Bereits 2012 habe ich einen Beitrag (Elterliche Gewalt als Gradmesser für den seelischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft) geschrieben, den ich heute wieder aufgreife und gedanklich etwas ergänze.
Mir scheint es so zu sein, dass Kriege letztlich nur eine Art kurzfristige Transformation von Gewalt sind, ein öffentlich und in Gruppen Ausleben dessen, was eh schon da ist. Wenn kein Krieg herrscht, bedeutet dies nicht, dass im Privaten Frieden ist.
Für mich gibt es zwei große Anhaltspunkte dafür, in wie weit innerhalb von Gesellschaften große Gewalt- und Destruktionspotentiale vorhanden sind (oder auch nicht), die sich bei Gelegenheit und unter Umständen in Kriege transformieren können: Vergewaltigungsraten und Gewaltraten gegen Kinder. Zu Letzteren habe ich in dem eingangs verlinkten Beitrag bereits ausführlich etwas in diesem Zusammenhang geschrieben.
Kürzlich habe ich eine große UN Studie über Vergewaltiger in Asien besprochen. Zwischen einem von fünf (ca. 20 %) und einem von acht Männern(ca. 12,5 %) hat in den befragten asiatischen Ländern jemals eine Vergewaltigung begangen. Innerhalb dieser Studie wurde zudem auch auf Daten aus Südafrika hingewiesen, wo 37 % der Männer bereits eine Frau vergewaltigt haben.
In diversen afrikanischen Staaten erleben nach aktuellen Studien (hier und hier) bereits ca. 30 % der unter 18 Jahr alten Mädchen, dass sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden. Gedanklich hinzu kommen noch die (sexuellen) Gewalterfahrungen ab dem Alter von 18. In dieser Region finden sich weitergedacht natürlich entsprechend auch sehr hohe Täterraten.
Zahlen über Vergewaltiger in Europa sind mir nicht bekannt. Die bislang größte Studie zum Gewalterleben von Frauen (über 42.000 Befragte) in Europa ergab, dass in Europa 1 von 20 Frauen (5 %) mindestens eine Vergewaltigung erlebt haben. (European Union Agency for Fundamental Rights (2014): Violence against women: an EU-wide survey. Wien. S. 3) Da Vergewaltigungen oft durch Mehrfachtäter ausgeübt werden, stehen diesen 5 % der Frauen wohl eher nicht 5 % der Männer gegenüber. Die Rate von Vergewaltigern in Europa liegt demnach unter 5 %.
In den USA sieht es wiederum schon etwas anders aus, als in Europa. 18,3 % der US-Frauen (über 9.000 Befragte) wurden bezogen auf lebenslange Erfahrungen nach aktuellen Daten vergewaltigt. (National Center for Injury Prevention & Control of the Centers for Disease Control and Prevention (2011): National Intimate Partner and Sexual Violence Survey. 2010 Summary Report. Atlanta, S. 18) Entsprechend ist auch der Anteil von Vergewaltigern an der männlichen Bevölkerung höher, als in Europa.
Alleine auf Grund dieser Zahlen lassen sich Gesellschaften in sehr destruktive, destruktive und weniger destruktive einteilen. Europa ist ohne Zweifel der friedlichste Kontinent und der am meisten sozial, kulturell und ökonomisch entwickelte. In Europa finden sich auch die niedrigsten Raten von Vergewaltigern/Vergewaltigungen und Kindesmisshandlung. D.h. auch im Kleinen und Privaten ist Europa weniger destruktiv, als der Rest der Welt. Das Weniger an Destruktivität im Privaten/Kleinen findet seinen Wiederhall im Großen, in Politik und sozialen Prozessen. Eine kurzfristige Transformation in einen großen Krieg wird schwer möglich, weil das tiefergehende Destruktionspotential nicht dafür ausreicht. Noch reicht das Destruktionspotential allerdings auch in Europa für „kleinere“ militärische Aktionen und Konflikte oder verdeckte Beteiligungen durch Waffenlieferungen usw.
Wenn ich mir jetzt noch einmal die Zahlen und Daten vor Augen führe, die die kürzlich veröffentlichte, bisher größte Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder erfasst hat, wird mir klar, dass in vielen Teilen der Welt die Mehrheit der erwachsenen Menschen "Täter im Verborgenen" sind (an Kindern) und in sofern auch zu anderen destruktiven Aktionen (u.a. auf der politischen Bühne) grundsätzlich fähig sind. Die Länder mit den höchsten Gewaltraten gegen Kinder müssen besonders beäugt werden. Naja, im Grunde sind diese Länder bereits DIE Sorgenkinder der Welt: Zu ihnen zählen u.a. Syrien, Irak, Afghanistan, beide Kongos, Ägypten und Palästina. In diesen Ländern scheint Krieg und gewaltvolle politische Prozesse fast mehr zu sein als eine reine Transformation der Gewalt. Gewaltlose Konfliktlösungen und politische Prozesse auf Augenhöhe können gar nicht wirklich gedacht werden, weil bereits das Private überall von Gewalt durchzogen ist. (Und auch Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen durch Soldaten oder Folter und Mord an Kindern sind dann letztlich nur eine Fortführung der "Taten im Verborgenen" auf der öffentlichen Bühne.) Solchen Ländern kann man keine Demokratie geben, indem man ihnen einen aufgezwungenen demokratischen Überbau überstülpt. Die gewaltvollen Beziehungen des Alltags müssen bearbeitet werden. Und dies vor allem gegenüber Kindern. Ohne weit verbreitete Alltagsdestruktivität im Privaten/Verborgenen fehlt auch der politischen Destruktivität der Nährboden.
Um es noch einmal anders auszudrücken: Kriege sind also keine Zufälle, durch einzelne Ereignisse (Sturz eines Diktators, Attentat auf einen Thronfolger) herbeigeführte oder durch Armut und Gier erzeugte Taten. Sie sind einfach eine andere Ausdrucksweise von Destruktivität und Hass; von Destruktivität und Hass, die eh schon da sind. Diese Ausdrucksweise wird allerdings sicherlich durch Zufälle, einzelne Ereignisse und soziale Umstände mit geformt, das ist nicht der Punkt.
Dieses „Huch, die Deutschen waren mit für zwei Weltkriege verantwortlich, obwohl sie das Volk der Dichter und Denker sind.“ lasse ich längst nicht mehr gelten. Dieses „Huch“ gilt genauso für viele andere Nationen. Es gibt bei großen Kriegen kein „Huch“. Es gibt mehr ein „Natürlich sind diese Nationen zu allen erdenklichen Grausamkeiten und extremer Destruktivität fähig, haben Sie sich denn nicht mal den Alltag, die Gewalt im Verborgenen dort angeschaut? Wie unzählige Kinder von ihren Eltern misshandelt werden? Wie Frauen vergewaltigt werden? Wie sehr im Alltag Machtmissbrauch stattfindet? Usw. Natürlich können solche Nationen Kriege führen, jederzeit, wenn sie es denn wollen, wenn sie gereizt werden und/oder wenn die Umstände es ermöglichen.“
Donnerstag, 11. September 2014
Krieg als kurzfristige Transformation der Gewalt, die eh schon da ist?
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
3 Kommentare:
Guten Tag Sven Fuchs,
Ihr Blog ist großartig.
Was mir auffällt ist, dass bei Gewaltverbrechen nur Männer in Studien erfasst werden, da körperliche Gewalt eben eindeutiger zuzuordnen ist als seelische. Was aber ist mit all den emotionalen Vestümmelungen, die Kindern angetan werden? Und vielleicht sogar von Frauen. Wie sind Gewaltverbrechen definiert? Basieren sie nur auf körperlicher Gewalt? Und was genau macht die Deformationen der Seele und des Geistes aus, die ja aus der körperlichen, aber eben auch aus der subtil emotionalen Gewalt resultieren.
Kennen Sie eine Studie, die emotional begangene Verbrechen von Frauen bespricht? Frauen können vielleicht weniger körperlich vergewaltigen, aber seelisch können sie das sehr wohl.
Nicht eine der Studien, die männliche Vergewaltigungen oder Morde oder Kriege listet, sondern wie oft Frauen ihre Mädchen Männern zuführen, weil sie sich selbst nicht zur sexuellen Verfügung stellen wollen?
Das würde mich interessieren.
Vielleicht würde das alles noch einmal in einem etwas anderen Licht darstellen.
Herzliche Grüße
Gedankenstreuner
Hallo Gedenkenstreuner(in),
also zunächst empfehle ich folgendes Buch: "Heyne, C. (1993): Täterinnen: offene und verdeckte Aggressionen von Frauen. Kreuz Verlag, Zürich" Heyne hat sich mit allen erdenklichen Täterinnenverhalten auseinandergesetzt.
In meinem Blog habe ich etwas zu "Müttern als Täterinnen" geschrieben: http://www.kriegsursachen.blogspot.de/2012/06/kindesmisshandlung-mutter-als_11.html Es zeigt sich, dass Frauen sehr wohl und sehr verbreitet körperliche Gewalt anwenden, wenn sie die Machtmöglichkeiten dazu haben (gegenüber Kindern)
Die große von mir hier gerade besprochene UNICEF Studie hat auch die verschiedenen Täterpersonen für Gewaltverhalten gegen über 15 jahre alte Jungen und Mädchen aufgestellt. Mädchen waren signifikant häufiger Opfer von Gewalt durch Mütter als durch Väter.
Ansonsten gibt es auch viele interessante Infos über "emotionale Gewalt" durch Frauen. Als Einstieg z.B. hier: http://www.narzissmus.org/
Ich selbst halte Frauen grundsätzlich für alle möglichen Täterverhalten fähig, sofern sie die Machtmöglichkeiten bekommen.
Vielen Dank.
Keine weiteren Fragen.
Ich bewundere die Fülle an Informationen, die Sie zum Thema sammeln. Hut ab!
Kommentar veröffentlichen