Freitag, 27. September 2024

Gewaltforschung: Kleine Weisheiten an Hand von fünf Textauszügen

In diesem Jahr sind mir fünf Zitate/Textauszüge besonders aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Dies möchte ich heute teilen: 


1. Kreislauf der Gewalt 

Der englische König George V. (1865 – 1936) sagte einst: 

"My father was afraid of his mother; I was frightened of my father, and I am damned well going to make sure that my children are afraid of me" (Montgomery 2024, S. 12)

Dieses eine Zitat steht zugespitzt für die gesamte Geschichte der Kindheit (und somit der Menschheit)! 

Kinder neigen dazu, sich mit ihren Eltern und deren Verhaltensweisen zu identifizieren, selbst wenn das elterliche Verhalten destruktiv ist. Wenn die Identifikation mit dem Aggressor wirkt, dann wird das (destruktive) elterliche Verhalten nicht hinterfragt, sondern auf die eine oder andere Art übernommen. Dies gilt umso mehr, je weiter wir historisch zurückschauen, denn früher waren die Bewegungs- und Entfaltungsräume der Menschen deutlicher begrenzter und auch das Erleben von alternativen Lebensformen/Verhaltensweisen war deutlich weniger als heute. Interessant ist hier ergänzend, dass König George genau in einer wichtigen Wendezeit lebte, denn um das Jahr 1900 begann sich Kindheit immer schneller zu verändern (inkl. einem beschleunigtem Trend des Rückgangs der Kindersterblichkeit) und auch die Anwendung von Körperstrafen wurde in der Folgezeit Stück für Stück hinterfragt. 


2. Selbsthass und Fremdschädigungen/Gewaltverhalten müssen zusammen gedacht werden

Die „Erotik-Influencerin“ und ehemalige Domina Jill Hardener hat in der Sendung „deep und deutlich“ (NDR 07.09.2024) u.a. über ihren gewalttätigen Alkoholikervater (der sie ablehnte), ihre Borderlinestörung, Selbsthass, ihren Suizidversuch im Alter von vierzehn Jahren, Sucht, kriminelles Verhalten und ihre Zeit im Gefängnis gesprochen. 

Über ihre frühere Gewalttätigkeit sagte sie rückblickend: "Leg Dich niemals mit jemanden an, der sein eigenes Leben nicht zu schätzen weiß. Man kennt dann einfach keine Gnade." 

Dies ist ein ganz zentraler Satz, um Gewaltverhalten zu verstehen!
Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat dem Thema Selbsthass auf Grund von destruktiven Kindheitserfahrungen und den Folgen daraus gleich ein ganzes Buch gewidmet („Der Fremde in uns“). Gewaltverhalten sagt immer auch etwas darüber aus, wie es den jeweiligen Akteuren innerlich geht (was den Gewaltopfern natürlich herzlich wenig hilft!). Manche Täter sind innerlich derart „abgestorben“, dass sie zu maximaler Gewalt fähig sind und diese sogar als befriedigend empfinden (z.B. sadistische Serienmörder). 

Ergänzend sagte Hardener mit Blick auf ihr Suchtverhalten und ihren damaligen „Borderline-Trip“, wie sie es nennt: „Alles was mir schadet, ist geil.“

Selbstzerstörung und Fremdschädigungen gehen oftmals Hand in Hand. Beides muss zusammen gedacht werden. Aus psychohistorischer Sicht lässt sich dies gedanklich auch auf ganze Gesellschaften übertragen. Wenn die Mehrheit einer Nation als Kind unter massiven Belastungen gelitten hat, dann können in bestimmten Phasen der Nationen (getriggert durch bestimmte Umstände, wie z.B. eine kollektiv erlebte Demütigung) auch diese Sätze gelten: 

"Leg Dich niemals mit jemanden an, der sein eigenes Leben nicht zu schätzen weiß. Man kennt dann einfach keine Gnade."

Alles was mir schadet, ist geil.“


3. Gewaltvolle Kindheit und Gewalt: Selbstverständlich besteht hier ein Zusammenhang.

Das folgende Zitat stammt von der Gerichtsreporterin Verena Mayer (2024): 

"Ich selbst habe in vielen Jahren vor Gericht eines gelernt: Die wenigsten Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, werden später zu Verbrechern. Aber so gut wie alle Verbrecher hatten es als Kinder schwer." 

Dies ist eine wahre und auch nachweisbare Erkenntnis. Sie gilt, das muss ich hier ergänzen, nach meinen Recherchen auch für Terroristen und Diktatoren. Das Schöne an diesem Zitat ist, dass hier ja eigentlich zwei Erkenntnisse dargestellt werden. 

1. Die meisten Menschen, die eine belastete Kindheit hatten, werden zu keinen auffälligen Tätern. 

Diese Erkenntnis wird oftmals bei dem Thema Gewaltursachen dazu benutzt, den Einfluss von Kindheit gering zu reden. Frau Mayer macht diese hier nicht: Sie denkt einfach beides!

2. Bei Tätern/Gewalttätern fallen belastete Kindheiten immer wieder deutlich auf. Sprich: Es gibt hier ganz offensichtlich einen Zusammenhang zwischen Opfererfahrungen und Täterverhalten, obwohl die meisten Opfer keine Täter werden. 

Das ist genau der richtige Ansatz, der auch die Komplexität der Realitäten von Menschen und ihrer Entwicklung mitdenkt. Wenn das genannte Zitat endlich Konsens würde, können wir weg von der Abwehr, Kritik und dem Geringreden bzgl. Kindheitseinflüssen und uns auf die Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen fokussieren, um Täterverhalten präventiv zu entgegen.  


4. Gewalttäter empfinden ihre traumatische Kindheit oftmals als "normal"

Der nächste Textauszug stammt von James Garbarino (2023), der über 30 Jahre lang als psychologischer Experte in Gerichtsfällen (USA) mit Mördern gearbeitet hat. 

Er schreibt zunächst, dass die von ihm untersuchten Mörder einen durchschnittlichen ACEs score (ACEs = Adverse Childhood Experiences) von sieben hätten. Dies liegt weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Garbarino merkt an, dass in den USA nur ein Kind von 100 einen ACEs score von sieben hat und fügt an: „The average mean score being 7, many guys have scores of 8, 9, or 10 (putting them in the worst 0.01% of the population)”

Jetzt wird es besonders interessant. Er berichtet, dass er die Mörder i.d.R. fragt, wie viele von 100 Kindern aus ihrem Umfeld wohl einen ACEs von sieben hätten. Die Antworten reichten von „alle“ bis zu 80%. Die gleiche Frage formuliert Garbarino dann bzgl. 100 Kindern aus der Allgemeinbevölkerung. Die Antworten wären meist: 50% oder mehr. „These guys think an extraordinary level of adversity is the norm rather than the exception it is. And, they tend to think that a high level of adversity is normal.”

Er ergänzt, dass diese Mörder zwar mit schweren Belastungen aufwachsen mussten, dies aber nicht immer als solches wahrnehmen. Im ACEs Fragebogen ist ein Punkt das Miterleben von häuslicher Gewalt in der Familie. Ein Mörder gab an, dass er dies nicht erlebt hätte. Im Gespräch sagte der Mann dann aber: "I only know of one time my grandma hit my mom in the eye and one time my mom`s boyfriend tried to cut her throat with a knife"

Dies sind besonders schwere Formen von häuslicher Gewalt, die dieser Mann als Kind miterlebt hat. Er scheint dies aber nicht als Problem und „Betroffenheit“ wahrgenommen zu haben. 

Die Mahnung von Garbarino ist enorm wichtig! Immer wieder zeigt sich, dass Kindheitsbelastungen eher untererfasst werden. 


5. Kultur der Gewalt - Lösungen brauchen viel Zeit

Ein Erfahrungsbericht aus Afghanistan von Taqi Akhlaqi (2023), in dem zunächst über ein "halbes Jahrhundert" von "alle Arten von Krieg und Blutvergießen" berichtet wird. Dann schreibt er: 

"Wenn man lange Zeit unter solchen Bedingungen lebt, wird man betäubt, als ob man unter Drogen gesetzt worden wäre. (...) Wer in einem solchen Umfeld aufwächst, empfindet Gewalt als natürlichen und unvermeidbaren Bestandteil des Lebens und nicht als etwas Ungewöhnliches. Im Gegenteil, eine friedliche Umgebung erscheint einem dann fremd."

Das Modell für Konfliktlösungen sei in einer solchen Gesellschaft sowohl auf der Makroebene als auch auf Mikroebene (in der Familie) Zwang und Gewalt als erste Option. 

Sich psycho-emotional aus diesem Geflecht zu befreien, ist ein unheimlich schwerer und langwieriger Prozess. Die westliche Allianz, die in Afghanistan unter der Führung von Bush einmarschiert ist, hat dies damals absolut ignoriert. Um diese Kultur der Gewalt abzubauen, braucht es ganz andere (auch traumainformierte) Konzepte und vor allem viel Zeit. 


Quellen:

Akhlaqi, T. (2023, 07. Dez.). Mit dem Islam lassen sich in Afghanistan Menschen für Gewalt und Krieg mobilisieren. Doch kaum einer würde seinen Kopf für Demokratie oder Redefreiheit riskieren. Neue Züricher Zeitung. https://www.nzz.ch/feuilleton/afghanistan-die-gewalt-ist-ueberall-und-vergiftet-die-menschen-ld.1767492

Garbarino, J. (2023). Perspectives on Adverse Childhood Experiences. Violence and Gender, Volume 10, Number 2. https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/vio.2023.0006

Mayer V. (2024,05. Sept.). Kolumne: Vor Gericht. Frühe Prägung. Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/leben/gericht-angeklagte-schwere-kindheit-lux.DBNBWmBExtYbaEeSbge1Az

Montgomery, H. (2024). Familiar Violence: A History of Child Abuse. Polity Press, Cambridge.

NDR - deep und deutlich (2024, 07. Sept.). Heroin, Knast, Erotik-Millionärin | Jill Hardener im Talk. https://www.ardmediathek.de/video/deep-und-deutlich/selfmade-millionaerin-jill-hardener/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9iZjVkYzkzMy1mZjA2LTQ1ODMtODhmNS0yMzA2Y2FlZTg1MjY


Mittwoch, 28. August 2024

ChatGPT über eine imaginierte liebevolle und gewaltfreie Kindheit von Adolf Hitler

Ich habe heute ChatGPT folgende Frage gestellt: 

"Wäre Adolf Hitler auch zum Massenmörder geworden, wenn er eine liebevolle und gewaltfreie Kindheit gehabt hätte?"


Antwort KI-Chatbot, Modell GPT-4o mini:

Das ist eine komplexe und vielschichtige Frage, die Historiker und Psychologen seit langem beschäftigt. Es gibt viele Faktoren, die das Verhalten und die Entscheidungen eines Menschen beeinflussen, darunter persönliche Erfahrungen, gesellschaftliche Umstände, Ideologien und psychologische Aspekte.

Eine liebevolle und gewaltfreie Kindheit könnte möglicherweise einige der negativen Einflüsse und Traumata, die zu extremen Verhaltensweisen führen, gemildert haben. Allerdings ist es wichtig zu beachten, dass die Entwicklung von extremen Ideologien und das Handeln in einer Weise, die zu Massenmord führt, auch stark von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten abhängt.

Letztendlich lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wie sich Hitlers Leben und Handeln unter anderen Umständen entwickelt hätte. Es bleibt ein Thema, das viele Fragen aufwirft und zu weiterführenden Diskussionen anregt.

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Mein Kommentar: 

Ich finde die KI Antwort erst einmal sehr sauber, klar und facettenreich formuliert. Ähnlich würden auf diese Frage viele Fachleute antworten. Wobei ich mir sogar sicher bin, dass viele Fachleute (vor allem Historiker) den Satz "Eine liebevolle und gewaltfreie Kindheit könnte möglicherweise einige der negativen Einflüsse und Traumata, die zu extremen Verhaltensweisen führen, gemildert haben" nicht so ausgesprochen hätten, denn sie lehnen Kindheitseinflüsse bei der Betrachtung von politischen Akteuren in der Regel generell ab. Insofern ist die KI da schon weiter. 

Ich sehe es so: Ich bin in vielen Gebieten wirklich saudumm oder uninformiert. Ehrlich gesagt muss ich manchmal sogar einfache Rechenaufgaben mit dem Taschenrechner machen (Mann wird ja nicht jünger...).

Ganz selbstgerecht muss ich heute trotzdem sagen, dass ich bzgl. der Antwort auf die o.g. Frage "wissender" bin :-) . Ich finde, dass ich in einem einzigen Punkt da besser als die KI bin! 

Meine Antwort: Wäre Adolf Hitler als Kind geliebt worden und wäre er gewaltfrei aufgewachsen, er wäre nicht zum Massenmörder geworden. Und dies bei gleichem gesellschaftlichem Umfeld und Grundbedingungen. 

Nun, mal schauen was die KI in den nächsten Jahren auf die gleiche Frage antwortet. Ich werde dies jährlich prüfen. Da geht bestimmt noch was :-)


Samstag, 17. August 2024

Kindheit von James David (kurz. J. D.) Vance (Vize von Donald Trump)

Für an Psychohistorie Interessierte ist es ein absoluter Glücksfall, dass ein Politiker wie James David (kurz. J. D.) Vance (Vize von Donald Trump) eine offene und ehrliche Autobiografie verfasst hat. Derart viele Einblicke in Kindheit und Jugend eines politischen Akteurs erhält man in der Form nur selten. 

Es geht um das Buch (ein Bestseller) „Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ (Ullstein, Berlin; 2017).

Ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten etliche Bücher (auch Autobiografien) und Schilderungen über Kindesmisshandlung und destruktive Eltern gelesen. Das Buch „Hillbilly-Elegie“ hätte meiner Auffassung nach auch einen Titel wie „Die Geschichte meiner Kindheit, die Geschichte eines Albtraums“ oder ähnliche tragen können. Es entspricht im Prinzip klassischer „Betroffenen“-Literatur. Es wäre dann aber nicht zum Bestseller geworden. Zum Bestseller wurde es offensichtlich, weil der Autor seine Familiengeschichte in den Kontext der frustrierten, weißen und armen Arbeiterschicht (den „Hillbillys“) setzt (seine Geschichte also nicht als Einzelfall sieht, sondern als klassisch für diese Schicht in den USA) und die Öffentlichkeit in dem Buch nach Erklärungen zur Trump Wahl suchte. 

Ich habe derart viele Notizen zu diesem Buch gemacht, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. 

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass er das Buch seinen Großeltern (mütterlicherseits), im Buch „Mamaw“ und „Papaw“ genannt, gewidmet hat. Sie waren ihm lange Zeit Elternersatz. 

Vielleicht kann man mit seiner Bemerkung beginnen, dass er der „sitzengelassene Sohn“ eines Mannes war, „den ich kaum kannte“ und einer Mutter „die ich lieber nicht gekannt hätte“ (Vance 2017, S. 20). Die Eltern trennten sich früh und J. D. musste mit vielen verschiedenen (oft schwierigen) „Ersatzvätern“ (wechselnden Partner der Mutter) umgehen lernen. Das an sich ist bereits tragisch und belastend für ein Kind. Was im Laufe des Buchs alles an Details dazukommt, sprengt teils die Vorstellungskraft. 

Bereits der Umgang der Mutter mit dem Säugling ist destruktiv: „Ich war neun Monate alt, als Mamaw meine Mutter zum ersten Mal dabei erwischte, wie sie Pepsi in mein Fläschchen tat“ (S. 30). 

Bzgl. seiner Mutter spricht er mehrfach von „bizarren“ Verhaltensweisen. Diese stehen offensichtlich im Zusammenhang mit ihrem langen Suchtverhalten (Alkohol- und Drogenmissbrauch). Den Drogenmissbrauch seiner Mutter hatte J. D. als Kind lange Zeit ausgeblendet bzw. gar nicht einordnen können. Wenn es mal wieder schlecht zu Hause lief, pendelte er halt zu seinen Großeltern und danach wieder zurück zur Mutter. Erst nach dem Tod seines Großvaters wurde ihm bewusst, dass seine Mutter ein Drogenproblem hatte (S. 132).

J. D. Vance verehrt seine Großeltern (Sie waren „fraglos und uneingeschränkt das Beste, was mir hätte passieren können“ S. 32) und sicherlich haben diese ihn auch ein Stück weit Ausgleich und Sicherheit geboten. 

Vergessen werden sollte dabei aber nicht, dass auch die Großeltern in ihrem Inneren großes Destruktionspotential besaßen, wie offensichtlich auch große Teile der restlichen Familie. 

Seine Großmutter hätte Familiengeschichten nach als Zwölfjährige fast einen Mann erschossen, der Kühe stehlen wollte. Sie traf ihn nur am Bein (S. 23). Seine Großmutter bezeichnet J.D. als „durchgeknallte Waffennärrin“ (S. 23). „Onkelt Pet“ hatte einst einen Mann, der ihn beleidigt hatte, bewusstlos geschlagen und ihn dann mit einer elektrischen Säge aufgeschlitzt. Der Mann konnte im Krankenhaus gerettet werden (S. 22). 

Als seine Großeltern noch selbst ihre Kinder zu Hause hatten, konnten sie „ohne jede Vorwarnung in die Luft gehen“ (S. 49), wie sich ihr Sohn Jimmy erinnert. 

Mitte der sechziger Jahre war der Großvater zum Alkoholiker geworden, die Mutter von J. D. war zu der Zeit ca. vier Jahre alt (S. 48f.). J.D. hatte seinen Großvater anders bzw. deutlich positiver als Kind erlebt (wohl auch, weil der Großvater vorher mit dem Trinken aufgehört hatte), bezeichnet ihn aber bzgl. der Vergangenheit als „gewalttätigen Trinker“ und seine Großmutter als „gewalttätige Nichttrinkerin“ (S. 52). 

Jimmy erinnert sich an Szenen von häuslicher Gewalt zwischen den Eltern (bzw. Großeltern von J. D.). Dies gipfelte in einen Mordversuch: Die Großmutter hatte damals angekündigt, dass sie ihren Mann umbringen würde, wenn er nochmals betrunken nach Hause käme. Als dies der Fall war ging sie „in aller Seelenruhe in die Garage und kehrte mit einem Kanister Benzin zurück, den sie über ihren Mann ausgoss“ (S. 53). Sie zündete ihn an und er konnte nur gerettet werden, weil eine seiner beiden Töchter sofort (es ist nicht ganz klar, ob dies die Mutter von J. D. war) aufsprang und das Feuer löschte. 

Im Leben der Großeltern finden sich – neben den bereits erwähnten Erfahrungen – weitere traumatische Erlebnisse (u.a. starb der Vater des Großvaters früh, die Mutter des Großvaters gab ihn weg zu ihren Eltern; acht Fehlgeburten der Großmutter, ihr erstes Kind bekam sie als Teenager im Alter von vierzehn Jahre, der Säugling starb auf der Flucht vor den eigenen Eltern; S. 33, 36) die sicherlich auf die eine oder andere Weise an die Nachkommen weitergegeben worden sind. 

Ganz eindeutig muss man die massiven Probleme der Mutter von J. D. Vance vor dem Hintergrund ihrer eigenen traumatischen Kindheit sehen, was auch J. D. deutlich so sieht (S. 56). Das Stichwort lautet hier: transgenerationale Traumata.

Die Mutter von J. D. neigte zu Ohrfeigen, Schlägen und Kniffen gegen ihre Kinder (S. 90, 101, 109), aber auch „brutale Beleidigungen“ (S. 109) waren Routine. Dazu kam ihr Suchtverhalten. 

Als schrecklichsten Tag seines Lebens bezeichnet J. D. den Tag, als seine Mutter drohte, ihn umzubringen. Im Auto wurde sie wütend auf ihren Sohn, beschleunigte den Wagen und sagte, sie werde jetzt einen Unfall bauen und sich und ihn umbringen (S. 91). Sie hielt dann doch an, um ihren Sohn durchzuprügeln. Er konnte zu einem Haus flüchten. Seine Mutter trat die Tür dort ein, zerrte ihren Sohn nach draußen und konnte dann von der benachrichtigten Polizei gestoppt werden. Danach lebte J. D. bei seinen Großeltern.

Dass seine Mutter durchaus das Zeug hatte, ihren angedrohten „erweiterten Suizid“ durchzuführen, zeigt ein früherer Selbstmordversuch mit einem Auto (sie war alleine unterwegs), als J. D. elf Jahre alt war (S. 89). 

Dazu kam für J. D. das vielfache Miterleben von häuslicher Gewalt zwischen seiner Mutter und Partnern (vor allem auch Bob). J. D. selbst spricht von „traumatischen Szenen zu Hause“, die er miterlebt hatte und die seine Gesundheit damals angriffen (S. 87). 

Insgesamt ging vieles nicht spurlos an J. D. vorbei. In der Schule wurde er schwieriger und zeigte Anzeichen von emotionalen Problemen. Er selbst berichtet ergänzend, dass er Jahrzehnte später eine Erzieherin aus seinem Kindergarten wieder getroffen hätte. Sein Verhalten als Kind sei damals so schwierig gewesen, dass sie beinahe den Beruf gewechselt hätte (S. 113). 

Ab dem Alter von sieben Jahren hat J.D. eigenen Angaben zu Folge über 20 Jahre lang einen immer wiederkehrenden Albtraum von seiner ihn verfolgenden Mutter gehabt. In verschiedenen Fassungen des Albtraums änderten sich auch die Verfolger (S. 294). Diese Traumafolgen sind nur logisch und kaum verwunderlich. 

J. D. Vance hat mit seiner Autobiografie zweifelsohne auch stolz zeigen wollen: Schaut her, ich habe es, „trotz allem“, geschafft und meinen amerikanischen Traum verwirklicht. Im hinteren Teil des Buchs geht er auf seinen beruflichen Werdegang und seine Erfolge ein. 

Ich gönne ihm seinen beruflichen Erfolg. Was mich viel mehr umtreibt ist, dass er jetzt als Vize neben dem „destruktiven Vater“ Donald Trump steht. Sieht er nicht, dass er dabei ist, erneut in der Traumafalle zu landen und die Geschichte seiner Familie sich fortzusetzen droht (diesmal auf der politischen Bühne)t? Sieht er nicht die ganzen destruktiven „Ersatzväter“ seiner Kindheit in den Augen von Trump?

Kritiker mögen jetzt anmerken, dass Vance früher Trump-Gegner war. Ich halte diesen Sachverhalt für nicht all zu wichtig. Bedeutsam ist nur, dass er jetzt Trump-Verehrer ist und sich diesem gehorsam unterordnet. 

Früher demütigte Trump seinen heutigen Vize Vance öffentlich indem er sagte: “J.D. is kissing my ass he wants my support so bad“ (https://edition.cnn.com/2022/09/19/politics/donald-trump-jd-vance-ohio-rally/index.html)

Nun, Vance ist Demütigungen gewohnt und scheint sich auch dieser zu ergeben. 

J. D. Vance hat seine persönliche Kindheitsgeschichte wie schon beschrieben verallgemeinert. Diese sei klassisch für die „Hillbillys“ in den USA. Die vielen Daten, die wir über Kindheit in den USA haben, bestätigen ergänzend, dass diese Nation deutlich im Rückstand ist, wenn es um das Kindeswohl geht. Und ja, dies hat ganz sicher auch etwas mit den politischen Verwerfungen in den USA und mit dem Phänomen „Donald Trump“ zu tun. J. D. Vance ist dabei, seine entsprechende Rolle zu übernehmen. 


Montag, 12. August 2024

Kindheit von Ilse Koch (gefürchtete KZ-Kommandantengattin)

Ilse Koch war die gefürchtete Kommandantengattin von Karl Otto Koch und wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Familie Koch lebte eine ganze Zeit lang ganz nah am KZ Buchenwald.

Der Biograf Pierre Durand schreibt über die Kindheit von Ilse Koch:
Man hat behauptet, Ilse Koch habe eine harte Kindheit gehabt; als Tochter einer Prostituierten, mit zwölf Jahren vergewaltigt, habe sie Gefallen an unmoralischen Sitten gefunden, (…). Aber die Ermittlungen der Polizei und der Justiz zum Augsburger Prozess zeigten, dass sie ein normales Kind war und ein Elternhaus hatte, in dem nichts Ungewöhnliches vorfiel“ (Durrand 1989, S. 13)

Und er ergänzt an anderer Stelle: „Vor ihrer Geburt bis zu ihrem Eintritt in die SS-Welt erscheint uns Ilse Koch, geb. Köhler, als Kind, Jugendliche und junge Frau, die sich nicht aus der anonymen Masse der Deutschen ihrer Zeit abhebt“ (Durrand 1989, S. 15). 

Ja, es wäre in der Tat zu einfach, wenn bei einer Täterin wie Ilse Koch extreme und von der Norm deutlich abweichende Kindheitshintergründe gefunden worden wären. 

Pierre Durand macht es sich hier aber dann doch zu einfach (wie so viele seiner Zunft)! Eine nach Außen intakte Kleinfamilie und durchschnittliche Berufe bzw. Rollenaufteilungen der Eltern sind nicht gleichbedeutend mit einem unbelasteten Aufwachsen. Ilse wurde 1906 geboren. Das Datum an sich reicht bereits aus, um viele Mutmaßungen u.a. bzgl. autoritärer Erziehung und kindheitsfeindlichen Umgangsnormen in den Raum zu stellen. 

Auch der Biograf Arthur L- Smith jr. hat nicht viel über die Kindheit von Ilse Koch geschrieben. Vermutlich erklärt sich dies u.a. auch durch folgendes Verhalten von Ilse Koch selbst: „Auf Befragen lehnte Ilse Einzelauskünfte über ihre Kindheit und Jugend ab; sie beschränkte sich nur auf einen groben Umriss“ (Smith 1994, S. 7). 

Bei Smith finden sich aber zumindest Anhaltspunkte und aufschlussreiche Informationen, die Ableitungen zulassen. 

Zunächst fällt mir auch ein Satz ins Auge, der klassisch ist. Über den KZ-Kommandant Karl Otto Koch  schreibt der Biograf: „Karl wurde 1897 in Darmstadt geboren. Er verbrachte eine relativ normale Kindheit, obwohl seine Mutter starb, als er noch ziemlich jung war“ (Smith 1994, S. 12). Der Tod der Mutter stellt für ein Kind eine schwere und traumatische Erfahrung dar. Das Wortpaar „normale Kindheit“ im gleichen Atemzug mit der Schilderung dieser traumatischen Erfahrung zu nennen, ist schon bemerkenswert. 

Details über die Kindheit von Ilse fehlen wie gesagt, insofern fällt mein Augenmerk auf ihr eigenes Erziehungsverhalten (was oftmals Rückschlüsse über selbst erlebte Erziehungsnormen zulässt). 

1940 wurde Gudrun (das jüngste Kind der Familie Koch) geboren. „Karls Stiefschwester, Erna Raible, half Ilse zeitweise mit den Kindern und ging an, bei den Kochs zu wohnen, als Gudrun geboren wurde. Später kümmerte sie sich um die Kinder, wenn Ilse in Ferien war. Während eines Skiurlaubs, wahrscheinlich verbrachte Ilse ihn allein, erkrankte Gudrun ernstlich, und die beunruhigte Frau Raible ließ die Mutter nach Hause rufen. Das Kind starb jedoch, und Frau Raible warf Ilse vor, sie habe Gudrun vernachlässigt und kehrte nie wieder zur Villa Koch zurück“ (Smith 1994, S. 33). Gudrun starb im Februar 1941 (Smith 1994, S. 258).
Ilse Koch scheint den Ausführungen nach oft ohne ihre Kinder in die Ferien gefahren zu sein. Sie ließ auch den Säugling Gudrun zurück. Es wird deutlich, dass Frau Raible ihr die Schuld für den Tod des Säuglings zuschreibt. 

Das Bild über die Erziehungsnormen bei den Kochs wird an anderer Stelle noch deutlicher. Karls ältester Sohn aus erster Ehe, Manfred, lebte eine Zeitlang bei der Familie in Buchenwald. Manfred lehnte es aber ab, Ilse als Mutter zu akzeptieren und gehorchte ihr kaum.
Eines Morgens gab Karl einem SS-Mann, der für die Zellen in einem Bunker am Haupteingang zuständig war, den Auftrag, Manfred in eine leere Zelle zu bringen und ihn dort zu lassen, bis er ihn holen lasse. Jemand hörte, wie Koch zu Manfred sagte: `Du wirst solange in der Zelle bleiben, bis du versprichst, nicht wieder frech zu deiner Mutter zu sein.` Als man Koch im Laufe des Tages mitteilte, der Junge weine, verbot er jedem, sich ihm zu nähern. Schließlich ließ er am Abend, nach dem Essen, den Jungen nach Hause holen, und als der Wachmann mit Manfred erschien, kam Frau Koch mit den Hunden aus dem Haus gerannt, um ihn zu begrüßen. Sie fragte ihn: `Wirst du jetzt brav sein?.` Doch Manfred ging einfach wortlos an ihr vorbei ins Haus. Fast unmittelbar nach diesem Ereignis wurde er in ein Internat gegeben und kehrte nur während der Schulferien zurück“ (Smith 1994, S. 33,36). Auch ein anders Kind von Karl wurde früh weggegeben: „Den jüngste Sohn hatte man wegen geistiger Defekte in eine Anstalt eingewiesen“ (Smith 1994, S. 33). 

Die Eheleute Karl und Ilse hatten keine Skrupel, Manfred zur Strafe in eine Zelle im Gefängnistrakt des Konzentrationslagers Buchenwald zu stecken, mit echten Häftlingen in den Nebenzellen. Eine unfassbar kalte Tat gegen ein Kind. Sein weiterer Ungehorsam gegenüber Ilse hatte eine dauerhafte Trennung von der Familie zur Folge. 

Auch die Ehe der beiden war alles andere als vorbildlich, gerade auch, wenn man sich das NS-Propagandabild der "deutschen Ehe" vor Augen führt. Sowohl Ilse als auch Karl waren untreu und es gab diverse Seitensprünge (Smith 1994, S. 37). 

1943 wurden Karl und Ilse Koch von den Nazis verhaftet. 1944 wurde Karl zum Tode verurteilt (das Urteil wurde am 05. April 1945 im KZ Buchenwald vollstreckt), Ilse wurde freigesprochen. Im Januar 1945 zog Ilse bei Karls Stiefschwester Frau Raible ein. „März: Frau Raible fordert Ilse auf, das Haus zu verlassen; Begründung: Ilses Trunkenheit. Ilse zieht mit den Kindern in ein Hotel, fährt fort zu trinken“ (Smith 1994, S. 259).
Am 02. September 1967, nach diversen Anklagen und ihrer langen Inhaftierung, endete das Leben von Ilse Koch durch Selbstmord in ihrer Zelle. 

In der Familie Koch lassen sich an Hand der gezeigten Infos destruktive Dynamiken und Verhaltensweisen nachweisen. Vor allem der kalte Umgang mit Kindern lässt hier aufhorchen. Die Vermutung liegt nahe, dass sowohl Karl als auch Ilse einen ähnlich kalten Umgang in ihren eigenen Elternhäusern erlebt haben. 

Nebenbei fand ich bei Smith auch eine Information über Bestrafungsformen gegenüber KZ-Insassen in Buchenwald. „Die Prügelstrafe wurde auf einem sogenannten `Bock` vollzogen, einem tischähnlichen Holzgestell, auf dem der unglückliche Gefangene festgeschnallt und mit einem Bambusstock oder einer Weidenrute auf das entblößte Gesäß geschlagen wurde. Die Wucht der Schläge – gewöhnlich 25 Hiebe – brachte häufig Blutgefäße zum Platzen (…) `25 zu bekommen` oder `über den Bock zu gehen` war eine Erfahrung, die unter Kochs Kommando Tausende Gefangene erlitten“ (Smith 1994, S. 42). 

Diese Art der Strafform (knieend über einen Holzgegenstand gelehnt) mit Schlägen auf das Gesäß war gängige Strafform im Deutschen Reich gegen Kinder! Hier haben die SS-Leute ganz eindeutig das wieder-aufgeführt, was sie als Kind selbst erlitten haben (dies gilt vermutlich auch für Karl Koch selbst). 


Verwendete Quellen:

Durrand, P. (1989). Die Bestie von Buchenwald. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (4. Auflage). 

Smith, A. J. jr. (1994). Die Hexe von Buchenwald. Der Fall Ilse Koch. Böhlau Verlag, Weimar – Köln – Wien. (2. Unveränderte Auflage)

Freitag, 26. Juli 2024

Kindheit von Benjamin Netanyahu. Viele Fragezeichen.

Über die Kindheit von Benjamin Netanyahu fand ich nur einige wenige aufschlussreiche Infos. 

Ich sehe diesen Beitrag insofern nicht als eine abschließende Gewissheit, sondern empfand diese Recherche eher als ein kleines „Lehrstück“ für die Kindheits-Biografieforschung und insofern auf einer allgemeinen Ebene erkenntnisreich.

Oft schon habe ich betont, wie schwierig es ist, die Wahrheit über Kindheitserlebnisse herauszufinden bzw. ein deutliches Bild zu bekommen. Erwachsene neigen oftmals dazu, ihre Kindheit zu beschönigen und negative Erlebnisse auszuklammern. Eltern bleiben idealisiert. Das Grundproblem ist immer auch, dass das, was man selbst als Kind Zuhause erlebt hat, für einen Menschen nun mal „normal“ war und ist. 

Laut dem Biografen Anshel Pfeffer scheint in der Familie Netanyahu eine gewisse Strenge geherrscht zu haben. „From their childhood friends` recollections, it is clear that the boys chafed under the strict discipline of their household” (Pfeffer 2018, S. 60).
Zu dieser Strenge gehörten demnach auch Körperstrafen. Der ältere Bruder Yoni wurde von seiner Mutter Tzila geschlagen. „Headstrong Yoni was forever testing the boundaries. Friends remember Tzila slapping him when she discovered that as a prank he had purloined a stamp collection that belonged to one of the neighbors. Bibi was always more obedient and was less likely than his older brother to break the rules” (Pfeffer 2018, S. 60). 

Zischen 14 und 16 Uhr waren Zuhause keine Freunde erlaubt, die Zeit war reserviert für Hausaufgaben und Lesen. „It was also the only time of the day in which the boys had their father`s attention” (Pfeffer 2018, S. 56). Bibi erinnert sich dem Biografen nach an diese Zeit in der Form, dass der Vater vor allem über Geschichte unterrichtete. Die Mutter sei aber die meiste Zeit über die Axe der Familie gewesen und habe die Kinder erzogen. Der Vater hätte ihnen zumindest Schachspielen beigebracht.

Benjamin Netanyahu selbst schreibt in seiner Autobiografie: „My parents have often been portrayed as harsh disciplinarians. Nothing could be further from the truth. Far from disciplining us, they let us wield a degree of independence virtually unimaginable today. If discipline was in order, it was usually provided by Yoni, who intervened to keep the peace between Iddo and me” (Netanyahu 2022, S. 14).

Netanyahu beschreibt eine Szene, die bei mir gewisse Fragezeichen hinterließ:
At times, when my brothers and I got too raucous even for her, she tried in vain to harness my father's paternal authority, I was often the source of the problem, being known in my childhood as the akshan, or the `stubborn one`(Netanyahu 2022, S. 16). Seine Mutter hätte dann den Vater aufgefordert, die Dinge zu regeln:
My father dutifully got up from the sofa to discipline me. Alarmed, I ran to the other side of the room and suddenly turned and faced him, a five-year-old with arms akimbo. ´Just because you're bigger than me doesn't mean you have the right to hit me,` I lectured him (…)” (Netanyahu 2022, S. 16). Der Vater hätte sich dann einer Frau zugewandt und gesagt, dass der Junge Recht habe und „excused himself from a task he wasn't planning to undertake anyway“ (ebd.). 

Wir haben hier also zwei komplett unterschiedliche Einschätzungen über den Erziehungsstil der Eltern. Was ist nun wahr, was nicht?

Der Biograf war nicht dabei und ist auf seine Quellen angewiesen. Benjamin Netanyahu unterliegt dagegen den psychischen Prozessen, die im Rückblick auf die eigene Kindheit bei jedem Menschen wirken. 

Ich möchte jetzt eigene Interpretationen hinzufügen. Netanyahu rechnete in der rückblickend erinnerten Szene mit einer durch die Mutter an den Vater delegierten körperlichen Bestrafung durch Schläge. Der Vater hätte nicht das Recht ihn zu schlagen, habe er verkündet und tat es dann auch nicht. Der Fünfjährige steht in diesem Bericht als selbstbewusstes Kind dar, das früh seine Meinung sagte. Warum aber rechnet ein fünfjähriges Kind mit Schlägen, wenn es – angeblich – vorher keine harten Erziehungsmethoden in der Familie gab? 

Außerdem hat Netanyahu seine Mutter in dieser Szene ausgeblendet. Sie habe delegiert und erwartete Strenge vom Vater. Über den Erziehungsstil seiner Mutter und ob sie Gewalt ausübte oder nicht berichtet Netanyahu dagegen nicht. Er verehrte sie und hat bzgl. beider Eltern bestritten, dass diese „harsh disciplinarians“ gewesen wären. Mehr erfahren wir dazu nicht von ihm.
Der Biograf Anshel Pfeffer betonte dagegen, dass die Mutter die Haupterziehungsaufgaben übernahm und erwähnte wie oben beschrieben mütterliche Schläge gegen den Bruder. 

Wir sehen also, wie man in der Kindheits-Biografieforschung immer wieder auch Widersprüche findet und leider auch etwas interpretieren und deuten muss. 

Ich lasse an dieser Stelle viele Fragezeichen über die Kindheit von „Bibi“ im Raum stehen. 
Für mich bringt dieser Beitrag im Grunde vor allem Erkenntnisse über die Probleme der Kindheits-Biografieforschung.

Der Lebensweg von Benjamin Netanjahu wird ergänzend durch den gewaltsamen Tod seines Bruders, seine eigene militärische Prägung/Ausbildung (u.a. in einer Spezialeinheit), entsprechende Kampferlebnisse und die unfassbar komplizierte und konfliktreiche Lebenssituation in der Region geprägt sein. 


Verwendete Quellen:

Netanyahu, B. (2022). Bibi: My Story. Thereshold Editions, New York. 

Pfeffer, A. (2018). Bibi: The Turbulent Life and Times of Benjamin Netanyahu. Hurst & Company, London. 

Freitag, 7. Juni 2024

Kindheit von Mohamed Siad Barre (Somalia)

Mohamed Siad Barre war bis 1991 Diktator Somalias. Zufällig bin ich heute auf seine enorm traumatische Kindheit aufmerksam geworden. 

According to his biographers, at the tender age of 10, young Muhammad first witnessed the murder of his own father in the Shilaabo area of Eastern Ethiopia where he was born. Subsequent to this, Barre became an orphan after his mother was also killed when the Mullah battled with the Europeans across the length and breadth of the Somali Peninsula. The shock and impact of this life experience and the difficult circumstances of life as an orphan put a very deep scar in his psyche.” (Njoku 2013, S. 126).

Der Autor kommentiert gleich anschließend, dass diese schwierige Kindheit in einer Verbindung zu dem listigen, unsicheren, rachsüchtigen und sadistischen Zügen des Diktators stehen würde. Diese in der Kindheit ausgeprägten Charakterzüge wären später auch von den italienischen, kolonialen Faschisten, die ihn später „polizeilich“ ausbildeten, um die „dirty jobs for his imperial fascist Benito Mussolini“ zu erledigen (ebd., S. 127), benutzt und weiter ausgebaut worden.

Wir sehen in diesen wenigen Zeilen also ganz klassisch, wie ein schwer traumatisiertes Kind in die Fänge von Ideologen bzw. destruktiven politischen Gruppierungen geraten kann, die auf das Trauma aufbauen. Solche Menschen geraten dann in Gewaltspiralen und stumpfen derart ab, dass vieles möglich wird...

Wie so oft bei solchen Akteuren muss ich abschließend noch darauf hinweisen, dass auch heute noch in Somalia und Äthiopien (wie in allen afrikanischen Ländern) ein sehr hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in der Familie herrscht. Anfang des 20. Jahrhunderts wird das Leid der Kinder in der Familie sogar noch höher gewesen sein.

Wir können also allein statistisch davon ausgehen, dass dieser Diktator ergänzend zu dem oben geschilderten besonderen Trauma auch Gewalt in der Familie erlebt hat, was das Ganze zu einem explosiven "Gesamttraumapaket" ausformen würde.


Verwendete Quelle:

Njoku, R. C. (2013). The History of Somalia (The Greenwood Histories of the Modern Nations). Greenwood, Santa Barbara.

Montag, 3. Juni 2024

Die Kindheit von Walter Ulbricht. Wenige, aber tendenziöse Infos

Die Walter Ulbricht Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk zeigte wenig für mich Bedeutsames bzgl. der Kindheitserfahrungen des Diktators.
Der Biograf schreibt zunächst, dass es nur wenig Selbstzeugnisse von Ulbricht geben würde (was vielleicht auch das wenige Material über Inneneinsichten aus seiner Kindheit erklärt). Aber in einer Rede anlässlich des internationalen Frauentages im Jahr 1967 wurde Ulbricht dann doch etwas persönlicher und sagte:
Die Eltern haben dafür gesorgt, dass wir richtig lernten, auch wenn wir mal keine Lust hatten, was vorkommen soll. (…) Da gab es nichts, da durfte nicht hinausgegangen werden, bevor die Schularbeiten fertig waren. Da herrschte Ordnung, absolute Ordnung. Nachdem man sich das ein paar Jahre lang angewöhnt hatte, ging das normal weiter. (…) Es ist doch immer ein gewisser … [Kampf beim Kinde] zwischen dem Lernen und dem Fußballspiel. Das Lernen ging immer vor, mit Liebe und manchmal auch mit Zwang, aber es ging gut“ (Kowalczuk 2023, S. 45).´

Der Biograf kommentiert dazu: „Interessant, wie wichtig Ulbricht der Zusammenhang zwischen Zwang und Einsicht war“ (ebd.)

Ulbricht wurde im Jahr 1893 geboren. Dieses Datum und die (autoritären) Erziehungsnormen der damaligen Zeit sollten wir uns bei der Interpretation der oben zitierten Zeilen vor Augen führen!
Er spricht nicht nur von „Ordnung“, sondern von „absoluter“ Ordnung, die die Eltern forderten. Das Ganze hatte er sich "ein paar Jahre" angewöhnen müssen. Und er gebraucht das Wort „Zwang“, dazu noch im selben Atemzug mit dem Wort „Liebe“. Dies alles sind klassische Schlüsselbegriffe, die Menschen dieser Zeit mit Rückblick auf ihre Kindheit auffällig häufig benutzten. 

Meine Eltern straften mich, meine Eltern forderten Gehorsam, (oft auch:) meine Eltern schlugen mich, aber sie liebten mich, wie oft habe ich diese Verbindung schon gesehen, die klassisch für die Identifikation mit strengen Eltern steht?

Vielleicht finde ich irgendwann doch noch etwa mehr Details über die Kindheit von Walter Ulbricht. Für mich ergibt sich aus den zitierten Zeilen über die Erziehung in seiner Kindheit bereits eine Tendenz, die durchaus zu seinem späteren autoritären Führungsstil passen würde. 


Quelle:

Kowalczuk, I.-S. (2023). Ulbricht: Der deutsche Kommunist. C. H. Beck, München. 



Freitag, 24. Mai 2024

Kindheiten von Rechtsextremisten der Weimarer Zeit: Drei Fallbeispiele

Aktuell haben die Gerichtsverfahren bzgl. der Umsturzpläne der "Gruppe Reuß" begonnen („Reichsbürger“-Prozess). Außerdem ist das Thema Angriffe auf Politiker und Politikerinnen bzw. Wahlkampfhelfer vermehrt mediales Thema. 

Interessant finde ich dazu passend auch den Blick auf die Geschichte, den der Historiker Florian Huber kürzlich in seinem Beitrag „Der Rathenau-Mord: eine neue Tätergeneration“ (in dem Buch „Transgenerationale Gewalt: Weshalb unbehandelte Traumata in familiäre Tyrannei und sozialen Extremismus münden können“, Hrsg. Ralf Vogt, 2024) gemacht hat. 

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Weimarer Republik trat, so Huber, eine neue Tätergeneration auf die politische Bühne: junge Rechtsextremisten, die die Demokratie stürzen wollten. Die Zahl politischer Morde explodierte. „Über 100 Tote waren es in den ersten sechs Monaten nach Gründung der Weimarer Republik, und bis zum Sommer 1922 fielen im Deutschen Reich mehr als 370 Menschen politisch motivierten Mordanschlägen zum Opfer. (…) Von Anfang an gehörte eine neue Gewaltkultur zum politischen Alltag der Weimarer Republik“ (Huber 2024, S. 35). 

Wir können uns vorstellen, was es zusätzlich alles an Bedrohungen, Beschimpfungen und Körperverletzungen gegeben haben muss! Die meisten Morde gingen damals auf das Konto von Rechtsextremisten. 

Eine demokratische Ordnung entsprach offensichtlich nicht ihrem Weltbild. Und ich möchte ergänzen, dass dies sicher auch mit ihrer „inneren, emotionalen Ordnung“ zu tun hatte, die mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen und auch neuen Freiheiten (ein großes Beispiel von Vielen: Das Frauenwahlrecht ab 1918) überfordert war. 

Florian Huber bespricht exemplarisch die Biografien von drei Rechtsextremisten/Terroristen dieser Zeit: Herman Ehrhardt, Karl Tillessen und Ernst von Salomon

Eine wesentliche Gemeinsamkeit: In den Kindheiten der drei Akteure lassen sich deutliche Belastungen ausmachen. 

Herman Ehrhardt hinterließ folgenden O-Ton: „Von meinen beiden Schwestern wollte ich nicht viel wissen. Als Mädchen erschienen sie mir geringwertig. Den Respekt für das weibliche Geschlecht brachte mir erst meine Mutter bei. Sie hatte eine lose Hand und quittierte jede Dummheit oder Unnützigkeit mit einer schnellen Ohrfeige“ (Huber 2024, S. 38). Seinen Vater habe Ehrhardt wenig erwähnt, was nicht gerade für eine gute Beziehung spricht. 

Eine typische Konstellation der damaligen Zeit und aus meiner Sicht natürlich auch mit politischen Folgen (bis hin zur NS-Zeit). 

Als Schüler wurde Herman Ehrhardt einmal vor der Klasse gemaßregelt, was für Herman einer so schweren Demütigung gleichkam, dass er seinen Lehrer ohrfeigte. „Da ist sie wieder, die `schnelle Ohrfeige` als Mittel der Reaktion und Satisfaktion, also die Gewalt als bevorzugtes Instrument der Auseinandersetzung. Ein verbreiteter Zug dieser Generation (…)“ (Huber 2024, S. 38). 

Herman wurde in der Folge von der Schule geschmissen und meldete sich sogleich im Alter von 16 Jahren bei den Seekadetten der Marine. Herman selbst berichtet von der „Selbstaufopferung“, „Selbstverleugnung“, der „Wringmaschine“, durch die er dort ging, so dass am Ende nur noch der „Wille der Selbstbehauptung“ blieb.  „Er erfuhrt dort, was er niemals infrage stellte, nämlich eine Erziehung durch Gewalt und zur Gewalt“ (Huber 2024, S. 38). Die Jahre dieser harten militärischen Erziehung in jungen Jahren werden ihn nachhaltig geprägt haben. Nach der Kriegsniederlage kam noch das kollektive Trauma und die kollektiv empfundene Demütigung hinzu, was ihn ganz offensichtlich nachhaltig umtrieb. 

Karl Tillessen wuchs in einer vielköpfigen katholischen Offiziersfamilie auf und wurde entsprechend militärisch geprägt. Die Familie musste in verschiedene Garnionsstädte umziehen, in die der Vater jeweils versetzt wurde. 

Über die väterliche Erziehung berichtet Karl: „Vater schlug nie, er knuffte nur mit der Faust und sah einen danach 24 Stunden überhaupt nicht mehr an. Das war furchtbar hart. Ich erinnere mich eines Gesprächs mit einem Freund, der unglücklich über eine kurz zuvor verabfolgte Tracht Prügel war. Dem erklärte ich dann, wie viel lieber es mir wäre, wenn mein Vater mich, statt mich mit Verachtung zu strafen, kurz und bündig verdreschen würde“ (Huber 2024, S. 41). In einem Gedicht schreibt Karl von dem „fordernden Befehle“ des Vaters, von „Gehorsam, Treu, Mut und Dankbarkeit“, die der Vater ihm eingepflanzt habe (Huber 2024, S. 42). Das Ganze offensichtlich absolut identifiziert mit dem strengen Vater und ohne den Hauch einer Kritik an diesem. 

Die Mutter wird offensichtlich laut der Quelle gar nicht beschrieben. Wir sollten nicht ausschließen, dass diese auch harte Erziehungsmethoden anwandte. Zumal laut Karls weiteren Berichten die Beziehung zu seinen beiden Brüdern spannungsreich und von Rivalität und auch Gewalt geprägt war (Kinder übernehmen Konfliktlösungsstrategien von den Eltern). Mit seinem älteren Bruder habe es oft gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben. Der jüngere Bruder wurde dagegen von Karl selbst „terrorisiert“, wie er offen sagt. 

Auch die Erziehungsmethoden einer Angestellten sollten zentral in den Blick genommen werden, es ist von einem „Terrorregime einer Kinderfrau“ (Huber 2024, S. 42) die Rede. Außerdem gibt es Berichte über demütigende Strafmaßnahmen (inkl. Körperstrafen) in der Schule. 

Ernst von Salomon war der Sohn eines Kleinadligen und Polizeikommissars. Über den Erziehungsalltag im Elternhaus schreibt Huber nichts. Als Polizist im Kaiserreich wird dieser Vater sehr wahrscheinlich eine strenge Autoritätsperson gewesen sein. Die Normen und Einstellungen der Eltern zeigen sich allerdings ganz offen indirekt. Denn ab dem zehnten Lebensjahr schickten sie Ernst zur Erziehung in den Kadettenanstalten in Karlsruhe und Berlin. Vor allem in letzterer wollte man militärische Eliten heranziehen: „Für den Schüler bedeutete das, sich vollständig den Gesetzen und Werten des preußischen Kriegsideals zu beugen und demnach seine ganze Persönlichkeit formen, umbiegen und notfalls brechen zu lassen“ (Huber 2024, S. 44f.). Ernst selbst beschreibt später drastisch in einem autobiografischen Roman diese Zeit und den Alltag, „dem er hier im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren unterworfen war. (…) Sie lernten sich zu panzern gegen das Gebrüll, die Schmerzen und die Erniedrigungen, aber auch gegen jede Form von Mitgefühl“ (Huber 2024, S. 45). 

Laut Huber stellte sich bei Ernst bald das Gefühl ein, bei den eigenen Eltern kein Zuhause mehr zu haben. Die Welt der Familie Zuhause erschien ihm fremd und leer. Viel zu sagen hatte man sich bei Besuchen nicht mehr. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kindheitsbiografien ganz klassisch sind für Rechtsextremisten, auch auf unsere Zeit bezogen. Heute gibt es keine Körperstrafen mehr an Schulen und das autoritäre Kaiserreich existiert nicht mehr. Die verbindenden Linien sind allerdings die komplexen Kindheitsbelastungen dieser Akteure. Hier liegen die Wurzeln für ihren Hass, damals wie heute 


Freitag, 12. April 2024

Mehr Gewaltdelikte in Deutschland: Wann endlich reden wir in diesem Kontext deutlich über Gewalt gegen Kinder mit Migrationshintergrund?

Die Kinder- und Jugendkriminalität und Gewalt an sich steigt in Deutschland laut aktueller Kriminalstatistik. Ein überdurchschnittlicher Anstieg von Delikten zeigt sich darüber hinaus bei den Nicht-Deutschen. In den Medien werden diese Sachverhalte derzeit breit und groß diskutiert. 

Was selten in den Medienberichten kommt: Die Unterschiede beim Gewalterleben in der Kindheit; ein ganz wesentlicher Risikofaktor für eigenes Gewaltverhalten!

Dabei ist es ist schon lange bekannt und es mag vielleicht schon deswegen abgedroschen, „langweilig“ oder nicht erwähnenswert sein. Vielleicht ist es aber auch so, dass das Thema einfach gesellschaftlich immer noch abgewehrt wird, weil so viele selbst betroffen sind. 

Das KFN hat schon 1999 in dem Bericht Pfeiffer et al. „Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen“ im Grunde alles Wesentliche dazu gesagt und aufgezeigt. 

Zum einen zeigt der Bericht den klassischen kriminologischen Befund, dass die Raten aktiver jugendlicher Gewalttäter mit wachsender Häufigkeit und Intensität innerfamiliärer Gewalterfahrungen im Kindesalter systematisch ansteigen. Zusätzlich gilt dieser Effekt auch bzgl. der Beobachtung elterlicher Partnergewalt. 

Jugendliche mit Migrationshintergrund berichten häufiger von erlittener Gewalt im Elternhaus und auch dem Beobachten von Häuslicher Gewalt (Pfeiffer et al. 1999):

(Grafiken anklicken, dann wird es deutlicher!)





Ein deutlich aktuellerer KFN Bericht aus dem Jahr 2023 (Dreißigacker et al.: Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2022) zeigt weiterhin große Unterschiede im Gewalterleben in der Kindheit von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf. 8.539 Schüler und Schülerinnen wurden in Niedersachsen befragt. 

So haben schwere körperliche Gewalt in der Kindheit (im Elternhaus) 8,7% der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund erlitten. Jugendliche mit Migrationshintergrund der ersten Generation dagegen zu 26,7% und Jugendliche mit Migrationshintergrund der zweiten Generation zu 22,8%. Häufig psychische Gewalt haben 33,4% der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund erlitten. Jugendliche mit Migrationshintergrund der ersten Generation dagegen zu 42,3% und Jugendliche mit Migrationshintergrund der zweiten Generation zu 47,9% (Dreißigacker et al. 2023, S. 120). 

Die weitere Datenauswertung in dem Bericht zeigt wiederum, dass Jugendliche, die Gewalt in der Kindheit erlitten haben, auch deutlich häufiger angeben, Gewalt- und Eigentumsdelikte begangen zu haben.

Bzgl. dem konkreten Vergleich von Gewaltdelikten zeigen sich entsprechend auch Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund:
Es haben signifikant weniger einheimische Jugendliche (14.0 %) angegeben, im Verlauf ihres Lebens schon mindestens ein Gewaltdelikt begangen zu haben, als es Jugendliche mit einem Migrationshinterhrund der ersten (18.7 %) und zweiten Generation (21.1 %) getan haben. Auch bei allen einzelnen Delikten weisen einheimische Jugendliche die geringste Lebenszeitprävalenz auf, wobei sie sich beim Raub nicht von Jugendlichen mit einem MH der ersten Generation unterscheiden.“ (Dreißigacker et al. 2023, S. S. 78). 

International gibt es mittlerweile sehr viele Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder (siehe z.B. hier). Gesamtafrika und der Mittlere Osten (plus Länder wie Afghanistan) sind dabei weltweit „führend“, wenn es um Gewalt gegen Kinder geht. Aus diesen Regionen kamen und kommen sehr viele geflüchtete Menschen zu uns. Sie bringen dabei sowohl ihre eigenen Kindheitserfahrungen als auch eingeimpfte Erziehungsnormen mit. Mit dieser Tatsache muss sich die deutsche Gesellschaft endlich systematisch und nachhaltig befassen. Denn die Menschen sind ja nun mal hier und oftmals auch die Kinder der neu Angekommenen. Wir brauchen viel mehr Aufklärung über gewaltfreie Erziehung, mehr Familienhelfer und natürlich eine traumainformierte Schule und Kita (inkl. dem Wissen, dass Kinder mit Migrationshintergrund häufiger von Gewalt betroffen sind). 

Wer Gewaltkriminalität verhindern will, muss bei den Kindern anfangen. 

Außerdem sollte endlich in Medienberichten, die die Frage stellen, warum durch Nicht-Deutsche mehr Gewaltdelikte begangen werden, routinemäßig auf die Zusammenhänge in Richtung gewaltvoller Kindheitserfahrungen hingewiesen werden. Es ist absolut unterkomplex und nicht erkenntnisbringend, wenn dieser Bereich immer und immer wieder "vergessen" wird. 

Was mich außerdem ärgert: Die deutsche Gesellschaft blickt vor allem ängstlich und total selbstbezogen auf die Gewalt durch Nicht-Deutsche oder Menschen mit Migrationshintergrund. 
Erstens ist und bleibt Deutschland eines der sichersten und friedlichsten Länder der Welt. "Früher" war vieles schlechter!
Zweitens: Die Gruppe, die am meisten Angst vor der Gewalt durch Menschen mit Migrationshintergrund haben muss, sind nicht die deutschen Durchschnittsbürger, sondern es sind vor allem die Kinder aus den Migrantenfamilien. Und auch hier gilt natürlich, dass ein großer Teil dieser Kinder liebevoll und gewaltfrei aufwächst (bitte keine Pauschalurteile). Aber die Daten zeigen nun mal auch deutlich, dass diese Gruppe von Kindern deutlich gefährdeter ist, elterliche Gewalt zu erleben und/oder mitzuerleben. Darum muss sich die deutsche Gesellschaft gezielt kümmern. 


Mittwoch, 7. Februar 2024

Erstarken der AfD: 2024 ist nicht 1933! Kindheit bleibt politisch.

Armin Laschet hat kürzlich sehr ausführlich und deutlich vor dem Erstarken der AfD gewarnt:

Er sagte u.a.: „Man kann sagen: Naja, so schlimm wird das schon nicht werden. So haben die Leute 1933 auch gedacht“. Hitler habe nach seiner Wahl nur zwei Monate gebraucht, warnt er.

Auf den aktuellen Demos in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD hört man routinemäßig: „Nie wieder ist jetzt!

Ich finde dies alles gut und unterstützenswert! Die deutsche Gesellschaft ist aufgewacht und stellt sich gegen den Extremismus auf. 

Ich möchte dazu aber etwas anmerken:

Wenn man wie ich davon ausgeht, dass belastende Kindheitserfahrungen (inkl. autoritärer Erziehung in der Familie und der Schule) zentrale Ursachen dafür sind, dass sich Menschen radikalisieren und in Hass und "Schwarz-Weiß-Denken" abdriften können oder auch – die andere wichtige Seite der politischen Folgen von Kindheit – sich in Ohnmacht ergeben, erstarren, handlungsunfähig werden, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen und somit potentiell Machtmenschen das Feld überlassen, dann möchte ich folgende traumainformierte Stellungnahme zur Lage in Deutschland abgeben:

Es gibt aus psychohistorischer, traumainformierter und bzgl. Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bzw. bzgl. Daten zum Wohlergehen von Kindern in Deutschland informierter Perspektive zentrale Unterschiede zwischen der psychoemotionalen Gesellschaftslage von 1933 und 2024!

Die deutsche Gesellschaft heute ist nicht nur „bunt“ im Sinne von unzähligen verschiedenen Lebensmodellen, Hautfarben, Migrationshintergründen, sexuellen Orientierungen usw., sondern sie ist vor allem auch psychisch/emotional bunt!

Die Bandbreite zwischen den erlebten Kindheitserfahrungen der heute Erwachsenen liegt zwischen Folter/Albtraum und sehr liebevoll, frei und absolut gewaltfrei Aufgewachsenen, mit allen erdenklichen Graustufen dazwischen. 

1933 gab es da viel mehr Extreme und zwar in Richtung „Folter/Albtraum-Kindheitshintergründen“. Die Graustufen waren weniger und die sehr liebevoll und gewaltfrei Aufgewachsenen (wie z.B. die Geschwister-Scholl) waren eine sehr kleine Minderheit. Entsprechend schwebten im gesellschaftlichen Raum auch massive, kollektive, unterdrückte Rachefantasien und (Selbst-)Hassgefühle herum, der von Hitler (der selbst als Kind unfassbar traumatisiert wurde) eingefangen werden konnten. 

Hinzu kommt das seit den 1980er Jahren in Deutschland sehr stark ausgeweitete Feld an psychologischen und psychotherapeutischen Hilfen für Menschen mit Traumaerfahrungen. Auch dieses Feld ist eine (unterschätzte!) Säule für gesellschaftlichen Frieden. 

In der Psychohistorie sprach Lloyd DeMause von unterschiedlichen "Psychoklassen", je nach Traumagrad der Kindheiten. Diese haben sich massiv verschoben und sind in Deutschland heute ganz andere als 1933. 

Teile (ich betone Teile!!) der noch stark als Kind belasteten und ungeliebten Menschen (die zudem zum Autoritarismus neigen) fühlen sich durch starke Dauerveränderungen und Fortschritte in der Gesellschaft (Minderheitenrechte, technische Veränderungen, höhere Anforderungen bzgl. Flexibilität usw.) getriggert. Der feste Rahmen, der sie innerlich und psychisch stabilisierte, droht in der neuen bunten Welt zu zerbrechen. Die Wunschlösung: Zurück in das Gestern, "wo Mann und Frau noch ihre festen Plätze hatten", wo mehr Homogenität herrschte und mit vorgefertigten, Sicherheit gebenden Lebenswegen. 

Das Aufbäumen der AfD ist in meinen Augen der letzte große Atemzug des Autoritarismus und von  getriggerten Kindheitsbelastungen in der deutschen Gesellschaft (dies wird noch einige Zeit anhalten, aber auf Grund der Veränderungen der „psychischen Landschaft“ mit der Zeit abnehmen). Der Fortschritt von Kindheit ist in Deutschland schon länger im vollen Lauf und nicht mehr rückgängig zu machen. 

Die Mahnungen in Richtung 1933 sind ehrenwert, aber meine Einschätzung ist, dass Deutschland diese Zeit nie wieder wiederholen wird. Die Kindheit ist extrem politisch und das bekommt Deutschland – diesmal im positiven Sinne – zu spüren. 


Mittwoch, 24. Januar 2024

Kindheit von Pol Pot

Die Familie lebte im Vergleich zu den Leuten in ihrer Umgebung im Wohlstand (Short 2004, S.28).

Pol Pot (eigentlicher Name ist „Saloth Sâr“, ich bleibe im Textverlauf aber bei Pol Pot) hatte insgesamt fünf Geschwister, wovon drei deutlich älter waren. Drei weitere Geschwister waren gestorben, wobei in der verwendeten Quelle nicht der genaue Zeitpunkt ihres Todes genannt wird (Short 2004, S. 28). Insofern ist auch nicht klar, ob Pol Pot ihren Tod miterlebt hat oder nicht (was ein sehr schwerer Belastungsfaktor für ein Kind wäre). Bei insgesamt drei toten Kindern halte ich es zumindest für wahrscheinlich, dass er den Tod von mindestens einem Geschwisterkind miterlebt haben könnte.

Über die Säuglingszeit von Pol Pot fand ich keine Informationen. Allerdings sei an dieser Stelle auf den im ländlichen Raum der Region traditionell verbreiteten Glauben an „Geister-Mütter“ aus dem vorherigen Leben erinnert.
In Kambodscha gab und gibt es vor allem im ländlichen Raum traditionelle Vorstellungen bezogen auf das neugeborene Kind, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ein zentraler Glaube ist, dass das Neugeborene durch seine Mutter aus dem früheren Leben (Glaube an Wiedergeburt) stark beeinflusst werden kann. Sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut, muss die Verbindung zur früheren Mutter abgetrennt werden, wofür es einige Rituale gibt. Trotzdem bleibt die Angst groß, dass die frühere Mutter eifersüchtig oder wütend werden könnte, wie die neue Mutter mit dem Kind umgeht und es aufzieht. Passiert dem Kind irgendetwas, könnte dies durch die frühere Mutter beeinflusst sein und wirft ein schlechtes Licht auf die neue Mutter. Aus diesem Grund sind viele Mütter bemüht, nicht allzu herzlich und liebevoll, aber auch nicht all zu aggressiv mit dem Kind umzugehen. „(…) many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.” (Miles & Varin 2006, S. 15).
Ein Baby, das lächelt, wird demnach also nicht auf Freude stoßen, sondern auf Angst. Dass dieser Glaube den gesamten Umgang mit Säuglingen und Kindern negativ beeinflusst, liegt nahe. Die Folgen dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollten nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem „vorherigen“ Leben im Hintergrund steht? Symbolisch steht etwas Grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung glücken?

Der Biograf Philip Short schreibt mit Blick auf die Kindheit von Pol Pot: „Cambodians, at that time even more than today, lived parallel sets of lives: one in the natural world, among the laws of reason; the other, mired in superstition, peopled by monsters and ghosts, a prey to witches and the fear of sorcery. In this sense Cambodia was, and to some extent is still, a medieval country, where even the King takes no important decision without first consulting the court astrologer.” (Short 2004, S. 28).
Ich halte es entsprechend für hoch wahrscheinlich, dass auch Pol Pot als Säugling so behandelt wurde, wie zuvor oben beschrieben (auffällig ist in diesem Kontext auch, dass der Vater von Pol Pot als sehr „neutral“ in seinem Verhalten beschrieben wird und nicht mit seinen Kindern lachte – siehe unten).  

Das jüngste Kind der Familie, Neph, erinnert sich an die Eltern, beginnend mit dem Vater, wie folgt: „He never joked with us, or with anyone else. If he was angry, he didn’t show his feelings or become violent. He always remained calm. Our mother was the same, and I think that’s why they got on so well” (Short 2004, S. 31) Der Vater “was a disciplinarian, like most Cambodian fathers, but by the standards of the time the chastisement he meted out was mild.” (Short 2004, S. 31). 

Wir bekommen hier ein Bild gezeichnet, das grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen ist. Denn das Bild kommt von einem Kind (Neph) der Familie, negative Episoden mit den Eltern können ausgeblendet und/oder ein idealisierendes Bild der Eltern gezeichnet worden sein. Wir wissen heute, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, Eltern im Rückblick eher milde zu beurteilen. Das ist das Eine. 

Dennoch bekommen wir in diesen Zeilen einige aufschlussreiche Informationen. Die Eltern hätten sich relativ neutral gegenüber den Kindern verhalten. Außerdem wird trotz der Zeichnung des Vaters als nicht gewalttätig dennoch darauf verwiesen, dass er auch der Strafende war, wie bei den meisten Vätern der Region, wenn auch in milderen Formen. Wir können nicht ausschließen, dass dies auch Gewalt beinhaltete. 

Bis zum heutigen Tag sind Körperstrafen in der Familie in Kambodscha erlaubt (Global Partnership to End Violence Against Children 2023). Das Ausmaß von (schwerer) Gewalt gegen Kinder in den Familien ist extrem hoch: „One in two of Cambodia’s children have experienced severe physical discipline, and one in four has experienced emotional abuse” (Global Partnership to End Violence Against Children 2020). (Siehe ergänzende zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land auch einen älteren Blogbeitrag von mir!)

Pol Pot wurde je nach Quelle 1925 oder 1928 geboren, damals werden Körperstrafen noch weitaus mehr als legitime Erziehungs-Norm verinnerlich und zur Routine gehört haben, als heute. Körperstrafen werden dann dem Zeitgeist nach oftmals nicht als Gewalt definiert, auch nicht von den Menschen, die dies („notwendige“ Erziehung) seitens der Eltern erlebt haben.

Interessant ist auch, dass der Biograf Short in diesem Kontext den Schul-/Studienfreund von Pol Pot, Keng Vannsak, bzgl. dessen Schulzeit im Dorf zitiert. Ungehorsam wurde damals durch den Dorflehrer hart bestraft: “How he beat me! Kicks and punches . . . he was brutal! Then he took me outside, and put me under a grapefruit tree – full of red ants!” (Short 2004, S. 32).
Und er fügt an: “Yet punishments like this were so much the norm for Cambodian youngsters that Vannsak remembered that same teacher as ‘an adorable, saintly man’ who first instilled in him a love of learning” (Short 2004, S. 32). Hier sehen wir überdeutlich die starke Identifikation mit dem Aggressor. Ob Pol Pot auch vom Dorflehrer geschlagen wurde, scheint nicht belegt zu sein (sollte aber von der Wahrscheinlichkeit her mitgedacht werden). 

Diese Textstelle ist eine deutliche Mahnung auch bzgl. der oben zitierten positiven Aussagen von Neph über seine Eltern. Zudem erhalten wir hier Informationen über Strafformen gegen Kinder im ländlichen Kambodscha der damaligen Zeit. Viele Kinder werden ähnliches erlebt haben. 

Keng Vannsak hat außerdem auch Zuhause seitens des Vaters schwere Gewalt erlebt: Der Vater, “who used to tie his arms together, throw him on to a bed and beat him with a cane until he fainted” (Short 2004, S. 32). Pol Pot und seine Geschwister hätten da mehr Glück gehabt, hängt Short dem an.

Auch Chandler (1992, S. 8) betont, dass es keine Belege dafür gebe, dass Pol Pot derartige Konflikte mit seinem Vater hatte, wie es z.B. bzgl. Stalin oder Mao überliefert ist. Er erwähnt in diesem Kontext aber auch, dass Pol Pot in Unterhaltungen mit anderen Menschen nie seine Eltern erwähnte und sich ausschwieg. 

Sofern das Bild, das Neph gezeichnet hat, einigermaßen stimmen sollte, kamen allerdings spätestens im Alter von sechs oder neun Jahren schwere Belastungen auf Pol Pot zu (Short (2004) geht von dem Geburtsjahr 1925 aus, Chandler (1992, S. 7) nennt ebenfalls auch das Jahr 1925, hält aber das Geburtsjahr 1928 für plausibler, was bedeuten würde, dass Pol Pot bereits im Alter von sechs Jahren seine Familie verlassen musste, was Short auch genauso ausführt: Pol Pot habe seine Familie im Alter von sechs Jahren verlassen müssen Chandler (1992), S. 8).
Der Junge sollte dem Willen der Eltern nach in Phnom Penh zur Schule gehen und zukünftig bei Verwandten leben. Dies war kein ungewöhnlicher Schritt, es gehörte zur Tradition des Landes, dass (oft wohlhabendere) Verwandte Kinder aufnahmen und diese informell adoptierten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 11). Für die Kinder bedeutete diese eine Trennung von ihren Eltern. 

Bevor es soweit war, wurde Pol Pot aber noch für ein Jahr auf ein strenges, buddhistisches Kloster (Wat Botum Vaddei) geschickt, in dem jedes Jahr ca. einhundert Kinder neu aufgenommen wurden.
Monastic discipline was strict. As a novice, Sâr was part of a rigidly ordered community in which (…) originality and initiative were discouraged, the least deviation was punished and the greatest merit lay in unquestioning obedience to prevailing orthodoxy” (Short 2004, S. 35).

Ein Mitklosterschüler von Pol Pot berichtet über die strenge Disziplin vor Ort u.a.:
And you were given a thrashing if you didn’t do as they said. If you didn’t walk correctly, you were beaten. You had to walk quietly and slowly, without making any sound with your feet, and you weren’t allowed to swing your arms. You had to move serenely. You had to learn by heart in pali the rules of conduct and the [Buddhist] precepts so that you could recite them without hesitation; if you hesitated, you were beaten” (Short 2004, S. 35). Dieser Unterwerfung und Gewalt wird auch Pol Pot nicht entronnen sein.
Chandler (1992, S. 9) merkt bzgl. der Zeit im Kloster an: „At six or seven and recently separated from his parents, Sar must have been traumatized by the solemn discipline of the monastery, even though there would have been other little boys with shaven heads wearing yellow  robes with him. (…) Sar was also forced to be obedient.”
Jetzt wird es interessant. Denn Chandler, der wie gezeigt deutliche Worte bzgl. einer Traumatisierung im Kindesalter findet, merkt nur wenige Sätze danach an: „In examining his early years, I found no traumatic events and heard no anecdotes that foreshadow his years in power“ (Chandler 1992, S. 9). Er sei außerdem ein liebenswertes Kind gewesen.
Dass sich Biografen und Historiker bzgl. der Kindheit ihrer Untersuchungssubjekte selbst widersprechen, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Hier spielt meiner Meinung nach u.a. fehlendes Fachwissen über Traumatisierungen und Traumafolgen, aber auch fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein bzgl. der vielen verdeckten und offenen Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, mit rein.  

Nach dem Jahr im Kloster wurde Pol Pot im Haus seines älteren Bruders in Phnom Penh aufgenommen und ging vor Ort zur Schule. Mit seinen Eltern im Dorf scheint er nie wieder zusammengelebt zu haben. 

In einem kriminologischen Artikel befassen sich die Autoren de Vries & Weerdesteijn (2018) mit Pol Pots Sozialisation und Kindheit vor dem Hintergrund seiner Verbrechen. Das dauerhafte Weggeschickt werden im Kindesalter wird die Bindung zu seinen Eltern deutlich belastetet haben, schreiben sie. Zusätzlich zitieren sie aus der kriminologischen Forschung, dass eine schwache Bindung an Eltern mit abweichendem Verhalten in einem Zusammenhang steht (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 15). Eine logische und zulässige Verbindungslinie, wie ich finde. 

Pol Pot besuchte später regelmäßig seine Schwester, die im Palast des Königs lebte (Infos über weitere Beziehungen der Familie zum Königshaus siehe auch Chandler (1992), S. 8). Bei diesen Besuchen kam es, den Erinnerungen von zwei Palastfrauen zufolge, auch zu sexuellem Missbrauch durch die Frauen des Harems. „At fifteen, Sâr was still regarded as a child, young enough to be allowed into the women’s quarters. (…) The young women would gather round, teasing him, they remembered. Then they would loosen his waistband and fondle his genitals, masturbating him to a climax. He was never allowed to have intercourse with them. But in the frustrated, hothouse world of the royal pleasure house, it apparently afforded the women a vicarious satisfaction.” (Short 2004, S. 42).

Später wechselte Pol Pot auf eine Technikerschule. Während dieser Zeit waren seine Mitschüler feindlich gegenüber ihm eingestellt und er fühlte sich sehr einsam (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Pol Pot während eines Auslandsstudium in Paris mit den kommunistischen Ideen in Berührung kam, die seinen weiteren Weg prägen sollten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Fazit

Auch wenn es vielen anderen Kindern aus der Zeit und Region – den Biografen nach - noch schlimmer ergangen zu sein scheint, so bleibt es eine Tatsache, dass auch Pol Pot nicht verschont wurde: seine Kindheit war deutlich und mehrfach belastet. Seine Kindheit fügt sich ein in die lange Reihe von belasteten Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern. 

Die Recherchen bzw. dieser Text hier zeigen allerdings auch überdeutlich gerade auf die Kindheiten der Vielen. Diktatoren wie Pol Pot sind nur in einer Gesellschaft möglich – so meine These – in der ein bedeutsamer Teil der Menschen als Kind traumatisiert wurde (Stichworte aus dem Text: Glaube an „Geister-Mütter“ und entsprechender Umgang mit Säuglingen, verbreitete Weggabe von Kindern, Gewalt gegen Kinder in der Familie, Schule und in Klöstern). Dies bildet das Fundament für den kollektiven Wahn und Terror, der sich Bahn brechen kann (nicht muss). 


Quellen:

Chandler, D. P. (1992). Brother Number One: A Political Biography Of Pol Pot. Westview Press, Boulder – San Francisco – Oxford.

Global Partnership to End Violence Against Children (2020). IN CAMBODIA, FORMAL SOCIAL WORKERS NOW REACH ALL 25 PROVINCES. https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces

Global Partnership to End Violence Against Children (2023). Corporal punishment of children in Cambodia. https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf

Miles, G. & Varin, S. (2006). Stop violence against us! Summary report 2: a preliminary national research study into the prevalence and perceptions of Cambodian to violence against and by children in Cambodia. World Vision International Resources on Child Rights. https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf

Short, P. (2004). Pol Pot: The History of a Nightmare. Hodder & Stoughton, London (Kindle-E-Book Version)

Vries & Weerdesteijn (2018). The Life Course of Pol Pot: How his Early Life Influenced the Crimes he Committed. Amsterdam Law Forum 10(2), S. 3-19. 


Mittwoch, 10. Januar 2024

Kindheit von Javier Milei

Über die Kindheit des Rechtspopulisten Javier Milei (in den Medien gerne auch als "Kettensägen-Präsident" bezeichnet) lässt sich relativ schnell einiges finden. Er selbst hat sehr deutlich über seine destruktiven Erfahrungen in seiner Familie berichtet. 

Er litt unter physischer und psychischer Gewalt zu Hause und Mobbing in der Schule, sagte er mehr als einmal. Misshandlungen, die ihn dazu brachten, die Verbindung zu seinen "Erzeugern", wie er sie nannte, jahrelang abzubrechen. Die Verbindung zu seinen Eltern stellte er erst wieder während der COVID-19 Pandemie her. (SAN JUAN 8 (2023, 14. Aug.). La vida de Javier Milei: traumas infantiles, raptos místicos y la obsesión por el dólar.)

O-Ton Javier Milei (von mir, der ich nur ein wenig Spanisch kann, mit Hilfe von Google übersetzt): "Mein alter Herr hat immer auf mich geschissen. Ich werde nie vergessen, wie er mich am 2. April 1982 verprügelte, als ich 11 Jahre alt war. Wir sahen alles über die Malvinas im Fernsehen und es kam mir in den Sinn, zu sagen, dass das wahnhaft war (…). Mein alter Herr bekam einen Wutanfall und fing an, mich zu schlagen und zu treten. Er trat mich durch die ganze Küche. Als ich älter wurde, hörte er auf, mich zu schlagen, um mir psychische Gewalt zuzufügen. (…) Können Sie sich den Unterschied zwischen einem 11-jährigen Jungen und einem Riesen von 1,90 und mehr als hundert Kilo vorstellen? Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich von diesem Moment an vor nichts anderem mehr Angst hatte.“

Original in Spanisch: „Mi viejo me cagaba a trompadas. No me olvido más de una golpiza que me dio el 2 de abril de 1982, cuando tenía 11 años. Estábamos viendo en la tele todo lo de Malvinas y a mí se me ocurrió decir que eso era un delirio, que nos iban a romper el culo. A mi viejo le agarró un ataque de furia y empezó a pegarme trompadas y patadas. Me fue pateando a lo largo de toda la cocina. De grande dejó de pegarme para infligir violencia psicológica. (…) Vos te imaginás la diferencia entre un nene de 11 años y un gigante de 1,90 y más de cien kilos? Lo que te puedo decir es que desde ese momento no le tuve miedo a nada más” (Gallardo, A. (2018, 07. Juli). La insólita vida privada y familiar de Milei, el economista más polémico.)

In der Öffentlichkeit sagte er dem zuvor zitierten Artikel nach auch, dass für ihn seine Eltern gestorben seien. 

In einem anderen Artikel wird er bezogen auf seinen Vater auch wie folgt zitiert:
Er sagte mir immer, dass ich Müll sei, dass ich verhungern würde, dass ich nutzlos sein würde“ (original: „Siempre me dijo que era una basura, que me iba a morir de hambre, que iba a ser un inútil“) (Oliva A. (2023, 19. Nov.). Javier Milei, el hombre “sin miedo a nada” que convenció a los argentinos de dinamitar el sistema y buscar un cambio radical. )

Auch dieses Zitat spricht für sich:
An unauthorised biography of Milei (…) paints him as a mercurial loner who suffered a childhood of parental abuse and schoolyard bullying during the 1980s and was given the nickname El Loco (The Madman).” (Phillips, T. (2023, 20. Nov.). Who is Javier Milei? Argentina’s new far-right president ‘El Loco’ takes the stage)

Nun, die Zeit seiner Präsidentschaft wird zeigen, in wie fern er seine aggressiven, destruktiven Neigungen, die er zuvor immer wieder öffentlich zur Schau getragen hat, politisch umsetzen wird. Er gilt als strikt libertärer Politiker, was u.a. meint, dass er dem Staat sehr wenig Einflussnahme zugesteht. Oder anders ausgedrückt: "Vater"-Staat soll nicht die Gestaltungsspielräume seiner Bürger ("Kinder") beschränken und sich weitgehend raushalten...


Freitag, 5. Januar 2024

"Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" - Kriminologe Dirk Baier über mein Buch und meine Anmerkungen dazu

Dirk Baier ist einer der bekanntesten Kriminologen im deutschsprachigen Raum. Zudem ist er Extremismusexperte. Ich selbst schätze seine Arbeiten sehr und habe ihn immer wieder auch zitiert. 

Mitte 2023 hat er ein Interview (Tentakel Magazin, 01.07.2023, "Niemand ist vor Extremismus gefeit") gegeben. Darin ging er u.a. auch auf mein Buch ein. 

Camilla Landbø:Sind schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit Wegbereiter dafür, dass jemand später extrem wird? Der Psychologe Arno Gruen hat das anhand von Nazi-Biografien nachgewiesen.“

Dirk Baier:Im Buch «Die Kindheit ist politisch» folgt der Autor Sven Fuchs ebenfalls dieser These: dass die Grundlage für extremes Verhalten und Extremismus in der Kindheit gelegt wird. Er weist dies an vielen Biografien nach. Das Buch enthält auch eine Kurzbiografie von Putin, der als Kind massiv geschlagen worden ist von seinen Eltern. Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

Dieses Interview wollte ich schon lange kommentieren und habe bisher etwas gezögert, um die richtigen Worte zu finden. 

Nun, zunächst freut es mich sehr, dass er meine Arbeit wahrgenommen hat und diese im Grunde ja auch zu einem Teil recht positiv bewertet (ähnlich hatte ich mich früher schon darüber gefreut, dass der sehr bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer meine Arbeit „als wichtiges Buch“ bezeichnet hat). 

Hier soll es jetzt um seine kritischen Anmerkungen gehen: „Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

In diesen Zeilen steckt dieses klassische „Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Täter“, die häufigste Kritik die mir und ähnlich argumentierenden Menschen entgegnet wird. Oftmals wird diese Art der Kritik dann genutzt, um den Zusammenhang zwischen destruktiver Kindheit und destruktivem Verhalten des später Erwachsenen gänzlich zu leugnen, was sich i.d.R. vor allem nochmals intensiviert, wenn es um politische Führer und Extremisten geht.
Dirk Baier bleibt da allerdings dann glücklicher- und richtiger Weise doch ganz der Forschende und Experte. Auf die Nachfrage „Aber die Kindheit ist doch wichtig?“ antwortet er:
Ich gehöre zu den Forschenden, die sagen: Den Einfluss der Familie kann man gar nicht überschätzen. Familie prägt uns, in ganz vielen Sachen, die wir tun. Insbesondere negative Erziehungserfahrungen prägen uns. In der Forschung wissen wir mittlerweile, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, häufiger die Schule schwänzen, schlechtere Schulleistungen erbringen, geringere Lebenszufriedenheit, mehr Depressionen, Suizidgedanken haben sowie häufiger Gewalt anwenden. Und selbstverständlich taucht in dieser breiten Liste auch der Extremismus mit auf. Dennoch: Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv.“

Warum nur die „Vorsicht“ bzgl. Extremisten und politischen Führern bzgl. dieser Zusammenhänge? 

Ich möchte an dieser Stelle Dirk Baier selbst als Forschungsobjekt nutzen (diese Herangehensweise bedingte meine lange Bedenkzeit ob und wie ich einen solchen Text hier schreiben soll). Ich hoffe sehr, dass er, so er denn auf diesen Text hier stoßen sollte, Verständnis dafür hat. 

Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv“ fügte er wie oben zitiert an. Ich gehe stark davon aus, dass er dies auch auf sich selbst bezogen meint und damit hätte er ganz offensichtlich auch recht. 

Im Interviewverlauf sagte Baier ganz offen: „Ich wurde auch geprügelt von meinem Vater. Dann ist das Beste passiert, was mir passieren konnte: Meine Eltern trennten sich. Danach hatte ich immer gute Fußballtrainer, die mir Orientierung gaben. Gute, besorgte, interessierte Menschen um sich zu haben, das hilft.“

Auch an dieser Stelle bleibt Baier ganz der Experte und verknüpft seine persönliche Geschichte mit seinem Fachwissen. Es ist längst erforscht, dass stützende erwachsene Bezugspersonen DER zentrale Faktor sind, die ein misshandeltes Kind in eine positive Richtung steuern können und die ein Abdriften in (Selbst-)Hass und Gewalt weniger wahrscheinlich machen (hilfreich ist natürlich auch eine Trennung vom Täter bzw. ein Unterbinden der Gewalt, was offensichtlich durch die Trennung von Baiers Eltern so geschah).

Das Team des Center on the Developing Child der Harvard Universität hat innerhalb des Grundlagentextes “A Guide to Toxic Stress” über Resilienz geschrieben:
The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult." (Center on the Developing Child 2018, Step 3: Preventing and Addressing Toxic Stress, Resilience).
Alice Miller hat bzgl. der Weitergabe von erlittener Gewalt (Entwicklung vom Opfer zum Täter) formuliert, dass dies hauptsächlich geschieht, wenn dem gedemütigten, missbrauchten Kind niemand zur Seite stand, dem es sein Leid anvertrauen konnte bzw. der widerspiegelte, dass diese erfahrene Normalität nicht richtig ist. Bei Massenmördern, so Miller, fehlte grundsätzlich ein Helfender Zeuge. Ein Helfender Zeuge ist nach Miller ein Mensch (z.B. Bruder oder Schwester, ein Elternteil, Großmutter usw.), der einem misshandelten Kind beisteht, der ihm eine Stütze bietet, ein Gegengewicht zur Grausamkeit, die sein Alltag bestimmt. Dank dieses Zeugen erfährt ein Kind, dass es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt (Miller, A. 2001: „Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit“, S. 7–8).

Somit ist absolut klar, warum viele einst misshandelte Menschen in ihrem Leben einen positiven oder zumindest nicht durch Gewaltverhalten auffälligen Lebensweg hinbekommen: Sie hatten positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren in ihrem Leben. Putin (der im Interview mit Baier erwähnt wurde) hatte solche Schutzfaktoren nicht!

Dazu kommt noch der Faktor Geschlecht bzw. Gender, denn die meisten Gewalttäter (außer in Bezug zu Kindern, hier sind Frauen bzgl. Gewalt mindestens gleichauf mit den Männern/Vätern) und erst recht Extremisten sind Männer. Dies wird Dirk Baier ebenfalls bekannt und sehr bewusst sein.

Präziser formuliert sind es also vor allem als Kind gedemütigte und deutlich belastete Jungen, denen kaum positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren vor allem in Form zumindest einer guten Bindung an eine erwachsene, positive Bezugsperson fehlte, die besonders gefährdet sind, in Hass und Gewalt abzugleiten. Und auch von diesen wird wiederum nur ein gewisser Teil den Weg der Gewalt einschlagen.

Fakt bleibt aber auch, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit vielfältige negative Folgen haben können (ehrlich gesagt habe ich noch keinen einzigen Menschen getroffen, dem eine Misshandlungsgeschichte nicht in irgendeiner Form geschadet hätte). Gewaltverhalten ist nur eine von vielen Möglichkeiten. 

Kommen wir an dieser Stelle nochmal zurück zu der Misshandlungsgeschichte von Dirk Baier. Ich bin schon sehr lange der Überzeugung, dass Menschen, die diese klassische Kritik von wegen „Nicht jedes einst misshandelte Kind wird…“ so oder so ähnlich äußern, wenn sie ziemlich deutlich mit den möglichen destruktiven (vor allem auch politischen) Folgen von Kindesmisshandlung konfrontiert werden, immer auch - ob nun bewusst oder unterbewusst - sich selbst meinen: „Seht doch, ich bin ein Beispiel dafür, dass es anders kommen kann“ oder „Ich bin doch auch kein Terrorist geworden!“. 

Empirisch ist diesen Kritikern immer ein ganzes Stück weit recht zu geben, denn wenn aus allen einst misshandelten Kindern automatisch Hasser und Gewalttäter werden würden, dann hätten wir schon morgen die Hölle auf Erden. Dies habe ich so auch in meinem Buch betont. 

Was aber gleichfalls Fakt ist und bleibt sind die destruktiven Kindheitshintergründe, die nun einmal routinemäßig bei Gewalttätern, Extremisten, Massenmördern und Diktatoren ausfindig zu machen sind.
Dass bei diesen Akteuren ihre destruktive Kindheit das Fundament für ihren destruktiven Weg legte, hat überhaupt nichts damit zu tun, dass viele andere, so auch Dirk Baier, ganze andere Wege gehen. Der eine Mensch steht hier, der andere Mensch steht dort. Diese gedankliche Verbindung muss raus aus der Debatte. Wir können und dürfen destruktive Kindheitserfahrungen von Extremisten und destruktiven Politikern besprechen und ins Scheinwerferlicht holen. Dadurch sprechen wir nicht gleichzeitig aus, dass alle einst misshandelten Kinder in irgendeiner Form gefährlich sind! 

Ich plädiere dafür, dass wir damit aufhören, „vorsichtig mit solchen Thesen“ zu sein. Wir können und müssen gerade auch, weil die Kriminologie immer und immer wieder die Zusammenhänge zwischen destruktiver Erziehung und Gewaltverhalten aufgezeigt hat, diese Schablone - gepaart mit der Biografieforschung über Extremisten und Diktatoren - übertragen und nutzen. Die Antwort muss dann lauten: Die Kindheit ist politisch. 

Ich selbst spitze dies dann zu, indem ich sage: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an, werden keine Massenmörder oder Diktatoren". Eine solche Aussage zielt natürlich in eine etwas andere Richtung als die Überschrift "Niemand ist vor Extremismus gefeit" des hier besprochenen Interviews.

Eine solche Zuspitzung erwarte ich nicht von einem Wissenschaftler. Als Forschender im Wissenschaftsbetrieb muss und sollte man vorsichtig formulieren. "Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann.", sagte Baier wie oben zitiert mit Bezug zum Extremismus und auf politische Führer wie Putin. Eine vorsichtige Bemerkung. Warum nicht einfach einen Punkt dahinter lassen, im nächsten Interview?


Anhang:

Ich möchte bzgl. dem Satz "Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" noch anmerken, dass in der Nazizeit die Helfer und Judenretter mehrheitlich eine auffällig positive Kindheit hatten!
Siehe dazu: 
Die Kindheit von JudenretterInnen
Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen
Auch hier gilt, dass es auch einst misshandelte Kinder gab, die zu Judenrettern wurden. Die Tendenz war aber trotzdem deutlich. 

Sonntag, 31. Dezember 2023

Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung.

Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)

In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. 

Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“. 

In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. 

Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“

Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.

Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".

Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern

Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier

Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. 

Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. 

Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:

Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“

Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“

Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. 

Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. 

"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". 

 Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).

Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? 

Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).

Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. 

Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!


Dienstag, 21. November 2023

Kindheit von Richard III. (England, 1452-1485)

Richards Mutter hatte über elf Jahre hinweg fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht. „Das elfte Kind der Herzogin von York war klein und kränklich, vielleicht als Folge der Schwangerschaftskomplikation. Lange Zeit schien es, als sollte es, wie vier seiner Geschwister vor ihm, das Kleinkindalter nicht erreichen" (Kalckhoff 1980, S. 14).
Richards frühe Kindheit war geprägt von Gesundheitsproblemen. „Sein Gesundheitszustand war so misslich, dass ein Reimschmied, der die Geschichte der Herzogfamilie in Verse gebracht hatte, nur berichten konnte: ‚Richard liveth yet‘ (Richard lebt noch)“ (Kendall 1980, S. 24). 

Die meisten seiner Brüder und Schwestern kannte Richard kaum. Anna, dreizehn, und Elisabeth, acht Jahre alt, wurden, wie üblich, in anderen Adelshäusern erzogen. Die beiden ältesten Knaben, Eduard und Edmund, lebten weit entfernt in Ludlow Castle. Richards Spielkameraden waren der dreijährige Bruder Georg und die sechsjährige Schwester Margarete. Vater und Mutter sah er selten. (…) In diesen ersten sieben Jahren spielte seine Schwester Margarete die Rolle der Mutter. Ihr Liebling war jedoch Georg. Dem kleinen Richard blieb wohl nichts übrig, als diese ungleiche Liebe als unvermeidlich hinzunehmen, denn er fürchtete sich vor Georg. Georg war nicht nur drei Jahre älter, er war auch alles, was Richard nicht war: stark, groß für sein Alter, schön, anziehend und verwöhnt. Richard konnte niemals ganz von diesem Bild eines strahlenden älteren Bruders loskommen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ihm sofort gehorcht werde, und dessen gelegentliches Lächeln eine ihn verwirrende Belohnung war. Am Ende dieser sieben Jahre brach die jenseits des friedlichen Marschlandes liegende Welt plötzlich über das Kind herein, das England von 1459, eine Welt der nackten Gewalttätigkeit“ (Kendall 1980, S. 24f.) 

Der Biograf Andreas Kalckhoff beschreibt allerdings schon vorher das Miterleben von Gewalt:
Noch bevor Richard das siebte Lebensjahr vollendet hatte, war er Gefangener, das einzige Mal in seinem Leben. Die Soldateska der Königin massakrierten die wehrlosen Stadtbewohner und plünderten die Burg, die ohne Verteidigung dalag“ (Kalckhoff 1980, S. 43). Die Mutter und ihre Kinder fielen zunächst in die Hände ihrer Feinde, kamen aber glimpflich davon. 

Wenig später, im Jahr 1460, erfuhr der junge Richard, dass „er im Kampfgewühl eines einzigen Tages den Vater, einen Bruder und einen Oheim verloren hatte“ (Kendall 1980, S. 38).

Als Neunjähriger wurde Richard zur weiteren Erziehung fortgeschickt. „Es war Übung in England, dass Heranwachsende als Pagen in fremde Familien gingen. So kam Richard im Herbst 1461 zu den Nevilles von Warwick auf Burg Middleham, Yorkshire“ (Kalckhoff 1980, S. 64). Dort sollte er die nächsten drei Jahre seiner Erziehung verbringen, die von morgens bis abends strikt reglementiert war. „Hier begann der junge Richard den Kampf, seine heimlichen Vorsätze zu verwirklich. Das kränkliche Kind, aus dem ein hagerer, im Wachstum zurückgebliebener Bursche geworden war, trieb sich selbst dazu an, stark zu werden und die Waffen gewandt zu handhaben. Mit ingrimmiger Leidenschaft arbeitete er am Kriegshandwerk. (…). Er musste sich darauf vorbereiten, seinem herrlichen Bruder Eduard zu dienen. Vielleicht lag es an dieser harten Ausbildung, dass ein rechter Arm und die rechte Schulter etwas stärker wurden als die linke Seite" (Kendall 1980, S. 47). 

Kalckhoff (1980, S. 66-71). beschreibt recht ausführlich die Praxis des „Weggebens“ der Kinder im England des 15. Jahrhunderts, die fast alle Kinder, ob arm oder reich, traf. Diese Kinder mussten im wahrsten Sinne des Wortes dienen und hatten keinerlei Schutz durch ihre natürlichen Eltern. 

König Eduard (der ältere Bruder von Richard!) setzte in seinem „Schwarzen Buch der Hofhaltung“ fest, wie der Erzieher (der Master of Henchmen) mit den Pagen am Hofe umzugehen hatte. Darin ging es um viele Verhaltensnormen, strikte Kontrolle und Regeln. An einer Stelle steht geschrieben:„(…) und diese Kinder täglich und stündlich gehörig anzuhalten, mit Züchtigungen auf ihren Zimmern, wie es bei solchen Herren nötig ist (Kalckhoff 1980, S. 69). Der Erziehungsauftrag beinhaltete also auch eindeutig körperliche Gewalt gegen die Kinder. Gewalt durch Erziehungspersonen traf die Kinder des Mittelalters regelmäßig. Auch Richard wird diesem Schicksal mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht entkommen sein. 

In den oben besprochenen Informationen stecken sehr viele Kindheitsbelastungen, die ganz sicher nicht ohne Folgen blieben:
Schwangerschaftskomplikation, schlechte Gesundheit, Aufwachsen ohne Eltern (betreut von Personal), Trennungen von Geschwistern, ein dominanter älterer Bruder, Miterleben von kriegerischen Entwicklungen seitens des Adels, der sich damals in England gegenseitig schwer bekämpfte ("Rosenkriege"), schließlich gewaltbedingter Tod des Vaters, des älteren Bruders Edmund und eines Onkels und erneuter Umgebungswechsel inkl. harter Ausbildung und Erziehung. 

(Während meiner Recherchen über Richard stieß ich im ZDF zufällig auf die Doku "Heinrich VIII.: Der junge Prinz " (erster Teil von drei Teilen). Seine Kindheit in England verlief recht ähnlich wie die von Richard: er wuchs ohne Eltern betreut von Personal auf; sein Vater war dominant, kontrollierend und  hatte jahrelang kein Interesse am Sohn; einige Geschwister starben; die Mutter starb, als Heinrich elf Jahre alt war.)


Quellen:

Kalckhoff, A. (1980). Richard III. Sein Leben und seine Zeit. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Glasbach. 

Kendall, P. M. (1980). Richard III. Der letzte Plantagenet auf dem englischen Königsthron 1452-1485. Verlag Callwey, München.