„Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ von Götz Aly steht derzeit auf Platz 5 der SPIEGEL-Bestseller Liste. In der Buchbeschreibung heißt es, der Autor „gelangt in seinem neuen Buch zu verstörenden Einsichten. Er beschreibt Fortschrittsscheu, Bildungsmangel und Freiheitsangst so vieler christlicher Deutscher während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dagegen begeisterten sich die deutschen Juden für das Stadtleben, für höhere Bildung; sie wussten die Chancen der Moderne zu nutzen.“ Mehr brauche ich über das Buch wohl nicht zu lesen, denn der Autor wird diese festgestellten Sachverhalte kaum mit psychohistorischen Thesen verknüpft haben. Vor allem der Psychohistoriker Lloyd deMause hat in seinen Arbeiten dargelegt: „(…) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005: Das emotionale Leben der Nationen, S. 140)
Menschen, die als Kind schwer durch ihre Eltern traumatisiert wurden, entwickeln oftmals enorme Ängste vor „Freiheit“ und „Fortschritt“. Denn als Kinder (oftmals schon sehr früh im Kleinkinderalter) wurden ihre Schritte in Richtung Freiheit, Wachstum, Entwicklung und Unabhängigkeit schwer bestraft. Für solche Menschen stellen alle Arten von gesellschaftlichem Fortschritt eine enorme Bedrohung dar, weil schmerzhafte Erinnerungen an den eigenen Selbstverrat (das eigene sich Kleinhalten und nicht eigene Gefühle entwickeln dürfen) und das eigene Trauma mit entsprechenden Gefühlen von Angst, Panik, Schmerz usw. wach zu werden drohen. Die westeuropäischen Juden, sagt deMause, hätten im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen fortschrittlichere Erziehungspraktiken entwickelt. Insofern erklärt sich auch, dass diese Gruppe besonders fortschrittsfreundlich war, weil sie weniger Wachstumspanik entwickelte und es erklärt sich auch, warum sie als Feindbild besonders herhalten mussten. Europa um 1900, das war auch Fortschritt und gewaltige gesellschaftliche und ökonomische Umwälzungen und Entwicklungen (inkl. einem enormen Streben nach Gleicheit durch die Frauen). Um so gewaltiger war die Reaktion auf diesen Fortschritt.
Auch der norwegische Attentäter Breivik war selbsternannter Fortschrittshasser (wie so viele ähnlich gestrickte Menschen). Integration, multikulturelle Gesellschaft, Emanzipation der Frauen, fortschrittliche, gewaltlose Kindererziehung, moderne Ehe, all das hasste er und wollte es abschaffen. Bei Breivik finden sich alle möglichen Arten von "Wachstumspanik". Auch seine Reaktion darauf war enorm gewalttätig und brutal.
Dienstag, 6. September 2011
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