Sonntag, 29. April 2012

Walter Hävenick: "Schläge" als Strafe. (Ein Stück deutsche Kindheitsgeschichte)


Der Volkskundler Walter Hävernick hat in den 60er Jahren die wohl bis dahin erste relativ umfassende Studie zum Ausmaß der elterlichen Gewalt gegen Kinder in Deutschland durchgeführt:
Hävernick, Walter (1970): „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg. 
Wer im Internet sucht, wird über diese Studie nicht wirklich viele Details finden. Insofern möchte ich hiermit dieser wichtigen Arbeit ihren Raum geben und Interessierten die Ergebnisse ausführlich vorstellen. Das Besondere an der Arbeit ist, dass auch eine Befragung von 97 Familien stattfand, die das Gewalterleben  1910/1937 erfasste. Für die gesamte Studie liegen insgesamt Daten von 668 Hamburger Familien vor, die sich wie folgt aufschlüsseln:


Hävernick Erhebung A
97 Familien für die Zeit 1910/1939

Hävernick Erhebung B
78 Familien für die Zeit 1945-1962

Hävernick Erhebung C
22 Familien befragt beim St. Pauli Bürgerverein 1962

Hävernick Erhebung D
237 Familien; Befragung bei den Maschinenbauerlehrlingen (Alter 15,5 bis 20 Jahre) der Firma Heidenreich & Harbeck in Hamburg; 04. Oktober 1961

Burwick Erhebung E1
108 Familien; Befragung in der Hamburger Schule Holstenwall 14 Oktober 1960; nur Jungen

Burwick Erhebung E2
126 Familien; wie E1 aber Datum November 1962; Jungen und Mädchen


Zwei wichtige Hinweise bzgl. der Begriffe:

Der Autor spricht in seiner Studie vor allem von den Gewalterfahrungen der „Jugend“. Darunter fasst er vor allem die jungen Menschen ab dem 10. Lebensjahr bis zur damaligen Mündigkeit von 21 Jahren. Die Altersjahrgänge 6-9 wurden je nach Möglichkeiten mit einbezogen (Anmerkung: Wobei ich in dem Buch keine Angaben unter 8 Jahren gefunden habe!). Die Lebensphase vor dem 6. Lebensjahr wird in der Studie gezielt und komplett außen vor gelassen.
Definition „Schläge“ als Strafe: Hierunter versteht der Autor ausschließlich „planmäßig vollzogene Bestrafungen durch Schläge auf das Hinterteil, vollzogen sowohl mittels der flachen Hand als auch durch bestimmte Instrumente. Absolut ausgeschlossen bleiben jedoch alle Arten der einzelnen, schnellen Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder an andere Körperstellen (…)“, da dies – so der Autor – „schnelle, fast unbewusste Reaktionen“ darstellen würden, die nicht planmäßige Strafen wären. (vgl. S. 16) Hävernick meint, dass „Schläge als Strafe“ (als Erziehungsstrafe) und „Kindesmisshandlung“ (die „roh und quälerisch“ und nach damaligen StGB § 223b verboten ist) klar voneinander zu unterscheiden sind. (vgl. S. 41f) Demnach betrachtet er – dem Zeitgeist entsprechend -  die in seiner Untersuchung festgestellten Gewalterfahrungen nicht als schädlich, gesetzeswidrig oder als schwere Formen, die der Kindesmisshandlung entsprechen, was aus unserer heutigen Sicht sicher deutlich anders zu betrachten wäre.
Der Autor hat außerdem bzgl. der Befragungen A und B versucht, die „planlosen Züchtigungen“ zu ermitteln:  4 % (A) und 5 % (B). (vgl. S. 63) Diese wurden laut Definition von „Schlägen“ also nicht in die Statistik aufgenommen, insofern werde ich sie in Klammern unten ergänzen.

Ergebnisse bzgl. des Gewaltverhaltens:

Erhebung A (1910/1939):
11 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
89 % erlebten Schläge (+ 4 % „planlose Züchtigungen“ würde 93 % ergeben)
49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung B (1945-1962):
20 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
80 % erlebten Schläge (+ 5 % „planlose Züchtigungen“ würde 85 % ergeben)
35 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung C
14 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
86 % erlebten Schläge
22 % aller Züchtigungen erfolgten mit dem Rohrstock (Achtung: Nicht 22 % aller Befragten erlebten dies, die Angaben des Autors sind hier anders als unter A und B)

Erhebung D (Alter 15,5 bis 20 Jahre)
Falls sie mal „etwas ausfressen“ müssen 13 % damit rechnen, Schläge auf den Hosenboden zu bekommen, 14 % gaben keine Antwort, 73 %rechneten nicht mit Schlägen
82 % meinten, dass Schläge „unter vier Augen“ nicht entehrend wären
71 % hielten elterliche Strenge in der Erziehung für notwendig.
36 % meinten, dass – im Ausnahmefall – Schläge richtig und wirksam sind (die meiste Zustimmung kam dabei von denjenigen, die selbst zu Hause mit Schlägen rechneten oder in deren Familie ein Rohrstock breitgehalten wurde.)

Erhebung E1
80 % der 8 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
52 % der 14 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
Die 16 Jährigen Jungen schwiegen sich über aktuelle Gewalterfahrungen aus, insofern kamen nur frühere Erfahrungen zur Sprache:
98 % erlebten Schläge im Alter von 10 Jahren (Anmerkung: Diese Zahl hält Hävernick auf Grund des „mitreißenden Gruppengeistes“ nicht für glaubhaft.)
60 % erlebten Schläge im Alter von 12 Jahren
44 % erlebten Schläge im Alter von 14 Jahren
(Nach Angaben der Lehrer waren die 16Jährigen bei den Angaben zu den Gewalterfahrungen im Alter von 14 Jahren sehr zurückhaltend, insofern werden hier höhere Zahlen vermutet. )

 Erhebung E2
62 % der 8 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge 
72 % der 9 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
32 % der 14 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
(Anmerkung: Wie wir heute wissen werden Jungen i.d.R. häufiger körperlich bestraft als Mädchen, dies erklärt wohl auch die im Vergleich zu E1 etwas anderen Zahlen für E2, da hier auch Mädchen in der Klasse saßen. Außerdem werden Befragungen in Klassen mit beiden Geschlechtern aus Schamgefühlen heraus evtl. andere Ergebnisse bringen.)
Von allen Züchtigungen wurden mit dem Rohrstock vollzogen (Zahlen nur für die Jungen):
40 % bei den 8 Jahre alten Jungen
54 % bei den 9 Jahre alten Jungen
13 % bei den 11 Jahre alten Jungen
11 % bei den 14 Jahre alten Jungen

Hävernick hat zusätzlich zu den „Schlägen“ (allgemein) und dem Schlagen mit einem Rohrstock andere „Züchtigungsgegenstände“ aufgeführt;  z.B.:
Ein „Ausklopfer“ wurde in 3 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 6 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Eine Peitsche wurde in 16 % (Erhebung A), 6 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Ein Riemen wurde in 1 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt
Ein Kochlöffel wurde in 0 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 37 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt

Verteilung: Väter und Mütter als Strafende:
Erhebung A: Väter: 39 % / Mütter: 61 %
Erhebung B: Väter: 31 % / Mütter: 69 %
Erhebung C: Väter: 40 % / Mütter: 60 %
Erhebung D:  ?
Erhebung E1: Väter: 34 % / Mütter: 66 %
Erhebung E2: Väter: 39 % / Mütter: 61 %


Analyse der Karikaturen in den „Fliegenden Blätter“
Für die Zeit vor 1910 konnte Hävernick logischerweise keine Daten mehr erfragen. Insofern wertete er Karikaturen aus den sogenannten „Fliegenden Blättern“ aus.  Da diese Blätter überall in Deutschland gelesen wurden und „deshalb in vielem auf die Psyche aller deutschen Stämme Rücksicht nahmen, können die daran zu machenden Beobachtungen ungefähr für die Verhältnisse in ganz Deutschland von Wert sein.“ (S. 58) Züchtigungen in den Bildern kamen in einem Spitzenwert im Jahr 1879 vor, der Wert sank dann bis 1899 stetig ab, um danach wieder leicht auf ca. das Niveau von 1869 anzusteigen. In seinem Buch hat der Autor hinten etliche dieser Bilder aufgeführt, die einen wirklich erschauern lassen (was der Autor übrigens nicht in dieser Hinsicht kommentiert, da ihn einfach nur die "Sitte" interessiert). Dass diese gewaltvollen Bilder, in denen Erwachsene hilflose Kinder durchprügelten,  damals offensichtlich als  belustigende Satire und Unterhaltung (und wohl auch Normvorgabe) gesehen wurden, lässt meiner Meinung nach Rückschlüsse auf das damalige emotionale Leben zu.
Besonders interessant ist, dass die Karikaturen, in denen Züchtigungen von Lehrlingen vorkamen, ab 1899 komplett verschwanden. Dazu passen reale gesellschaftliche Entwicklungen, wie das am 1. Januar 1900  im Bürgerlichen Gesetzbuch ausgesprochene Verbot von Züchtigungen des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde. (vgl. wikipedia, „Körperstrafen“ ). Obwohl Lehrlinge noch bis 1951 dem Züchtigungsrecht des Lehrherren unterworfen waren, zeugen die gesetzlichen Entwicklungen von einer abnehmenden Toleranz und Praxis bzgl. der Züchtigung von Untergebenen in der Arbeitswelt, was wohl auch seinen Ausdruck im Verschwinden der Karikaturen fand.

Zustimmung der Eltern zu Körperstrafen durch Lehrer:
Hävernick hat dazu nicht selbst geforscht, er zitiert allerdings Umfragen, die er in seine Analyse miteinbezieht (und er fand diese offensichtlich so wichtig, dass die regionalen Unterschiede sogar in einem SPIEGEL Artikel, in dem die Studie vorgsetllt wurde, mit erwähnt wurden; vgl. DER SPIEGEL, 22.04.1964, „Züchtigung durch Mutter“). Eine Umfrage aus dem Jahr 1960 ergab, dass sich die Eltern in Westberlin zu 68 % für das Züchtigungsrecht des Lehrers bzw. die Prügelstrafe aussprachen, in Süddeutschland 57 %, in Westdeutschland 43 % und in Norddeutschland 41%. (vgl. S. 55) Er zitiert zusätzlich eine Umfrage aus dem Jahr 1955 in Westberlin, die – wohl auch auf Grund der Fragestellung - noch einmal höhere Zustimmungsraten ergab. Z.B. wollten 85 % der Berliner dem Lehrer die Züchtigung zwar nicht als regelmäßiges Erziehungsmittel, aber als ultima ratio zugestehen.
Wenn man von einem Zusammenhang zwischen elterlicher Züchtigung und der Zustimmung zur schulischen Züchtigung ausgeht, dann wäre Norddeutschland bzw. Hamburg auch im häuslichen Bereich damals die gewaltfreiste deutsche Region gewesen. Demnach wären die oben festgestellten – bereits erschütternden - Ergebnisse zum häuslichen Gewaltvorkommen in Hamburg die niedrigsten deutschen Werte und in anderen Regionen – vor allem in Berlin – wäre am meisten geschlagen worden! Dies ist natürlich Spekulation, allerdings wird deutlich, dass die ermittelten Werte aus den Hamburger Befragungen zumindest die realen Mindestwerte auch für den Rest Deutschlands nachweisen.

Besprechung und Kritik 

Für mich am interessantesten sind die Zahlen der Erhebung A (1910/1939), da diese Generation am Krieg beteiligt war. Diese Generation verzeichnet auch die meisten Schläge (89 %; + 4 % „planlose Züchtigungen“) und die heftigsten Formen (49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock; eine Peitsche wurde in 16 % der Fälle bezogen auf alle Züchtigungen angewandt) In dem o.g. SPIEGEL Artikel, der sich mit dieser Studie befasste, wurde zudem auf folgenden Punkt hingewiesen: „Die Qualität des beliebtesten Hilfsmittels, des Rohrstocks, hat mit der konservativen Schlag-Tradition nicht Schritt gehalten: Hävernick fand heraus, dass seit 1939 nur noch sogenanntes Halbglanzrohr verfügbar ist, dessen "durchziehende Wirkung" und Lebensdauer im Gegensatz zum früher benutzten Vollglanzrohr geringer ist.“ Entsprechend schmerzhafter waren die Schläge mit dem Rohrstock, der vor 1939 verwendet wurde. Diese Studie stützt also die Arbeit von Lloyd deMause (und er hat sie in seinen Arbeiten auch zitiert), der ein hohes Ausmaß diverser Formen von Gewalt gegen Kinder im Deutschen Reich um 1900 nachgewiesen hat, um daraufhin die späteren kriegerischen Entwicklungen und vor allem auch die NS-Zeit zu erklären.

Dementgegen lässt sich ein Trend des Gewaltrückgangs in den 60er Jahren feststellen und noch deutlicher ein Trend bzgl. der Abnahme der Strafen mit einem Rohrstock oder einer Peitsche. Historisch ist dies ein wichtiger Punkt im Verlauf der langsamen, „leisen“ Revolution, deren Ziel die komplett körperstraffreie Kindheit in Deutschland ist. Kurz nach Veröffentlichung der besprochenen Studie erfolgte Anfang der 70er Jahre der nächste bahnbrechende Schritt: Das Verbot jeglicher Züchtigungen von Schülern an Schulen.
Hävernick wird im SPIEGEL zitiert, wie er auf die Ergebnisse seiner Studie reagiert: "Wir waren platterdings plattgewalzt." Ich dachte daraufhin, dass dieser Forscher ein Herz für Kinder hatte und dass sein Buch eine Anregung dafür sein sollte, Kinder vor Gewalt zu schützen. Wer sein Buch ließt wird eines Besseren belehrt. Schon im Klapptext ist zu lesen: „Hier geht es um das, was Sitte ist – und wie im Rahmen dieser Sitte das häusliche Strafrecht „unter vier Augen“ gehandhabt wird. (…) Was die „Sitte“ den Eltern rät, kann normalerweise niemals den jungen Menschen in seiner Gefühlswelt oder in seiner Stellung zur Umwelt schädigen.“ Diesem Grundsatz bleibt der Autor im Buch treu. Er sieht keinen schädlichen Einfluss der Schläge (außer wenn sie als Kindesmisshandlung vorkommen, was er für selten hält;  Schläge inkl. mit Rohrstock sind für ihn ja auch keine Misshandlungen...) Ganz im Gegenteil: Hävernick vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang von Körperstrafen und einem gewissen Anstieg der Jugendkriminalität. (vgl. u.a. S. 58)
 
In seinem Schlusswort wird er noch mal deutlich: „Wenn man in Unkenntnis die „Munt“ (Anmerkung: Althochdeutsch für Vormund) im menschlichen Bereich als „autoritär“ beschimpft und darauf abzielt, auch hier „freiheitliche“ Gesinnung einzuführen, so würde das zu einer Verwahrlosung und Verelendung des hilflosen Nachwuchses führen. (…) Darum ist es reine Theorie, wenn man sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn es wirklich zu einem schnellen und gänzlichen Erlöschen der Sitte käme, ohne dass eine ähnliche Kraft an ihre Stelle träte. Ein solcher schrankenloser Individualismus würde für den Menschen (…) eine Katastrophe unbegrenzten Ausmaßes sein: ohne Rückhalt in einer Gemeinschaft seinesgleichen würde er im Kampf aller gegen alle sich gegenseitig ausrotten.“ (S. 159) Nun, nachdem die „Sitte“ der Gewalt gegen Kinder immer mehr zurückging und weiterhin zurückgeht, ist Deutschland immer friedlicher geworden, und wir sind weit davon entfernt, hierzulande einen Kampf aller gegen aller zu führen oder gar auf dem erneuten Weg zum totalitären Staat zu sein. Hävernicks Sicht auf die "Sitte" des Schlagens, die sicherlich viele Menschen seines Jahrgangs (er wurde 1905 geboren) geteilt haben, ist auf eine Art auch ein wichtiges zu analysierendes Detail dieser Studie. Sein fehlendes Mitgefühl für die geprügelten Kinder spricht Bände. Auch Brävernick wird wohl einst ein geschlagenes Kind gewesen sein, das seine Eltern idealisierte und dieser Idealisierung auch noch im hohen Altern treu blieb. Ein ganz klein wenig tauchte die Wut und Empörung bei ihm an einer Stelle des Buches auf, die gleichzeitig auch belegt, dass seine Mutter sicher nicht unbedingt herzlich mit ihm umgegangen war. Er behandelte zunächst die Frage, ob man vor 1910 überhaubt verlässliche Daten hätte bekommen können, da die Erinnerungen der Alten nicht mehr ganz zuverlässig und objektiv seien. In der Fußnote hängt Hävernick dann an: "Aus Unterhaltungen mit meiner Mutter, die fast 92 Jahre alt ist, weiß ich, wie weitgehend alles Unangenehme und Schwierige aus den frühen Erinnerungen weggewischt worden ist. Sie sieht die Jugendzeit ihrer Söhne nur noch als Idealbild." (S. 57)



 
 
 

Mittwoch, 25. April 2012

Geheimdienst weiß um die Kindheiten von Diktatoren


Jerrold M. Post war Chef der psychologischen Abteilung des C.I.A. und analysierte das Seelenleben der Diktatoren. (merkwürdigerweise gibt es kein Wikipedia Eintrag über Post). In einem NEON-Interview aus dem Jahr 2004 sagte er: „Männer wie Hussein, Bin Laden oder Kim Jong II schleppen ihre psychischen Störungen seit der Kindheit mit sich herum. (…) ein weit verbreitetes Problem bei Diktatoren und anderen Fieslingen: eine traumatische Kindheit. (…) Wir bekamen Unterlagen von den Geheimdiensten, werteten Biografien und Artikel aus, führten tausende Interviews mit Leuten, die den jeweiligen Führern begegnet waren. So erstellten wir Psychogramme.

Post ist mir von seiner Art und dem ersten Eindruck her nicht wirklich sympathisch, aber das nur nebenbei. Der US- Geheimdienst weiß also um die psychische Lage und die Kindheiten von Diktatoren. Zumindest steht das Wissen zur Verfügung. Das alles ist natürlich nicht wirklich geheim. Man könnte genausogut auch in den nächsten Buchladen gehen und sich Bücher von Lloyd deMause oder Alice Miller kaufen, man käme zu den selbigen Schlussfolgerungen. Der US-Geheimdienst hat sicherlich nicht ein Interesse an diesen Dingen, um daraufhin Kinderschutzprogramme zu starten oder die Welt zu verbessern, sondern um psychologisches Wissen für politische Zwecke zu miss… äh gebrauchen und sich Vorteile zu verschaffen.

Das Problem ist letztlich also nicht das fehlende Wissen um die tieferen psychischen Abgründe, sondern der mangelnde Wille, auf Grund dieses Wissens weitgehende Präventionsprogramme zu starten. Das Magazin „NEON“ als Ableger vom Stern ist ja auch ein sehr kleines Magazin und ein Interview ist eh nur ein Interview. Diese Dinge und Zusammenhänge müssten eine größere mediale Bühne bekommen und eine wochenlange Mediendiskussion (ähnlich wie z.B. nach den Skandalen um den Missbrauch in Kirchen) auslösen, um zum Einen ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zum Anderen den politischen Druck zu erzeugen, der notwendig ist, um Maßnahmen und Präventionsprogramme zu starten. Auf diese Mediendiskussion warte ich schon lange, ich bin aber sicher, dass sie irgendwann kommen wird. Und dabei wird nicht nur auf die Kindheiten von Diktatoren einzugehen sein, sondern auch auf die (vor allem auch im historischen Rückblick) traumatisierten Massen, die diese Diktatoren stützten oder sich ohnmächtig unterwarfen, mitliefen, schwiegen, aushielten.

Samstag, 21. April 2012

Von der Notwendigkeit der emotionalen Abrüstung

Im aktuellen „Amnesty Journal“ (04/05 2012) ist das Thema Waffenhandel Titelthema („Für eine kugelsichere Waffenkontrolle“). Waffenkontrollen sind in der Tat wichtig und da Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur ist, müssen vor allem auch wir Deutschen da genau hinschauen und für bessere Kontrollen oder bestenfalls ein komplettes Verbot von Waffenexporten einstehen. Wer keine Waffen hat, wird diese auch nicht einsetzen können. Insofern schützen Waffenhandelskontrollen evtl. in der Tat ein Stück weit Menschenleben. Aber: Der Mensch, der den Waffeneinsatz befiehlt und der Mensch, der in zivilen und politischen Konflikten mit ihnen tötet, muss vor allem eines sein: Emotional bewaffnet.

Der AI Bericht regte mich insofern dazu an, diesen erdachten Begriff - „emotionale Bewaffnung“ - etwas weiter zu besprechen, denn er bringt vieles auf den Punkt. Ich werde zukünftig öfter diesen Begriff benutzen und mich dann auf diesen Text beziehen. Einen Satz im Amnesty Journal auf Seite 23 möchte ich zunächst einmal zitieren:
"Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge eines unverantwortlichen und häufig unkontrollierten weltweiten Rüstungshandels."
Dieser Satz blendet komplett den handelnden Akteur und dessen emotionale Lage aus. Insofern tausche ich hier einmal das Wort „Rüstungshandel“ in meinem Sinne aus:
„Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge der weltweit extrem weit verbreiteten Misshandlung von Kindern und deren emotionaler Aufrüstung.“
Der Begriff der „emotionalen Bewaffnung“ ist insofern auch besonders gut geeignet, das Thema zu besprechen, weil eine „Bewaffnung“ nicht automatisch auch einen „Waffeneinsatz“ bedeutet. Die „emotionale Bewaffnung“ sind dabei alle Gefühle von Hass, Wut, Rache, Ohnmacht, Ekel usw. aber auch Empathie, die ein misshandeltes Kind abspalten muss, um psychisch und physisch zu überleben. (siehe dazu z.B. Arbeiten von Arno Gruen, vor allem das Buch „Der Fremde in uns“) Diese abgespaltene Ecke in der Psyche des später erwachsenen Menschen, in der all die kindlichen Ohnmachtserfahrungen versteckt wurden, ist das eigentlich potentiell gefährliche.

Ein emotional reifer Mensch, der keinerlei Gefühle als Kind abspalten musste, weil er Liebe und Fürsorge und keine elterliche Gewalt erfahren hat, ist dagegen gänzlich „emotional unbewaffnet“ (was nicht heißt, dass er nicht aggressiv werden kann, was allerdings eine andere Kategorie als Gewalt und Mord darstellt). Man kann ihm real ein Messer, ein Gewehr oder sonst eine Waffe in die Hand drücken, man kann ihm mit der „Waffe“ Ideologie kommen, er wird sie nicht nutzten, um Macht der Macht willen zu gewinnen, um andere zu quälen, gezielt zu unterdrücken oder um Menschen sonst etwas Grausames anzutun. Auch der als Kind misshandelte und somit emotional bewaffnete Mensch wird logischerweise nicht automatisch zum Gewalttäter und Mörder, wenn er eine reale Waffe in der Hand hält oder ideologisch angegangen wird. Ein solcher Mensch kann sogar sein ganzes Leben lang nicht eine einzige Straf- oder Gewalttat vollbringen oder auch menschenfreundlich handeln. Das ist nicht der Punkt. Aber, er ist unter Umständen – wenn er gereizt und emotional erregt wird, unter gesellschaftlich schwierigen Bedingungen, unter der Kuppel einer um sich greifenden Ideologie, durch Manipulation und Einflussnahme durch Autoritäten, begünstigt durch Gruppenprozesse usw. - in der Lage, diese „emotionale Bewaffnung“ zu nutzen, da er in sein abgespaltenes Alter Ego wechseln kann, in dem es keine Gefühle und kein Mitgefühl gibt, sondern nur das Funktionieren, den Terror, Hass und Freund-/Feindschemata.

Die emotionale Bewaffnung, die in der Kindheit durch meist elterliche Gewalt beginnt und sich lebenslang auswirkt, ist das eigentliche Problem der Menschheit. Je mehr Gewalt als Kind erlebt wurde und je schwerer die Formen der Gewalt waren, desto emotional aufgerüsteter ist der einzelne Mensch (und so mancher, der voller Ohnmachts- und Gewalterfahrungen ist, wird ggf. auch gezielt nach realen Waffen und „Gründen“ zur Bekämpfung anderer Menschen suchen). Darum plädiere ich in diesem Blog immer wieder für eine „emotionale Entwaffnung“, für ein weltweites, umfassendes Kinderschutzprogramm (was immer auch ein Elternförderungsprogramm sein muss), in das alle erdenklichen Ressourcen gesteckt werden. Aber auch Psychotherapie kann emotional entwaffnen (sofern der einzelne Mensch diese Angebote nutzen möchte), insofern müssen weltweit parallel zum Kinderschutz viele Mittel in die psychosozialen und therapeutischen Betreuungsangebote gesteckt werden. Die internationale Gemeinschaft müsste also einen umfassenden Plan zur emotionalen Abrüstung erstellen. Die Mittel wären alle mal besser in diesem Sinne angelegt, als in realer Waffenaufrüstung und in Militärausgaben. Wir befinden uns dabei bereits in einer sich beschleunigenden Phase der weltweiten emotionalen Abrüstung, da weltweit ein deutlicher Rückgang der Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen ist. Dieser Rückgang der Gewalt gegen Kinder muss und kann allerdings noch erheblich beschleunigt werden. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass mein kleiner Blog nur wenig erreicht, so tut es mir persönlich einfach gut, diese Zusammenhänge und Ziele auszusprechen..

Samstag, 14. April 2012

Gewalt gegen Kinder in Guatemala und El Salvador

Und ein Plädoyer für ein Kinderschutzprogramm zur emotionalen Entwaffnung.

Im aktuellen „amnesty journal“ wurde ich auf eine Statistik bzgl. der 30 gefährlichsten Länder der Welt aufmerksam. Diese Statistik ist noch etwas umfassender in der Originalquelle online zu sehen. Das gefährlichste Land der Welt ist momentan El Salvador, in dem über 60 Menschen auf 100.000 Einwohner pro Jahr durch Gewaltanwendung umkommen. (Beispiel: In Hamburg mit seinen ca. 1,8 Mio Einwohnern würde dies bedeuten, dass pro Jahr weit über 1080 Menschen ermordet würden. Laut Hamburger PKS sind 2011 real 39 Menschen getötet worden.) Insofern interessierte ich mich für die Situation der Kinder vor Ort. Nach ca. 5 Minuten Internetrecherche fand ich auch gleich eine Studie zum Gewaltaufkommen gegenüber Kindern in diesem Land und in Guatemala, das in der Rangliste auf dem 7. Platz der gefährlichsten Länder steht:
Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica. 2008;23(4):247–56.; http://www.scielosp.org/pdf/rpsp/v23n4/v23n4a04.pdf

In Guatemala (Befragung 2002) und El Salvador (Befragung 2002-2003) wurden 15 – 49 Jahre alte Frauen (Guatemala: 8.860; El Salvador: 9.430) und 15 – 59 Jahre alte Männer (Guatemala: 2.459; El Salvador: 1.255) repräsentativ und per Interview bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit befragt. Dabei ging es nur um Gewalt und Bestrafungen, die durch Elternteile ausgeübt wurden, entsprechend fallen andere Gewaltkontexte z.B. in der Schule, in Heimen oder Gewalt durch andere Verwandte raus.

Ausgewählte Ergebnisse:

Keinerlei Art von Bestrafungen erlebten in
Guatemala: 20,7 % der Frauen und 7 % der Männer
El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer

Verbal bestraft/gescholten wurden in
Guatemala: 63,4 % der Frauen und 78,3 % der Männer
El Salvador: 18,2 % der Frauen und 9,4 % der Männer

Verbrennungen erlebten in
Guatemala: 1 % der Frauen und 1 % der Männer
El Salvador: 0,8 % der Frauen und 0,2 % der Männer


Vorweg Hinweis zur körperlichen Gewalt:

Im Englischen und auch in dieser Studie wir zwischen „spanking“ und „beating“ unterschieden. „Spanking“ entspricht im Deutschen „Züchtigungen“. Also Klapsen, leichten Ohrfeigen, etc. mit einem „erzieherischen“ Ziel, um unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. „Beating“ meint schwerere Gewaltformen, die bei uns der Misshandlung entsprechen. Also Gewalt, die (neben den seelischen) auch körperliche Verletzungen des Kindes zur Folge hat bzw. wo diese möglichen Folgen in Kauf genommen werden. In El Salvador war „beating“ definiert als Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel, was eine besonders schwere Form der Gewalt darstellt. Für Guatemala war „beating“ einfach als „beating“ definiert.

Was besonders verwundert ist, dass in Guatemala „spanking“ erfragt wurde, in El Salvador aber nicht. Sehr unlogisch, wie ich finde, denn man wollte doch eigentlich diverse Gewaltformen erforschen. Die Autoren der Studie weisen explizit darauf hin, dass in El Salvador weniger der Befragten angegeben hätten, dass sie niemals bestraft wurden, wenn auch die Züchtigungen und zusätzlich der Punkt „Aus dem Haus geworfen“ mit einbezogen worden wäre. Insofern macht es Sinn, sich beim Ländervergleich auf das „beating“ (Misshandlungen) zu konzentrieren.

Misshandlungen/Schläge („beating“) erlebten in
Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer

Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in
El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer

Körperliche Züchtigungen („spanking“) erlebten in
Guatemala: 21 % der Frauen und 19,6 % der Männer
El Salvador: keine Daten vorhanden


Anmerkungen zu der Kategorie Misshandlungen („beating“):

Ein Großteil der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 15 und 24 Jahre alt. (Guatemala: 43,3 % der befragten Frauen und 40,3 % der Männer; El Salvador: 40,9 % der befragten Frauen und 36,5 % der Männer) Diese Alterskohorte hat allerdings auch am wenigsten Gewalt erlebt: Guatemala: 30,1 % der befragten Frauen und 41,95 % der Männer; El Salvador: 35,1 % der befragten Frauen und 55,9 % der Männer. Die älteren Jahrgänge (also die Personen, die derzeit in den beiden Ländern politische, ökonomische und soziale Macht besitzen!) haben tendenziell mehr Gewalt erlebt (was auch Studien aus anderen Ländern regelmäßig nachweisen.). Dies muss man in die Analyse bzgl. der dortigen Gesellschaften mit einbeziehen.

Die Studie zeigt auch, dass es einen besonders großen Rückgang der Gewalt in der jüngsten Altersgruppe der 15 bis 19jährigen gibt. Misshandlungen erlebten in dieser Gruppe in Guatemala: 31,1 % der befragten Frauen und 38,7 % der Männer; El Salvador: 32,2 % der befragten Frauen und 47,7 % der Männer. Vergleicht man diese Zahlen mit den o.g. Durschnittwerten oder schaut direkt in der Studie auf die Tabelle 3 dann wird deutlich, dass es mit dieser neuen Generation einen deutlichen Trend bzgl. der Abnahme von Gewalt gibt. Trotzdem sind die Zahlen bzgl. schwerer Gewalt im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Die jüngere Generation ist allerdings ein großer Hoffnungsträger für diese Region. Je weniger Gewalt sie erlebt, desto höher sind die Chancen, dass sich die beiden Länder weiterentwickeln und auch die politische Gewalt und die Kriminalität zukünftig rückläufig sein könnte.

In Guatemala wurde zudem eine gesonderte Befragung mit einer etwas kleineren Gruppe, die selbst Kinder unter 18 Jahren haben, durchgeführt. Von den Frauen berichteten 38,9 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 26,1 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Von den Männern berichteten 51,1 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 20,3 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Es besteht also wirklich Grund zu Hoffnung für diese Region, nicht kurzfristig, aber langfristig.


Fazit:

In Mord und politischer Gewalt sind weltweit, auch in Südamerika, stets die Männer führend. Schwere körperliche Elterngewalt erleben in Guatemala (fast jeder zweite) und El Salvador (fast 2/3) Männer signifikant häufiger als die Frauen, aber auch die Frauen erleben schwere körperliche Elterngewalt im internationalen Vergleich relativ häufig. Man kann von Gesellschaften, in denen ein so hoher Prozentsatz misshandelt wird, nicht erwarten, dass sie auch auf der politischen Bühne oder im Alltag besonders friedlich, tolerant und respektvoll agieren. Man kann aber erwarten, dass die internationale Gemeinschaft diese Zusammenhänge erkennt und in solchen Regionen (in Abstimmung mit den dortigen Regierungen und Menschen) gezielt und großflächig Kinderschutzprogramme durchführt. Dadurch würde man innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes die gefährlichsten Länder der Welt zügig emotional entwaffnen.

Freitag, 13. April 2012

Elterliche Gewalt als Gradmesser für den seelischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft

Die Journalistin Caroline Fetscher hat kürzlich für den Tagesspiegel die Gewalt-Studie der Zeitschrift „Eltern“ kommentiert (was ich im vorherigen Beitrag auch gemacht habe). Der letzte Teil ihres Textes regte mich noch mal zu einem Gedanken an. Hier zunächst die Textstelle:

Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. (…) Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft.

Die meiste Gewalt erleben kleine Kinder, was auch die o.g. Studie zeigte. Die Gewalt scheint am häufigsten vor der Einschulung ausgeübt zu werden. In kaum einer Lebenslage wird das Machtungleichgewicht so deutlich, wie zwischen einem erwachsenen Elternteil und einem 2 bis 6 Jahre alten Kind (oder auch dem Säugling). Diese Gewalt ist seit Jahrtausenden so „normal“, dass wir erst heute mit einem wirklichen Erschrecken und großer Empörung darauf schauen können. (und noch heute diskutieren die Menschen ernsthaft das Für und Wider einer körperlichen Züchtigung gegenüber Kindern z.B. in Kommentarbereichen für entsprechende Medienartikel, was so kaum bzgl. anderer Gewaltdelikte denkbar wäre oder toleriert würde.) Es gibt kaum ein feigeres, gemeineres und unreiferes Verhalten als Gewalt gegen ein Kind, vor allem auch gegen das noch sehr kleine Kind. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und nicht zu rechtfertigen! In diesem Blog habe ich viel über die Folgen der Gewalt geschrieben, vor allem auch über Gewaltverhalten auf Grund eigener Gewalterfahrungen.

In diesem Text geht es mir heute mal um etwas ganz anderes. Denn die Gewalt gegen Kinder als solche ist ja bereits hinreichend belegt, sie ist da, sie ist nachweisbar und sie ist nachweisbar besonders weit verbreitet und besonders schwerwiegend in der Ausformung in vielen Krisenregionen dieser Welt. Wer nicht an die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder glauben will oder kann….gut, der wird viele Antworten verpassen. Aber er wird nicht die Zahlen wegradieren können. Die Welt war und ist voller seelisch unreifer Erwachsener (danke an Frau Fetscher für diese Wortwahl), die ihre Kinder schlagen, niederbrüllen, vernachlässigen, missbrauchen. Diese belegte Gewalt an sich ist bereits ein gewichtiger Beleg für das Gewaltpotential einer Gesellschaft insgesamt.

Wer als Erwachsener, vor allem auch als Elternteil, ein kleines Kind misshandelt, der ist unter Umständen auch in anderen Situationen fähig, Gewalt anzuwenden und ohne Mitgefühl zu agieren, der kann Moral beiseite schieben. Wer als Erwachsener ein kleines Kind misshandelt, der hat dadurch bereits Zeugnis darüber abgelegt, welche hasserfüllte, kalte und destruktive Seite in ihm oder ihr existiert (und diese ist um so dunkler, je heftiger das Gewaltverhalten gegen das Kind ist). Diese Seite muss natürlich nicht zwangsläufig in anderen Kontexten zum Vorschein kommen, aber sie kann, das ist der Punkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dunkle Seite politisch hervortritt, steigt, wenn der gesellschaftliche Rahmen, soziale Konflikte und die gesellschaftlichen Entwicklungen diese Täterseite quasi wecken und gegen ein Ziel richten.

Insofern ist das Gewaltaufkommen gegen Kinder ein enorm wichtiger Gradmesser für die (mögliche) Destruktivität von Gesellschaften, nicht nur bzgl. der Folgen, die ich hier in diesem Blog hauptsächlich bespreche, sondern auch bzgl. der (vor allem innerfamiliären) Gewalttäter an sich, die durch Gewaltstudien als solche deutlich identifiziert werden. Wenn z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich 89 % aller Kinder geschlagen wurden, über die Hälfte sogar mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. deMause 2005 S. 146f), dann verwundert es nicht, dass diese eiskalten Schläger auch politisch zu extremen Grausamkeiten (dabei auch extrem feigen Taten, wie der Ermordung von Millionen wehrloser Juden) fähig waren.
Ein deutscher Vater, der im Jahr 1910 vielleicht 25 Jahre alt war und seine Kinder mit einer Peitsche prügelte, der war zu Beginn des ersten Weltkrieges im besten Kampfesalter und 1933 – im Alter von 48 Jahren – vielleicht in einer entsprechenden Position als Offizier, hoher Beamter, Politiker oder sonst eine höheren gesellschaftliche Position, von der aus die Gesellschaft gestaltet werden konnte. Diese Prügelgeneration stürmte in diverse Positionen oder auch in die Kasernen und ermöglichte zwei Weltkriege. Ihre Fähigkeit zur Grausamkeit hatten sie bereits in den heimischen Kinderstuben unter Beweis gestellt. (Und natürlich waren einst auch sie misshandelte Kinder, die die Gewalt später an ihren eigenen Kindern wiederaufführten) Auch heutige aktuelle Gewaltstudien erlauben also einen Blick auf die dunkle Seite einer Gesellschaft. Wo immer noch eine Mehrheit der Kinder von ihren Eltern (schwer) geschlagen werden, dort ist bereits das Destruktionspotential einer Gesellschaft bewiesen worden.

Sich mit der Gewalt gegen Kinder zu befassen, bedeutet, dass man – sofern man offen hinschaut – Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Probleme in vielerlei Hinsicht bekommt. Gewalt gegen Kinder erzeugt u.U. auch wiederum politische Gewalt, was ich in diesem Blog ausführlich bespreche. Aber auch die gewalttätigen Eltern müssen als solche in die Gesellschaftsanalyse mit einbezogen werden, da ihr Verhalten etwas über den Entwicklungsstand einer Gesellschaft aussagt.