Dienstag, 15. Dezember 2015

Bewusstsein für die Geschichte der Kindheit: Beispiel "straffes Wickeln"

Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie die Psychohistorie das Bewusstsein schärft. Das gilt für mich im Alltag und beim Lesen von Medienartikeln (wenn z.B. mal wieder von Feinden als „Krebsgeschwür“ die Rede ist, das man entfernen muss)  und aktuell nach einem Beitrag, den ich auf ARTE TV gesehen habe. Dort wurde das Bild "Dame im Bad" von François Clouet (ca. 1571) besprochen.  Das Bild zeigt im Vordergrund die adlige Diana von Poitiers:



In dem Bild finden sich gleich zwei wichtige Hinweise bzgl. der Kindererziehung vergangener Zeit.
1. Der Säugling wird von einer Amme gestillt
2. Der Säugling wurde sehr straff eingewickelt

Lloyd DeMause hat vielfach nachgewiesen, dass wohlhabende Frauen in der Geschichte routinemäßig ihre Kinder nicht gestillt haben, sondern zu Ammen gaben. Mehr noch, sie gaben sie wirklich weg. Nach den Ammen kümmerten sich Kindermädchen etc. um sie. Mutter und Kind (der Vater sowieso) wurden so systematisch voneinander entfremdet.

Das sehr straffe (monatelange) Einwickeln von Kindern ist ein Akt von Terror gegen den Säugling und dies kann nicht ohne Folgen bleiben.
DeMause (2005: Das emotionale Leben der Nationen, S. 144) hat darauf hingewiesen, dass die derart eingewickelten Säuglinge (er bezieht sich in dem Fall auf Deutschland) ergänzend oftmals in dunklen Räumen hingelegt wurden und für sich blieben.

Ich denke, man muss sich einmal vorstellen, wie sich dies für einen selbst (als Erwachsener)  anfühlen würde.  Man stelle sich vor, man würde derart verschnürt, wie auf dem Bild „Dame im Bad“ zu sehen ist. Nur zum Essen würde sich jemand zuwenden, danach würde man so  verschnürt für sich bleiben, bis zu nächsten Mahlzeit, das ganze über Monate...

Vor einigen Jahren habe ich einen Bericht aus Afghanistan (leider keine genaue Quellenangabe, weil ich diese vergessen habe)  gesehen, wo genau diese Praxis in einem Dorf weiterhin gängig war (inkl. dem Verbleiben des Säuglings alleine in einem dunklen Raum). Eine Entwicklungshelferin versuchte über die Dorfältesten die Praxis vor Ort zu beenden.
Aber schon ein allgemeiner Bericht über das „Wickeln“ auf Wikipedia zeigt, dass diese Praxis so oder so ähnlich auch heute noch nicht ausgestorben ist.  Effekt für die Eltern: Die Säuglinge sind ruhiger und schlafen mehr. Über das Empfinden des Säuglings wird sich dabei hinweggesetzt. Die Reaktion des Säuglings wird auf Wikipedia so beschrieben. „Viele wehren sich zunächst gegen das Gewickelt-Werden, geben aber dann schnell auf und werden passiv.“ Was sollen sie auch anderes machen? Sie haben keine andere Wahl. Auch ein Erwachsener, der so eingewickelt würde, würde irgendwann aufgeben und sich psychisch ausschalten.

Wie schön, dass es heute viele Eltern gibt, die sich ganz natürlich darauf einstellen, dass nach der Geburt eines Kindes Unruhe und Schlaflosigkeit auf sie zukommen und die das einfach annehmen und sich kümmern. Ich las einmal eine Geburtsanzeige in einer Zeitung. Darin stand der Name des Kindes und der Eltern (inkl. Bild) und der Satz "Wir sind ab sofort auch nachts zu erreichen!"

1 Kommentar:

Michael Kumpmann hat gesagt…

Bei betrachtung des Bildes denke Ich vor Allem, die Hebamme sieht extrem gruselig aus. Vielleicht hat der Künstler da ja eigene Kindheitserinnerungen verarbeitet.