Donnerstag, 2. Dezember 2010

Mütter und "Der Mythos vom türkischen Macho"

Ich möchte auf einen interessanten ZEIT-Artikel aufmerksam machen: "Der Mythos vom türkischen Macho"

Ein Auszug: „Wenn wir die Männer verstehen wollen, müssen wir das Verhältnis zu ihren Müttern verstehen. Wie wurden diese Männer erzogen, welche Stellung nehmen sie wirklich ein? Die Dominanz der Mütter innerhalb des türkischen Familiengefüges ist nicht zu übersehen. Der Mann wird häufig bewusst oder unbewusst herausgedrängt aus einer nahen Beziehung zu den Kindern. Oft nutzt die Frau in der Familie diese Hoheit über die Kinder aus. Der erstickenden Liebesumarmung der Mütter können sich insbesondere die Söhne kaum entziehen. Die Söhne werden häufig sehr verwöhnt und damit emotional gebunden. Sie werden zu einer Art "Ersatzmann" herangezogen und damit sowohl narzisstisch aufgewertet, als auch emotional überfordert. Den Jungen wird das Gefühl gegeben, wichtig und stark zu sein. Dieses Gefühl von Macht und Bedeutsamkeit korrespondiert allerdings in keiner Weise mit der Wirklichkeit, weder draußen, im Kindergarten oder in der Schule (…) Zudem erstickt das ewig besorgte, beschützende, verwöhnende Verhalten türkischer Mütter die Bemühungen des Sohnes, selbstständig zu werden.

Ja, der Artikel zeigt eine gewisse Einseitigkeit. U.a. wird die Rolle der türkischen Väter außen vor gelassen, die sicherlich auch großen destruktiven Einfluss nehmen und Gewalt ausüben können. (Ein Hinweis an dieser Stelle: Im Grundlagentext hatte ich bereits einige Studien erwähnt, die zeigten, dass Gewalt innerhalb türkisch stämmiger Familien im Verhältnis zu deutschen Familien häufiger (z.T. auch schwerwiegender) ausgeübt wird, u.a. wurden auch türkisch stämmige Frauen verhältnismäßig häufiger Opfer häuslicher Gewalt.).
Dennoch finde ich diesen Artikel wirklich interessant und wichtig. Letztlich zeigt ja auch der historische Rückblick auf Europa, dass in den Familien oftmals Mütter/Frauen in vielen Bereichen viel Macht hatten, insbesondere auch über die Kinder. Während die Männer vor allem außerhalb der Familie herrschten und Macht ausübten. Der deutliche Blick auf „die Mütter“ in den Familien und ihren Einfluss auf die Gesellschaft wird viel zu selten gewagt. Bzgl. der Kindesmisshandlung liegt der Anteil der weiblicher Täterinnnen z.B. bei mindestens 50 %, teils auch mehr, je nach Studie. Dazu kommt emotionaler Missbrauch, so wie in diesem ZEIT-Artikel angesprochen, der sozialisationsbedingt wohl eher von Frauen ausgeübt wird und der auch Folgen hat. Hüten sollte man/frau sich vor einer Aufrechnung des destruktiven Einflusses von Mutter und Vater. Für die psychische Heilung – darum geht es ja der ZEIT-Autorin im Grunde - ist der ungetrübte Blick auf den Einfluss beider Elternteile notwendig.

Zu diesem Artikel fällt mir ansonsten noch ein, dass ich dieses Hinsehen auf den (möglichen, destruktiven ) Einfluss von Frauen innerhalb der Familie in vielen feministischen Veröffentlichungen, aber auch in der sonstigen gesellschaftlichen Debatte sehr vermisse. Mehr noch, ich halte diesen Blick dringend für erforderlich, um gesellschaftliche „Gesundungsprozesse“ weiter in Gang zu bringen. Andererseits mag ich auch nicht die Einseitigkeit, wenn dann mal über Mütter berichtet wird, wie z.B. in diesem ZEIT-Artikel. Da werden dann pauschal „die Mütter“ verurteilt und ihnen die eigentliche Macht zugesprochen (was auch in psychoanalytischen Schriften sehr verbreitet ist, so mein Eindruck).

Eigentlich müsste es also in Bezug auf Männer heißen: „Wenn wir die Männer verstehen wollen, müssen wir das Verhältnis zu ihren Müttern UND Vätern verstehen.“

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Gibt es eigentlich Untersuchugen über einen möglichen Zusammenhang zwischen Familiengröße und Nachwirkungen der Gewalt? THESE: Je mehr Bezugspersonen ein Kind hat, desto mehr "Ausgleich" bekommt es. Das nimmt die Gewalt nicht fort aus dem Leben, aber wer sich ausweinen und auch positive Erfahrungen machen kann, lebt anders, als wer nur negative Erfahrungen macht.

Natürlich kann auch ein ganzer Clan eine geschlossene Hölle bilden. Und doch: Je mehr Menschen da sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch jemand mit Verständnis und ausgleichender Wirkung da ist.

Wie ist das Verhältnis bei Einzelkindern zu Kindern mit mehreren Geschwistern?

Sven Fuchs hat gesagt…

Mir sind solche Untersuchungen nicht bekannt. Deine These kann ich aber gut nachvollziehen. Ich glaube grundsätzlich, dass jede positive Beziehungserfahrung für ein Kind die Folgen erlittener Gewalt mildern kann.
Beiträge von der Slowenin Alenka Puhar (siehe Link in meinem Blog) machen allerdings auch deutlich, wie die traditionelle Großfamilie in der Tat die Hölle für die Familienmitglieder bedeuten kann.