Montag, 6. Januar 2014

Aage Borchgrevink: "A Norwegian Tragedy". Ein Lehrstück über die tieferen Ursachen von Terror.

 
"Violence is the mother of change."

(Anders Behring Breivik in seinem "Manifest")


Das Buch des Autors Aage Borchgrevink über das Massaker von Utøya und Anders Breivik ist Ende letzten Jahres auch in englisch unter dem Titel „A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya“ im Polity Verlag, Cambridge (UK) / Malden (USA) erschienen. Die erste Veröffentlichung war in norwegischer Sprache im Jahr 2012 (Ich selbst konnte bisher das Buch nur indirekt an Hand eines Medienartikels besprechen, was sich jetzt dank der englischen Übersetzung ändert.)
Seit dem ist einige Zeit vergangen und man möchte meinen, dass die deutsche Presse zumindest nach der englischen Veröffentlichung das in Norwegen mit dem "Kritikerpreis" ausgezeichnete Buch ausführlich bespricht. Aber fehl gedacht. Online hat einzig die Bild unter dem gewohnt reißerischen Titel „Der Hass kommt von der Mutter“ einigermaßen ausführlich berichtet. Außerdem gibt es noch einen kurzen Bericht unter shortnews.  Das war es.

Ich bin insofern hoch motiviert, das deutschsprachige Internet um die wesentlichen Rechercheergebnisse des Autors zu bereichern. Der Fall Breivik ist einzigartig und ein Lehrstück für die Gewaltforschung, da dieser Massenmörder im Alter von knapp vier Jahren Anfang 1983 - nachdem seine Mutter, Wenche Behring, das „State Centre for Child an Youth Psychiatry“ (SSBU) erneut um Hilfe ersucht hatte – zusammen mit seiner Mutter drei Wochen lang stationär aufgenommen und von einen Fach-Team bestehend aus ganzen acht Personen beobachtetet und analysiert wurde.

Bereits Mitte 1981 hatte Breiviks Mutter das Sozialamt um Hilfe mit ihrem ca. 2 ½ Jahre alten Sohn gebeten, da sie überfordert war und ihren kleinen Sohn als ruhelos, gewalttätig und voller Eigenarten empfand. Anders wurde daraufhin für einige Zeit an den Wochenenden fremduntergebracht, bis die Mutter dies wieder auflöste. Mit ihrer Tochter dagegen war Wenche eng verbunden, attackierte aber ihren Sohn. (S. 28+29) Bereits während der Schwangerschaft wollte die Mutter Anders abtreiben, da sich bereits Probleme in ihrer Partnerschaft abzeichneten, sie verpasste aber den Stichtag. (S. 262) Während der Schwangerschaft empfand sie den Fötus bereits als schwieriges Kind, das rastlos war und sie trat. (Anmerkung: Sichwort "Fötales Drama" nach Lloyd deMause) Nach 10 Monaten Stillzeit stoppte sie diese, weil sie meinte, das starke und aggressive Saugen würde sie zerstören. (S. 262)

Der SSBU Bericht zeigte weiterhin folgendes:
Der vier Jahre alte Enders Breivik wusste in einem Spielzimmer nichts mit Spielsachen anzufangen, im Spiel mit anderen Kindern fehlte ihm Vorstellungskraft und Empathie und er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. (S. 29) 
Seine Mutter pflegte eine doppelte Kommunikation mit ihrem Sohn, stieß ihn von sich weg und zog ihn hinterher wieder eng an sich heran. Dies ging soweit, dass sie ihrem Sohn sagte, sie wünschte, er wäre tot und einem Mitarbeiter der Sozialbehörde ebenfalls sagte, dass sie ihren kleinen Sohn loswerden wolle, was auch immer sie damit meinte. Die Mutter dachte in schwarz und weiß, sah alles als Fehler Anderer, konnte nicht über sich selbst reflektieren, konnte ihrem Sohn keine deutlichen Grenzen setzen, ließ diesen oft alleine zu Hause, konnte nicht mit ihm umgehen, fühlte sich durch ihn provoziert  usw. (S. 28+31+32+259+263) Aage Borchgrevink kommentiert all dies mit dem Begriff „Emotionale Misshandlung“ (S. 31) und stellt dem Gutachten folgend die Vermutung in den Raum, dass Wenche Behring an einer Borderline Persönlichkeitsstörung leidet. (S. 33) Sie selbst war als Kind schwer belastet. Ihr Vater verstarb früh, sie selbst erlebte emotionale und körperliche Misshandlung und eine sehr gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. (S. 264) Außerdem musste sie einige Jahre in einem Kinderheim verbringen. (S. 265)
Borchgrevink fasst noch mal die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung zusammen: „Together, Anders and his mother wandered arround like aliens on Earth, visitors from another planet who could not understand what they should feel or what they should do in the playroom. They were united in a deeply ambivalent relationship, occasionally escaping restlessly to seek confirmation from the outside world, but always finding their way back to each other.” (S. 34)
Diese ambivalente oder auch symbiotische Beziehung beinhaltete auch, dass Anders durch seine Mutter sexualisiert wurde bzw. sie – dem Bericht des SSBU folgend – ihre "paranoiden aggressiven und sexualisierten Ängste vor Männern auf ihren Sohn projizierte." (S. 259+260; eigene Übersetzung) Sexueller Missbrauch konnte nicht nachgewiesen werden, steht aber im Raum. Borchgrevink zitiert dabei auch einen Medienbericht, der sich auf zwei unterschiedliche Quellen bezieht, die beide sexuellen Missbrauch nahelegen. (S. 256)
Wenche Behring berichtete den Mitarbeitern des SSBU auch, dass sie ihren Sohn schlug und er dann rief: „Es tut nicht weh, es tut nicht weh.“  (S. 262) Das Ausmaß der körperlichen Gewalt ist nicht belegt. Ich selbst vermute aber, dass das Kind sich schon früh emotional abschalten musste, um in dieser allgemeinen Atmosphäre der Gewalt und Vernachlässigung zu überleben. Ein solches Kind kann dann in der Tat keinen Schmerz mehr empfinden.

Das Team des SSBU war nach der Begutachtung der Familie extrem beunruhigt, machte sich Sorgen um mögliche ernsthafte psychische Folgen für Anders und forderte, dass der Junge von seiner Mutter getrennt werden müsse, etwas, das zur damaligen Zeit in Norwegen nur in extrem schwierigen Fällen gefordert wurde. (S. 26+27+32)
Nachdem Anders - von der Familie getrennt lebender - Vater sorgenvolle Warnmeldungen durch Nachbarn und auch den Bericht des SSBU erhalten hatte, wollte er gerichtlich das Sorgerecht erstreiten. Dies scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein. Anders Mutter mobilisierte all ihre Kraft, um gegen ihren Ex-Mann zu kämpfen (S. 34), den sie schon vorher als Monster beschrieben hatte, weil er sie für verrückt hielt. (S. 27) Um es kurz zu fassen. Die Mutter gewann vor Gericht, behielt das Sorgerecht, eine staatliche Kinderschutzstelle besuchte die Familie noch einige male und fand nichts Ungewöhnliches vor, was Grund zur Sorge gab. Borchgrevink fragt sich zu Recht, ob die Mutter damals gezielt eine Fassade aufbaute. (S. 36)
Nach den Taten ihres Sohnes wurde sie befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war. (S. 140) . Borchgrevink befasst sich am Ende des Buches u.a. mit den aktuellen Kinderschutzauffassungen in Norwegen und meint, dass Anders Breivik nach einem Gutachten wie des der SSBU Anfang der 80er Jahre heute von seiner destruktiven Mutter getrennt worden wäre. (S. 270) Doch damals waren die Zeiten und Einstellungen zu Kindern und Familie noch anders.

Anders Breivik selbst sagte nach seiner Inhaftierung, dass er sich nicht an seine frühe Kindheit und auch nicht an die Zeit der Begutachtung durch den SSBU erinnern könne. (S. 266) ("I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way.”, schrieb der norwegische Attentäter auch in einem mit sich selbst geführten Interview innerhalb seines kranken „Manifestes“ auf Seite ca. 1387. Was letztlich nur eine klassische Folge von Kindesmisshandlung ist, da diese schmerzlichen Erinnerungen abgespalten werden.) Soweit ich mich an Medienberichte erinnere, hat Breivik auch vor Gericht nichts über seine traumatische Kindheit gesagt und seine Mutter zog – nach erster Einwilligung – die Entbindung von der Schweigepflicht der SSBU zurück, so dass die oben genannten Details vor Gericht nicht ausgeführt werden konnten.

Soweit ich es medial verfolgen konnte, hat auch Breiviks Schwester weitgehend geschwiegen und nichts über Details aus der Kinderzeit erzählt. Es drängt sich die Frage auf, was gewesen wäre, wenn es in diesem Fall nicht diese besonderen Ereignisse und Begutachtungen Anfang der 80er Jahre gegeben hätte? Die Antwort ist einfach: Wir hätten das Bild eines relativ normal aufgewachsenen  Jungen, der in einer ganz normalen Trennungsfamilie aufwuchs, wie so viele. All die Gewalt, Vernachlässigung und pathologischen Familienstrukturen wären niemals öffentlich geworden. Und die Öffentlichkeit hätte genauso wie unzählige Fachleute, die nach der Tat zu Wort kamen, mit offenen Mund und einem breiten „Wie konnte das geschehen?“ dagestanden. Aber halt, erinnern wir uns wieder daran, dass in den deutschen Medien das besprochene Buch und Breiviks Kindheit weitgehend ausgeblendet wurden (Im Gegensatz zum englischsprachigen und norwegischen Raum). Dies ist für mich absolut unverständlich und ich hoffe, dass noch manche Medien nachträglich berichten.

Interessant ist abschließend noch, dass (die Anfang 2013 verstorbene) Wenche Behring zusammen mit einer Journalistin Ende 2013 eine Biografie mit dem norwegischen Titel „Moren“ („Die Mutter“) über sich als Mutter herausgebracht hat. Kurz vor ihrem Tod soll sie noch entschieden haben, das Buch doch nicht zu veröffentlichen. (was nicht verwundert, wenn man dem oben besprochenen Buch folgt. Sie traf andauernd wechselende Entscheidungen, was typisch für Borderliner ist.) „Viel Neues erfährt der Leser nicht. Wie Breivik zum Terroristen wurde, bleibt auch nach der Lektüre unklar.“ beschrieb die WELT das Buch.
Breiviks Mutter kommentierte das Buch auf dem Sterbebett u.a. wie folgt: „Ich hatte mir ein Buch gewünscht, dass schlicht und einfach die Geschichte von mir und meinem Leben erzählen sollte, so dass niemand herumgehen und erzählen könnte, was für grausame Menschen wir gewesen seien", schreibt die WELT. Es ging ihr offensichtlich um Entlastung, nicht um Wahrheit, wenn man diese Zeilen liest.
Sind es nicht genau diese Mütter und Väter von Mördern und Gewalttätern, die u.a. dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit im Dunkeln darüber gehalten wird, welche Abgründe sich in der Kindererziehung auftun, die einst praktiziert wurden? Der Fall Breivik ist in vieler Hinsicht ein Lehrstück. Vor allem sollte er eine Mahnung für Medien und Fachleute sein, Eltern von Mördern nicht alles einfach unhinterfragt zu glauben, wenn sie öffentlich erklären, wie gut es ihre Kinder bei ihnen doch hatten.

Das Buch des Autors Aage Borchgrevink ist für mich auch von einer besonderer Bedeutung, weil er am Ende selbst sagt, dass er nach der Recherche einen veränderten Blick auf die Ursachen von Terror bekommen hat. (S. 267) Und er wird noch mal besonders konkret, wie sich solche Terrorakte präventiv verhindern lassen:
In my opinion, however, the most important lesson from this tragedy is not about integration policy, the Internet, ideology or the police`s operating methods and resources (…). It is about child and family welfare policy. (…) The banality of evil in the case Breivik is the significance of childhood trauma in the hatred of a grown man. Countering hatred, radicalization und terrorism is also a matter of preventing children from being abused by their parents – a banal insight, perhaps, possibly so banal that it has been overlooked.” (S. 269)”


Siehe ergänzend: 

Attentäter Breivik: Natural born Killer?

Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview

Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit

Gedankliche Anmerkung: Manchmal ist es schon merkwürdig im Leben.  Die vorsitzende Richterin -Wenche Elisabeth Arntzen -, die über Anders Breivik urteilte, hat den selben Vornamen wie dessen Mutter.

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Interessant ist doch, dass sowohl Anders Breivik als auch Adam Lanza (bei dem ich ähnliche Hintergründe vermute, ohne allerdings dafür Beweise zu haben) vornehmlich Kinder und Jugendliche getötet haben.

Ute

Sven Fuchs hat gesagt…


Bei Adam Lanza ist doch schon der Beginn seines Amoklaufes ein Hinweis: Er tötete zuerst seine eigene Mutter.

Anonym hat gesagt…

Als Anders Breivik mordete, hörte er die Musik von Clint Mansell, die dieser zum Film "Requiem for a Dream" schrieb. Auf Wikipedia heisst es zu diesem Film: "In düsteren Farben und mit teils innovativen Techniken wird in dem visuell starken Film der soziale Niedergang vierer Drogensüchtiger erzählt. Die Musik von Clint Mansell unterstreicht die düstere Stimmung."

Die Musik verrät, wie es im Inneren von Anders B. aussah und wozu es ihn gedrängt haben muss: zur Vernichtung, so wie er vernichtet wurde!

Sven Fuchs hat gesagt…

Breiviks Vater hat ein Buch veröffentlicht und seine Sicht auf die Dinge dargestellt: http://www.welt.de/vermischtes/article132386003/Breiviks-Vater-bricht-sein-Schweigen.html
Die besprechung in den medien scheint das Bild zu stützen, das oben gezeichnet wurde.

"Der 79-jährige Ex-Diplomat berichtet vor allem aus einem dysfunktionalen Familienleben, das seinen Sohn prägte. Und er reflektiert über seine Fehler, seinen Beitrag für das schrecklich verkorkste Leben seines Sohnes."

Sven Fuchs hat gesagt…

Bereits Ende Juli 2016 wurde im Stern ein Artikel veröffentlicht, der in ungewöhnlicher Breite auf Breiviks Kindheit einging: http://www.stern.de/politik/ausland/anders-behring-breivik-anschlag-norwegen-jahrestag-6972868.html

Immerhin...!


Ein eindrückliches Interview mit Aage Borchgrevink wurde dagegen - obwohl seit 2013 online - weder kommentiert noch mehr als 1055 mal aufgerufen: https://www.youtube.com/watch?v=8Fwn7Z__ag0