejenigen, die von fast allen Belastungsfaktoren betroffen waren. Die KFN Studie und das gezeigte Diagramm machen deutlich, dass auch innerhalb eines Belastungsfaktors (in diesem Fall körperliche Elterngewalt) die verschiedenen Abstufungen Folgen haben. Je schwerer und je häufiger Elterngewalt erlebt wurde, desto höher war die Wahrscheinlichkeit für eine eigene Täterschaft.  Letztlich bin ich sicher, dass eine große Studie, die alle ACE Werte erfassen und in Zusammenhang mit eigenem Gewaltverhalten bringen würde, ein ähnliches Diagramm hervorbringen würde, wie oben gesehen. Zusätzlich könnte man dann noch innerhalb der einzelnen Belastungsfaktoren Abstufungen vornehmen (so wie beim KFN) und entsprechend ins Verhältnis zum eigenen Gewaltverhalten setzen. Kleinere Studien wie die von Pincus und Gilligan haben bereits gezeigt, dass grausame Mörder die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten, die man sich vorstellen kann. Sie haben – um hier im Kontext dieses Beitrages zu bleiben – ACE Werte von wohl mindesten 5 und auch innerhalb der Belastungsfaktoren wie z.B. bei der körperlichen und emotionalen Misshandlung die denkbar schwersten Formen erlebt.
Im historischen Rückblick lassen sich schließlich und gedanklich ähnliche Diagramme zeichnen, wenn man sich Arbeiten von Lloyd deMause (zur Evolution der Kindheit u.a. hier und zum Rückgang menschlicher Gewalt hier ganz unten im Text) und auch von Steven Pinker anschaut. Beide stellen historisch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder (mit besonders rasanten Entwicklungen im 20. Jahrhundert) fest. Parallel dazu nahm menschliche Gewalt ab.

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