Endlich habe ich die Zeit gefunden, eine der größten Befragungen in Deutschland zu Opfererfahrungen etwas auszuwerten: Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN
2011 wurden in Deutschland repräsentativ 11.428 Menschen im Alter von 16 bis 40 Jahren (Geburtsjahrgänge ca. 1971 – 1995) befragt. (wobei türkisch und russisch stämmige Menschen repräsentativ mit enthalten sind) Für mich sind natürlich die Ergebnisse bzgl. der Gewalterfahrungen in der Kindheit am Bedeutsamsten.
Ergebnisse bzgl. körperlicher Elterngewalt:
16 bis 40 Jahre alt (Durschnitt der gesamten Stichprobe)
51,4 % keinerlei körperliche Gewalt
35,7 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
13 % schwere Gewalt
Männer erlebten insgesamt etwas mehr körperliche Gewalt als Frauen. 54,2 % der Frauen sind in der Kindheit gewaltfrei aufgewachsen, dagegen 48,6 % der Männer.
Schaut man sich die einzelnen Altersgruppen an, fällt der Rückgang der Gewalt besonders auf!
16- bis 20-Jährige (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 61,7 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
21- bis 30-Jährige (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 53,6 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
31- bis 40-Jährige(Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 44,9 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
16 bis 20-Jährige: 29,8 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
21- bis 30-Jährige: 34,8 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
31- bis 40-Jährige: 39 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
16 bis 20-Jährige: 8,5 %, mindestens einmal schwere Gewalt erlebt
21- bis 30-Jährige: 11,7 % mindestens einmal schwere Gewalt erlebt
31- bis 40-Jährige: 16,2 % mindestens einmal schwere Gewalt erlebt
(S. 82+83)
In der Studie nicht enthalten waren Schweregrade und Häufigkeiten des Gewalterlebens. Diese sind allerdings abgefragt worden und mir auf Anfrage per Email vom KFN mitgeteilt worden. Siehe entsprechende Daten hier: "Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?" Die Daten zeigen, dass die meiste körperliche Gewalt "selten" gefolgt von "manchmal" erlebt wurde. "Häufige" oder "sehr häufige" Gewalterfahrungen wurden deutlich seltener angegeben.
Ergänzende Auswertung innerhalb der Studie bzgl. eigenem Gewaltverhalten gegen Kinder
1.586 Befragte lebten mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt und beantworteten Fragen zu eigenem Gewaltverhalten gegen das eigene Kind. Sie waren im Schnitt bei der Befragung ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978)
21,4 % berichten, dass sie mindestens einmal leichte Gewalt (z.B. „mit einem Gegenstand nach dem Kind geworfen“, „das Kind hart angepackt oder es gestoßen“ oder „dem Kind eine runtergehauen“ ) gegen das eigene Kind angewendet hatten. 1,3 % hatten schwere Gewalt (angefangen bei „das Kind mit der Faust geschlagen, getreten oder gebissen“ bis hin zu „das Kind geprügelt, zusammengeschlagen“) gegen das eigene Kind angewendet. (S. 157)
Diese Zahlen bedeuten auch, dass ca. 78 % der jungen Eltern ihre Kinder bis zum Zeitpunkt der Befragung niemals körperlich angegangen sind. Dies würde auch dem allgemeinen oben festgestellten starken Trend des Gewaltrückgangs entsprechen. Leider wurde in der Studie nicht angegeben, wie alt die Kinder der Befragten im Schnitt sind. Aufgrund des Altersschnitts der befragten Eltern ist davon auszugehen, dass die Kinder aus den Geburtsjahrgängen ab dem Jahr 2000 stammen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, in der bald fast keine Kinder mehr körperliche Elterngewalt erleben werden!
In der Studie wurde ebenfalls ein starker Rückgang des sexuellen Missbrauchs (mit Körperkontakt) von Kindern festgestellt. (darüber hatte schon einmal berichtet) :
16- bis 20-Jährige Frauen (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 3 %
21- bis 30-Jährige Frauen (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 7,2 %
31- bis 40-JährigeFrauen (Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 9,5 %
16- bis 20-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 0,9 %
21- bis 30-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 1,4 %
31- bis 40-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 1,8%
(S. 104)
Auch in diesem Gewaltfeld steuert die deutsche Gesellschaft also letztlich auf einen Wert in Richtung 0 % zu!
Das Erstaunliche ist, dass diese Studie in manchen Medien zwar kurz besprochen wurde, keiner traut sich allerdings in Jubelstürme auszubrechen. Dabei sind diese Zahlen eine echte Sensation! Sie sind bahnbrechend, vor allem wenn man um die Geschichte der Kindheit weiß. Ich werde die o.g. Zahlen zur körperlichen Gewalt in Kürze auch in meinen Text „Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis Heute“ aufnehmen.
Dienstag, 14. April 2015
Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft
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4 Kommentare:
Und wie sieht es im selben Zeitraum mit Suchterkrankungen, Essstörungen, Depressionen, Burnout usw. aus? Mit Mobbing, Bullying usw.? das wären doch die reellen Indikatoren, die zeigen würden, wie es um das Gewaltlevel in einer Gesellschaft bestellt ist. Arbeitsverhältnisse, die existentielle Angst machen, nehmen zu - und die sind doch ein erschreckendes und genaues Abbild von in der Kindheit erfahrener Gewalt. Ja, kann sein, dass die unmittelbare körperliche Gewalt weniger geworden ist, dass es hinter entsprechende Standards kein Zurück mehr gibt. Aber "eine runterhauen" als leichte Gewalt zu bezeichnen, macht mich doch relativ sprachlos! Das ist Verharmlosung! Insgesamt: ich habe meine Zweifel gegenüber dieser Untersuchung.
Hallo Susanne,
- irgendwo müssen die Wissenschaftler eine grenze ziehen. "Eine runtergehauen" wird in anderen Studien als "Ohrfeige" gekennzeichnet. Dagegen wird als "schwere Gewalt" häufig so etwas wie "mit der Faust schlagen", zusammenschlagen oder mehrfache Schläge hintereinander, verbrühen/Verbrennungen zufügen, mit Waffe bedrohen usw. gekennzeichnet, was Sinn macht.
- Es kann nicht nur sein, dass die körperliche gewalt gegen Kinder zurückgeht, sie geht seit Jahrzehnten eindeutig zurück. Ausgangsniveau waren historisch 100 % geschlagene Kinder.
- Drogen und Alkoholkonsum bei Jugendlichen ist - entgegen öffentlicher wahrnehmung - rückläufig (siehe z.B. http://www.drogenbeauftragte.de/presse/pressemitteilungen/2011-01/alkoholkonsum-jugendlicher-ruecklaeufig.html)
- Suizide sind ebenfalls rückläufig und liegen derzeit auf dem historisch niedrigsten Niveau. (http://www.suizidprophylaxe.de/Suizid%20up-date%202012.pdf)
- Ebenso ist die Jugendgewalt rückläufig, dabei vor allem schwere Gewalttaten. (http://www.sueddeutsche.de/wissen/jugendgewalt-brutal-aber-nicht-mehr-als-frueher-1.1100429-2)
Das sind ermutigende Daten, danke für die Information. Ja, ich denke auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten einiges geändert hat. Und trotzdem: Wenn du mich als junge Erwachsene gefragt hättest, ob ich als Kind geschlagen worden bin, hätte ich bis in meine mittleren Zwanziger "nein" gesagt, was definitiv nicht wahr gewesen wäre. So denke ich, dass auch diese Daten nicht 1:1 zu nehmen sind. Und dann müssen wir das gute Ergebnis, dass weniger geschlagen wird, und dass Kinderschlagen in der Gesellschaft mittlerweile viel weniger akzeptiert wird, zum Anlass nehmen, nach anderen Formen der Gewalt zu fragen. Nach seelischer Gewalt, emotionaler Vernachlässigung, Verspotten, Überforderung usw. Sorry, aber "auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft" klingt mir immer noch zu optimistisch!
Hallo Susanne,
für mich bedeutet "auf dem Weg" eben nicht, dass jetzt alles gut ist. Ich sehe aber erstens die positiven Entwicklungen (übrigens auch was elterliche Zuwendung und Rückgang bei psychischer Gewalt angeht, aber dazu schreibe ich erst später einen Beitrag) und zweitens den internationalen Vergleich.
Zudem gabe ich jetzt auch Zahlen bzgl. der Häufigkeit von körperlicher Gewalt für die o.g. Studie erhalten, die ich noch einarbeiten muss. Aber schon jetzt kann ich dir sagen, dass häufige oder gar sehr häufige körperliche Gewalt gegen kinder sehr selten in Deutschland ist.
Was Du berichtest (bzgl. den Erinnerungen) ist ein wichtiger Hinweis, der mir auch bewusst ist. Jede Gewaltstudie muss letztlich darauf hinweisen, dass kindliche Gewalterfahrungen im Rückblick oft verschwommen gesehen werden, das gilt um so mehr, je destruktiver die Kindheit war. Studien geben nie die ganze Wahrheit wieder, aber eben eine deutliche Richtung vor, gerade auch, wenn sehr viele Menschen befragt werden.
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